Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Lebensmittel
"Wir brauchen die Variable des Mindesthaltbarkeitsdatums"

Der Lebensmittelrechtler Alfred Hagen Meyer ist gegen eine von Ernährungsminister Christian Schmidt (CSU) angestoßene Abschaffung des Mindesthaltbarkeitsdatums. Die bisherige Regelung habe sich seit drei Jahrzehnten bestens bewährt, sagte er im Deutschlandfunk. Stattdessen müssten Verbraucher besser aufgeklärt werden.

Alfred Hagen Meyer im Gespräch mit Thielko Grieß | 29.03.2016
    Angabe zum Mindesthaltbarkeitsdatum auf einer Verpackung
    Alfred Hagen Meyer: "Ein Verfallsdatum hat etwas sehr Schmerzliches." (Imago)
    Alfred Hagen Meyer ist Honorarprofessor für Lebensmittelrecht an der TU München und vertritt als Rechtsanwalt Mandanten aus der Branche. Er sagte im Deutschlandfunk, die von Ernährungsminister Schmidt angestoßene Debatte klinge wie ein Sommerloch-Thema. Zudem sei der CSU-Politiker gar nicht zuständig, das sei die Europäische Union. Brüssel habe aber erst gerade die entsprechende Verordnung neu geregelt.
    Meyer sagte, das Mindesthaltbarkeitsdatum sei "eine sehr gute Regelung." Das zeige deutlich, dass ein Lebensmittel bis zu dem Datum haltbar sei und vielleicht auch länger. "Wir brauchen die Variable des Mindesthaltbarkeitsdatums."
    Der Jurist betonte, der Branche gehe es nicht darum, dass Verbraucher Lebensmittel vor dem Verfall entsorgten und so mehr Produkte kauften. "Ressourcenverschwendung ist ein No-Go auch für die Industrie." Stattdessen müssten die Verbraucher aufgeklärt werden. Nötig sei eine Ernährungskunde. Schließlich fielen 61 Prozent der Lebensmittelabfälle in Privathaushalten an.
    Wir haben die folgende Anmoderation nach Rückmeldung eines Hörers korrigiert. Dabei ging es um den Hinweis, wofür das MHD steht - und die falsche Angabe, dass Lebensmittel nach dessen Ablauf nicht mehr verkauft werden dürfen.

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Geht es nach Christian Schmidt, dem Bundeslandwirtschaftsminister von der CSU, dann hat das Mindesthaltbarkeitsdatum inzwischen sein eigenes Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht. Das Datum steht auf vielen Lebensmitteln und gibt an, wie lange Wurst, Käse oder Marmelade ohne Einbußen in der Qualität gegessen werden können.
    Tatsächlich sind viele Lebensmittel in der Regel länger essbar, als das aufgedruckte Datum angibt und manch ein Normalbürger wirft das Lebensmittel eher weg als nachzuschauen, ob das Lebensmittel noch zu genießen wäre. Der Minister Schmidt will das Mindesthaltbarkeitsdatum abschaffen oder ersetzen zum Beispiel durch ein Datum, ab dem Milch oder Schinken tatsächlich nicht mehr verzehrbar sind.
    Am Telefon begrüße ich Alfred Hagen Meyer, Rechtsanwalt in München, Lebensmittelrechtler, er vertritt Mandanten aus der Lebensmittelindustrie. Herr Meyer, guten Morgen!
    Alfred Hagen Meyer: Guten Morgen!
    Grieß: Wird das Mindesthaltbarkeitsdatum von der Industrie tatsächlich systematisch zu früh angesetzt?
    Meyer: Nein. Es ist eine sehr gute Regelung neben dem Verbrauchsdatum, hat sich seit drei Jahrzehnten bestens bewährt. Wo tatsächlich ein anderer Punkt ist, sehe ich woanders.
    Grieß: Hat der Minister dann also keine Ahnung oder flunkert er?
    Meyer: Es klingt irgendwie wie ein Sommerlochthema, dass das irgendwie sich ... besetzen zu können, nicht mehr.
    Grieß: Im März, Sommerloch?
    Meyer: Ja.
    Grieß: Sie hatten einen anderen Ansatzpunkt angesprochen, welcher könnte das sein, um das Wegwerfen von Lebensmitteln zu reduzieren?
    Meyer: Verbraucheraufklärung. Wurde 2012 schon mal gemacht, da gab es eine sehr gute Kampagne vom Bundesministerium seinerzeit, Frau Aigner mit dem Lebensmittelhandel, und ich denke, die kann nicht oft genug wiederholt werden: Es ist schlicht so – das zeigt eine Studie der Universität Stuttgart auch aus dem Jahr 2012 –, dass bei privaten Haushalten 61 Prozent der Lebensmittelabfälle anfallen. Das heißt, hier muss der Ansatz gewählt werden. Aufklären, was heißt Mindesthaltbarkeitsdatum, wie lange sind Lebensmittel haltbar, wie müssen sie gelagert werden, wo werden sie aufbewahrt, wie werden sie gekühlt und so weiter.
