Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Lebenslange Haft für Mord an Walter Lübcke
"Dieses Urteil ist der Tat überhaupt nicht angemessen"

Der Mann, der den CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 vor seinem Haus erschossen hat, ist zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Warum sie das Urteil für unzureichend hält, erklärt Caro Keller vom Netzwerk NSU-Watch im Dlf.

Caro Keller im Gespräch mit Sandra Schulz | 28.01.2021
Schwarz-weiß-Foto von Walter Lübcke bei seiner Beerdigung
Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde am 1. Juni 2019 vor seinem Haus ermordet (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Swen Pfoertner)
Die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt stellten in ihrem Urteil am Donnerstag (28.01.2021) eine besondere Schwere der Schuld fest. Darum behielten sie sich vor, im Anschluss an die Gefängnisstrafe eine Sicherungsverwahrung für den Haupttäter zu verhängen. Von einem zweiten Vorwurf wurde der Hauptangeklagte allerdings freigesprochen: Er musste sich auch wegen versuchten Mordes an einem irakischen Flüchtling im Jahr 2016 verantworten. Der zweite Angeklagte im Fall Walter Lübcke erhielt eine Bewährungsstrafe. Das Oberlandesgericht verurteilte ihn wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu eineinhalb Jahren Haft, die für die Dauer von drei Jahren auf Bewährung ausgesetzt wird. Die beiden Verurteilten waren jahrelang in der rechtsextremen Szene aktiv.

Keller: nicht auf die rechtsextremen Verbindungen eingegagnen

Caro Keller vom Netzwerk NSU-Watch, das rechtsextreme Strukturen in Deutschland untersucht und über sie informiert, zeigte sich im Deutschlandfunk empört über das Urteil. Sie kritisierte vor allem, dass das Gericht nicht auf die rechtsextremen Verbindungen der beiden Männer eingegangen sei und es so verpasst habe, den gesellschaftlichen Kontext der Tat und die Gefahr von rechtem Terror in Deutschland aufzuzeigen. Wörtlich sagte sie im Dlf: "Der Blick dieses Gerichts hat die Tat sehr, sehr klein gemacht".
Der Mord an Lübcke und die Rolle des Verfassungsschutzes Stephan E. muss sich wegen der Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor Gericht verantworten. Dabei geht es auch um die Frage, warum Hessens Verfassungsschutz es zuließ, dass der mutmaßlicher Helfer jahrelang sechs Schusswaffen besitzen konnte.
Sandra Schulz: Sie waren bei der Urteilsverkündigung ja auch dabei. Lebenslang für Stephan E. und eine Bewährungsstrafe für Markus H.. Wie schauen Sie auf das Urteil?
Caro Keller: Dieses Urteil ist der Tat überhaupt nicht angemessen, dem Tatkomplex, dem Mordfall Lübcke überhaupt nicht angemessen. Zu diesem Urteil hätte gehört, dass der Mordversuch an Ahmed I. mitverurteilt wird. Dieser Mordversuch wurde hier auch verhandelt; dafür ist Stephan Ernst freigesprochen worden. Dieses Urteil ist ein Skandal und auch, dass Markus H. zur Beteiligung am Mord an Walter Lübcke hier freigesprochen wurde, nur wegen eines Waffendeliktes jetzt auf Bewährung verurteilt wurde, ein Jahr und sechs Monate, ist ebenfalls ein Skandal. Der Blick dieses Gerichts hat die Tat sehr, sehr klein gemacht. Dabei hätte der Tatkomplex viel größer betrachtet werden müssen, um diese Tat angemessen aufzuarbeiten und sie auch angemessen zu verurteilen.

"Dieses Milieu ist nicht aufgedeckt worden"

Schulz: Sie sagen, klein gemacht, aber wir sehen jetzt lebenslang. Das ist ja laut Strafgesetzbuch die Höchststrafe. Es gibt die Äußerungen des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Er spricht von einem klaren Zeichen gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Sie vermissen diese Klarheit. Warum?
Keller: Weil Stephan Ernst hier als Einzeltäter dargestellt wird, der er nicht ist. Stephan Ernst stammt aus einem rechten Milieu in Kassel, das jederzeit bereit ist, rechtsterroristische Taten zu unterstützen, wie auch beispielsweise den Mord des NSU an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel. Dieses Milieu ist nicht aufgedeckt worden und bleibt gefährlich. Solange Stephan Ernst als Einzeltäter dargestellt wird, wird sich über die Struktur keine Gedanken gemacht, und damit, wie schon gesagt, bleibt die Struktur gefährlich. Bei der Aufklärung von rechtem Terror muss es darum gehen, weitere Taten zu verhindern, anstatt ermutigende Signale in die Neonazi-Szene zu schicken, was heute wieder passiert ist.

