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Lebensleere des Stuttgarter Mittelstands

In Anna Katharina Hahns neuem Stuttgart-Roman "Am Schwarzen Berg", der für den Leipziger Buchpreis nominiert war, stehen der Lehrer Emil und die Bibliothekarin Veronika im Mittelpunkt. Mit allen Anzeichen übertriebener Affenliebe hat das kinderlose Paar den Sohn der Nachbarn in sein Leben aufgenommen.

Von Ursula März | 02.05.2012
    Anna Katharina Hahn ist eine scharfe, mitunter sarkastische Beobachterin des deutschen Mittelstands. Ihr bevorzugtes Untersuchungsgebiet ist die schwäbische Metropole Stuttgart - für gediegenen Wohlstand so bekannt wie seit kurzem berühmt für Bürgerwut und Bürgerprotest. Hahn selbst ist Stuttgarterin mit unüberhörbarem Dialekteinschlag, in Stuttgart spielte auch ihr 2009 erschienener Roman "Kürzere Tage", mit dem die bis dahin nur bei eingeweihten Literaturliebhabern bekannte Schriftstellerin große Erfolge bei Publikum und Kritik feierte. Der Roman erzählt von den Krisen zweier junger Familien, ihrer kulturellen und psychischen Instabilität, ihrer Orientierungslosigkeit in großen wie in den kleinsten Dingen des Lebens. Die von ihrer Elternschaft überrumpelten und überforderten Mittdreißiger entwerfen sich und ihr Leben wie Produkte aus dem Katalog soziologischer Modelle. Ihre Familiengründung macht sichtbar, woran sie leiden: Am tief greifenden Mangel selbstverständlicher Tradition.

    Instabil und beschädigt sind auch die Verhältnisse in Hahns neuem Stuttgart-Roman "Am Schwarzen Berg", allerdings rückt er Figuren in den Vordergrund, die der nächst älteren Generation angehören; Emil und Veronika, Hajo und Carla sind um die sechzig, sie könnten die Eltern der Protagonisten aus "Kürzere Tage" sein". Ihre Beschädigung liegt nicht in ihrer ungewissen Elternschaft, sondern in ihrer Kinderlosigkeit. Der Lehrer Emil und die Bibliothekarin Veronika hatten nie ein eigenes Kind. Mit allen Anzeichen übertriebener Affenliebe haben sie von seiner Kindheit an Peter, den Sohn des Nachbarpaares Hajo und Carla in ihr Leben und ihr Herz aufgenommen. In fließend komponierten Rückblenden erzählt der Roman von dieser seltsamen vierköpfigen Elternschaft, der Peter zu seinem Glück und seinem Schaden ausgesetzt war, die ihn mit einem Übermaß an Liebe und pädagogischer Aufmerksamkeit versorgte, aber den Ökofanatiker auch auf Dauer spürbar infantilisierte.

    Die real-historische Kulisse des Romans ist der Sommer 2010: Im Stadtzentrum eskalieren die Tumulte der neuen Protestbewegung gegen den Neubau des Stuttgarter Bahnhofs, Peter hat, um einen Baum des Stadtparks zu retten, ein Baumhaus in den Wipfeln errichtet, er ist - bzw. war - ein Initiator des Widerstands. Denn der Leser lernt ihn zu Beginn des Romans als Wrack kennen, als verwahrloste, nahezu verhungerte und verdurstete Elendsfigur im Zustand der Regression. Emil steht an einem Morgen auf seinem Balkon, schaut zum Nachbarhaus hinüber und beobachtet starr vor Schrecken, wie die Carla, die Mutter von Peter, den ungewaschenen Patienten, über dessen Rücken sich schwärende Pusteln ziehen, aus dem Auto auslädt und ins Haus befördert. Wochenlang hockte Peter wie im Stupor in seiner Wohnung, nachdem seine Frau ihn mit den beiden kleinen Kindern verlassen hatte. Eine Kleinfamilie, die den jungen Kleinfamilien in Anna Katharina Hahns Vorgängerroman "Kürzere Tage" aufs Haar ähnelt. Hier, in ihrem neuen Roman "Am schwarzen Berg" erzählt sie vom endgültigen Scheitern des Versuchs. Peter wird in sein Kinderzimmer zurück verfrachtet, von den leiblichen Eltern wie ein krankes Baby gepflegt, von den Zieheltern aus dem Nachbarhaus mit obsessiver Anteilnahme bedacht.

    Anna Katharina Hahns unbestreitbare Meisterschaft liegt in der Diagnose der soziokulturellen Leiden, der Sinn- und Lebensleere ihrer Stuttgarter Wohlstandsmenschen; in der Beschreibung des großen wie des kleinen, alltäglichen Elends. Wie nebenbei porträtiert sie den kaschierten Alkoholismus von Emil und Veronika, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ein Lehrer und eine Bibliothekarin um die sechzig sich vom ersten Augenaufschlag am Morgen bis zum Schlafengehen mit Schlückchen aus dem Flachmann in lebensfähiger Balance halten. Hahns wichtigste Erzählmethode ist der nahezu mikroskopische Nahblick auf die Körper, die Handlungen, Bewegungen, auf Attribute und Alltag ihrer Figuren. Der Gefahr, durch diese, im besten Fall ethnografische, im schlechteren Fall bürokratische Ausführlichkeit der Beschreibung eine Art hyperrealistisches, additives Wimmelbild zu erzeugen, entgeht Anna Katharina Hahn in ihrem neuen Roman nicht ganz. Zumal in der zweiten Hälfte erweist er sich als ermüdend und zum Ende hin auch nicht ganz plausibel konstruiert. Denn in den letzten Kapiteln wechselt die Erzählperspektive abrupt und unvermutet zu Mia, der Frau, die Peter verlassen hat und, wie der Leser nun erfährt, mit einem neuen Mann liiert ist. Erzählerisch ist dieser dramaturgisch fast amateurhafte Umschwung nicht gedeckt. Peters desolater Zustand macht die Vorgeschichte seiner desolaten Ehe mit Mia ausreichend sichtbar.

    Indem die Autorin am Ende ihrem Erzählstoff auf Biegen und Brechen die letzten Geheimnisse entreißt, entwendet sie ihm rückwirkend das Gespenstische, das verzweifelt Bodenlose ihres Zentralthemas: Die Scheinelternschaft als Symptom eines Scheinlebens.

    Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg.
    Suhrkamp Verlag 2012. 238 Seiten. 19,95 Euro