    "Jedes Lebensmittel hat sein eigenes Mindesthaltbarkeitsdatum"
    Grieß: Und Sie meinen, das funktioniert nicht ausreichend bisher? Also, man könnte die Kampagne noch einmal auflegen, die damals gelaufen ist?
    Meyer: Ja, unbedingt. Denn wir brauchen die Variable des Mindesthaltbarkeitsdatums. Jedes Lebensmittel hat sein eigenes Mindesthaltbarkeitsdatum. Ob jetzt Obst, Gemüse, Brot ...
    Grieß: Was spricht denn gegen ein Maximaldatum? Wann ein Lebensmittel tatsächlich verfällt?
    Meyer: Das ist immer das Kuriose, dass man immer meint, durch gesetzliche Regelungen Fakten schaffen zu müssen, beziehungsweise Gesetzesänderungen. Wir haben ja schon ein Mindesthaltbarkeits- und ein Verbrauchsdatum. Das heißt, jetzt käme noch ein drittes Datum dazu. Und ein Verfalldatum hätte etwas sehr Schmerzliches, denn in dem Moment, wo es verfallbar ist, dürfte es nicht mehr verkauft werden. Aber das heißt auch: Wenn es falsch angesetzt werden würde, dann käme das Zurückrufen. Das ist für mich die Konsequenz beim Verbrauchsdatum: Wenn einem Produkt ein falsches Verbrauchsdatum ausgewiesen worden ist, dann gilt es als unsicher kraft Gesetzes und muss zurückgerufen werden.
    "Mindesthaltbarkeitsdatum ist keine Garantie des Herstellers"
    Grieß: Dann wäre ja auch ein Vorschlag oder könnte doch auch ein Vorschlag sein, das Datum einfach gleich wegzulassen und die Verbraucher anzuhalten, auf ihren Mund, ihre Nase, ihre Augen und den Geruchssinn zu vertrauen?
    Meyer: Das ist aber der Sinn des Mindesthaltbarkeitsdatums. Das heißt, das ist keine Garantie des Herstellers, aber wenn jede Logistik, die Kühlkette, alles wunderbar lief, dann heißt es, bis dahin ist das Produkt haltbar und der Verbraucher kann noch dafür sorgen, dass es gegebenenfalls sogar etwas länger haltbar ist. Also zum Beispiel die modernen Null-Grad-Fächer im Kühlschrank dienen ja auch dazu, dass eine oder andere Lebensmittel noch einen Tick länger haltbar zu machen.
    Und ich denke, wir haben doch die sensorischen Fähigkeiten als Menschen. Sie haben es gerade selber angesprochen, Geschmack, Geruch, Aussehen, das sind all die Faktoren, die ein Verbraucher auch mit ganz mit banalen Hilfsmethoden, die wir Menschen haben, einfach zu zeigen, ob ein Produkt unangenehm riecht und vielleicht dann schon der Verderb eingetreten ist und dergleichen.
    Grieß: Nun ist der Begriff Mindesthaltbarkeitsdatum ja vielleicht ein sehr deutscher Begriff. Er ist sehr lang und man muss schon einmal kurz darüber nachdenken, was das eigentlich bedeutet. Wäre es nicht einfacher, einen anderen Begriff zu finden? Im angloamerikanischen Raum steht auf den Verpackungen: best before. Also, am besten ist das Lebensmittel vor diesem Datum, und da steckt so ein bisschen drin: Danach ist es auch noch nicht schlecht!
    Meyer: Ich glaube sogar eher nicht! Denn wenn ich den Fachbegriff nicht kenne – "best before end" –, also die deutsche Übersetzung, dann würde ich es glaube ich schlichtweg falsch übersetzen. Weil best before end heißt eigentlich letztendlich auf Deutsch: Verbrauchsdatum, also bis dahin verbrauchen. Und genau das ist es ja nicht.
    Grieß: Also, natürlich würde man es auf Deutsch schreiben, hatte ich jetzt angeregt gerade.
    Meyer: Ja, aber ich denke, das "mindestens haltbar" zeigt doch sehr deutlich und sehr präzise, dass es bis dahin haltbar ist, gegebenenfalls auch länger. Aber auf alle Fälle nicht kürzer.
    "Ressourcenverschwendung ist etwas, was gar nicht geht"
    Grieß: Aber das Mindesthaltbarkeitsdatum wird ja von vielen Menschen tatsächlich so interpretiert, das scheint ja tatsächlich auch ein Teil der Wahrheit zu sein, dass das Lebensmittel danach schlecht ist, sie werfen es weg. Das ist doch aus Ihrer Sicht womöglich der Traum der Lebensmittelindustrie?
    Meyer: Ah, das glaube ich nicht. Ressourcenverschwendung ist etwas, was gar nicht geht, das ist auch ein No-Go für die Industrie. Und letztendlich, wenn es darum ginge, dass das Ziele wäre, möglichst viel zu verkaufen, damit auch möglichst viel verschwendet wird, das ist auch unökonomisch, auch der Industrie völlig zuwider.
    "Wir brauchen wieder mehr Ahnung, Know-how in Ernährungskunde"
    Grieß: Wenn es die Industrie bezahlen müsste, aber in dem Fall zahlt es ja der Verbraucher.
    Meyer: Das ist aber nicht... Der Hintergrund ist doch, wo wir vorne angefangen haben: Über 60 Prozent der Lebensmittelabfälle hängen am Verbraucher, also brauche ich doch nicht jetzt umgedreht sagen, die Industrie hätte ein Interesse daran.
    Es zeigt das ja deutlich, dass wir den Verbraucher aufklären müssen, dass wir ihn abholen müssen, dass man einfach mehr Lebensmittelkunde ... Und ich denke, das Problem ist einfach unserer heutigen Zeit geschuldet: Diese Art, ständig To-Go-Produkte zu haben, Convenience-Produkte, die einfach nur noch in die Mikrowelle geschoben werden und dann verzehrt, wir brauchen wieder mehr Ahnung, Know-how, Kunde in Ernährungskunde schlichtweg. Also, wie stellt man Lebensmittel her, was kauft man, was braucht man für welches Rezept? Und daran fehlt es. Und da muss man früh genug anfangen, schlichtweg Kindergarten, Schule und dergleichen mehr, da sind Defizite und muss die Politik Geld reinstecken. Das tut sie aber zu wenig.
    "Obst und Gemüse ist nicht wie andere Lebensmittel berechenbar"
    Grieß: Logisch indes ist es ja nicht, denn wenn wir uns anschauen: Auf Joghurt zum Beispiel ist ein Mindesthaltbarkeitsdatum aufgedruckt, bei Gemüse hingegen nicht. Aber beides verschimmelt, wenn man es nicht verhindert. Warum?
    Meyer: Gute Beispiele. Das ist auch der Grund, das Mindesthaltbarkeitsdatum ist nicht nötig bei Obst und Gemüse und bei Backwaren, die weniger als 24 Stunden haltbar sind. Beides Probleme, denn Obst und Gemüse ist nicht wie andere Lebensmittel berechenbar. Jedes Obst hat in dem Sinne seine eigene Haltbarkeit, jeder Apfel unterscheidet sich, jede Banane zur Banane. Das heißt, hier kann ich das nicht über einen Kamm scheren und mit entsprechenden Erfahrungswerten sagen, das Produkt ist bis dann und dann haltbar.
    Allein durch die Globalität, der weite Weg des Obsts und Gemüses vom Ursprungsland bis auf den deutschen Tisch – was auch nicht abzustellen ist, das ist einfach unser heutiger Markt – führt dazu, dass leider solche Produkte wohl auch nur bedingt haltbar sind.
    "Jetzt gibt es andere Prioritäten"
    Grieß: Also zusammenfassend, Herr Meyer, sagen Sie: Das Mindesthaltbarkeitsdatum hat anders, als der Minister Schmidt es sieht, noch eine lange Haltbarkeit?
    Meyer: Ja. Zudem ist er da gar nicht zuständig. Das ist für mich die Zuständigkeit der Europäischen Union. Er kann Wünsche äußern, er kann das in den Ministerrat einbringen, mehr aber auch nicht.
    Grieß: Na, vielleicht tut sich da ja was, oder ist das Amtsanmaßung?
    Meyer: Nein, Amtsanmaßung nicht, aber ich glaube einfach, dass das derzeit kein Thema ist. Diese Verordnung, von der wir sprechen, wurde erst neu kodifiziert im Jahr 2011, gilt in dieser neuen Fassung seit 2014. Kein Gesetzgeber geht her, um bei diesem neu gefassten Recht jetzt auf einmal wieder eine Änderung durchzuführen. Das hätte man machen können bis 2014. Wenn man das verschlafen hat, dann muss man jetzt einfach eine Weile warten. Jetzt gibt es andere Prioritäten.
    Grieß: Sagt der Lebensmittelrechtler und Rechtsanwalt in München Alfred Hagen Meyer. Die Diskussion über das Mindesthaltbarkeitsdatum, wieder einmal begonnen von Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt, CSU. Herr Meyer, danke für das Gespräch!
    Meyer: Ich danke Ihnen!
    Grieß: Und einen schönen Gruß nach München!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.