Der Blick auf den Einzeltäter

Schulz: Aber ist ein lebenslanges Urteil ein ermutigendes Signal?
Keller: Sicherlich nicht für weitere einzelne Täter, aber für diejenigen, die eventuell von diesem Mord gewusst haben, für diejenigen, die Stephan Ernst unterstützt haben, die ihm nie widersprochen haben, wenn er sich rassistisch geäußert hat, wenn er über Walter Lübcke auf der Arbeit und im Schützenverein gesprochen hat, die dort nicht widersprochen haben. Für die ist es doch kein abschreckendes Signal, anders zu handeln.
Es muss auch ein Signal an die weitere Neonazi-Szene und auch an die Gesellschaft geben, solche Taten nicht durch Einverständnis und durch Rückendeckung zu unterstützen, und genau das hat das Gericht hier nicht gemacht. Wir haben noch nicht die gesamte Urteilsbegründung gehört, aber das gehört zu dieser Tat auch dazu, dass Stephan Ernst in einer Normalität gelebt hat, wo rassistische, rechte Äußerungen normal sind und wo es ihm auch normal erscheint und richtig erscheint, Walter Lübcke zu ermorden. Das gehört zu dieser Tat dazu und der Blick auf den Einzeltäter, der lässt dieses ganze Milieu, diesen ganzen Hintergrund raus, und das ist das Signal, was von hieraus ausgeht, dass das nicht interessiert, und das ist verheerend.

"Die Tat in einen Hintergrund einordnen"

Schulz: Wobei wenn es nicht interessieren würde, dann würde es jetzt nicht öffentlich gemacht werden. Dann würden wir jetzt auch nicht darüber sprechen. Die große Frage nach der Aufarbeitung, welche Aufarbeitung wo laufen kann, wenn wir heute über den Prozess sprechen, über die juristische Aufarbeitung, über die Frage, welche persönliche Schuld trifft Stephan Ernst, ist dann diese Höchststrafe nicht das Mosaiksteinchen, das so ein Strafprozess dann maximal liefern kann?
Keller: Das glauben wir nicht und außerdem fehlt uns zur Verurteilung die Verurteilung des Mordversuchs an Ahmed I.. Die Beweisaufnahme hat unseres Erachtens gezeigt, dass Stephan Ernst auch für diese Tat verantwortlich ist. Das fehlt hier heute.
Natürlich muss ein Gericht Straftäter bestrafen und das beurteilen, was in der Anklage steht. Aber wir kennen ja auch Urteilsbegründungen aus anderen Gerichten und andere Urteile, die die gesamte Tat in den Blick nehmen, die die Tat in einen Hintergrund einordnen, die zeigen, was hat das für eine Bedeutung für eine Gesellschaft und welche Zusammenhänge bestehen vielleicht mit Ermittlungen und so weiter und so fort. Das ist auch eine Verantwortung. Das gehört zur Beschreibung der Tat dazu und nicht nur der einzelne Tatakt.
Natürlich ist diese Verurteilung jetzt nachvollziehbar, lebenslang für Stephan Ernst, aber um zu sagen, was ist der Tatkomplex, der Mord an Walter Lübcke und der Angriff auf Ahmed I., das reicht als Beschreibung nicht aus.

"Die Aufklärung muss weitergehen"

Schulz: Der Punkt ist bei mir angekommen. – Wenn wir den Punkt machen unter den Tag heute und dieses Urteil von heute, dann wissen wir ja, dass die politische Arbeit oder Aufarbeitung nicht nur weitergeht, sondern die geht jetzt erst richtig los, nämlich im Untersuchungsausschuss, der jetzt im hessischen Landtag auch seine Arbeit aufnimmt, nachdem da lange noch wichtige Unterlagen gefehlt haben. Die Aufarbeitung, die Sie fordern, die Fragen, die Sie formulieren, denken Sie, die werden dort geklärt werden können?
Keller: Die können dort geklärt werden und die müssen dort geklärt werden. Das was wir aus der Kontinuität rechten Terrors lernen, die Sie ja auch schon in Ihrer Anmoderation angesprochen haben, die es ja seit 1945 in Deutschland gibt – wir lernen, wenn Taten nicht richtig aufgeklärt werden, wird es zu weiteren Taten kommen, weil sich weitere Täter dadurch ermutigt fühlen, dass Taten nicht richtig aufgeklärt werden und nicht alle Täter und Täterinnen zur Verantwortung gezogen werden. Da spielen natürlich auch Parlamentarische Untersuchungsausschüsse eine Rolle, diese Taten entsprechend aufzuklären und richtig einzuordnen, und das muss dann ab dem Frühjahr 2021 beim hessischen Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke entsprechend auch passieren und kann auch passieren. Das stimmt, der heutige Tag ist kein Schlussstrich unter diese Aufklärung. Die muss weitergehen und wird dort sicherlich auch weitergehen.

Keller: Kein Vorgehen gegen das rechte Milieu in Kassel

Schulz: Jetzt hat sich der Fokus sicherlich auch bei vielen Sicherheitsbehörden gedreht, geändert. Innenminister Seehofer spricht vom Rechtsextremismus auch als die größte und schwerste Bedrohung, die es aktuell gibt. Sehen Sie die Sicherheitsbehörden denn inzwischen besser aufgestellt?
Keller: Nach den Worten, die sie nach außen äußern, ja. Da gibt es eine Veränderung. Aber nach dem Mord an Walter Lübcke haben wir nicht ein entsprechendes Vorgehen gegen das Kasseler Milieu, das rechte Milieu, aus dem Stephan Ernst stammt, gesehen. Viele von seinen Wegbegleitern – da gab es keine Hausdurchsuchungen, keine Befragungen, und da fragen wir uns schon, ist dort mit Nachdruck ermittelt worden. Die Anklage zeigt uns hier eigentlich im Prozess: Nein, es ist nicht mit Nachdruck ermittelt worden, und der Prozess hat das dann auch nicht verfolgt. Deswegen müssten da eigentlich noch mehr Dinge geschehen und mehr Ermittlungen geschehen und die Behörden müssen auch anders vorgehen, um die Neonazi-Netzwerke zu enttarnen und sie auch zu entwaffnen. Leider wissen wir, dass es weiterhin Neonazi-Netzwerke gibt und immer wieder bei Hausdurchsuchungen auch sehr viele Waffen gefunden werden. Das heißt, dass die Neonazi-Szene bewaffnet ist und sehr gefährlich ist, und deswegen muss auch dort mit Nachdruck ermittelt werden und das sehen wir im Moment immer noch nicht gegeben.

"Vom NSU 2.0 wissen wir nur, dass er existiert"

Schulz: Jetzt gab es natürlich eine ganze Menge Meldungen, die für viel Aufmerksamkeit gesorgt haben. Ich denke jetzt auch an den NSU 2.0, ein Netzwerk, das Morddrohungen verschickt, unter anderem ja auch an die Frankfurter Anwältin Basay-Yildiz. Das sind Meldungen, die sicherlich konkret immer viele aufrütteln, die sicherlich viele erschrecken, aber die, wenn wir die Substanz der Tat als solche ausblenden, schon auch dokumentieren, dass sich da mehr tut. Sonst würde ja auch nicht mehr rauskommen.
Keller: Ja! Aber beim NSU 2.0 wissen wir beispielsweise nur, dass er existiert. Wir wissen aber nicht, wer konkret dahinter steht. Diese Gruppe gibt es weiterhin, die ist nicht aufgedeckt, und zumindest Teile der Gruppe sind ja bei der Polizei zu vermuten, also Strukturen, die leicht an Adressen kommen, wie in diesem Fall auch geschehen, und auch schon bewaffnet sind und schon ausgebildet an der Waffe sind. Das ist wirklich hoch gefährlich und wir wissen, dass es diese Gruppe gibt. Aber diese Gruppe ist noch nicht ungefährlich gemacht und da kommen wieder die Behörden ins Spiel, die an dieser Stelle nicht mit Nachdruck ermitteln und diese Strukturen nicht aufklären.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu