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Lebensmittelgenuss auch nach dem Haltbarkeitsdatum

In Deutschland landen pro Jahr und pro Kopf etwa 80 Kilogramm Lebensmittel im Müll. Etwa 15.000 selbst ernannte Lebensmittelretter wollen dagegen etwas unternehmen. Sie alle sind beim Internetportal Foodsharing aktiv. Dort bieten sie alles feil, was sie selbst nicht essen.

Von Verena Kemna | 04.04.2013
    Ein LKW parkt vor dem Lieferanteneingang eines Supermarktes im gutbürgerlichen Berlin Dahlem. Leere Kartons und Flaschen werden verladen. An der Hauswand stehen graue Müllcontainer. Benjamin, 21 Jahre alt, taucht mit dem Oberkörper in eine Tonne.

    "Schön, dekorativ, ein Apfel, wo man ein paar Ecken wegschneidet und dann ist der super brauchbar. Oh, hier sind ein paar schöne Sachen drin."

    Er greift nach einem leeren Pappkarton, stellt ihn auf einer Mülltonne ab und fischt mit der bloßen Hand gekonnt nach eingepackten Broten, Salatsaucen in eingeschweißten Plastikflaschen, Fruchtjoghurt, Biomilch literweise. Alles sieht sauber und wie neu aus, nur ein geplatzter Tetrapack mit Kakaomilch hat einige der Lebensmittel bekleckert. Benjamin stört sich nicht daran.

    "Hier ist Brot. Das wird bei uns sowieso alles getoastet und bei den Freunden und Bekannten, denen ich das gebe auch und dann kann man so ein Brot auch noch eine Woche nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum essen."

    In Deutschland landen pro Jahr und pro Kopf etwa 80 Kilogramm Lebensmittel im Müll. Benjamin kennt die Zahlen, der Student mit der gestrickten Wollmütze auf dem Kopf sieht sich als Umweltaktivist und Überzeugungstäter. Seit über einem Jahr durchsucht er fast täglich Mülltonnen.

    "Entweder hier nach der Uni, oder bei uns um die Ecke beim Edeka, nachts, weil die das nicht so positiv aufnehmen wie hier, und manchmal auch beides an einem Tag."

    Ihn ärgert vor allem die Dekadenz der Wegwerfgesellschaft. Benjamin stapelt Milch, Pudding und Müsli in seiner Fahrradtasche. Er erzählt, dass auch seine Schwester vor einem Jahr angefangen hat, Tonnen leer zu räumen, Containern, so heißt das in der Szene.

    "Sie hat bei unserem Supermarkt um die Ecke in die Biotonne geguckt und gesehen, dass da Massen von völlig in Ordnung aussehendem Gemüse drin liegen, und ist dann nach Hause gekommen und meinte: Benny, da ist ganz viel drin, aber ich habe mich nicht getraut, etwas raus zu nehmen, ich hab hier nur ein Bund Radieschen, willst du mit mir mal dahin gehen? Dann sind wir am selben Abend noch dahin und haben halt nicht mehr aufgehört."

    Etwa zwanzig Minuten lang schichtet er völlig ungestört die Lebensmittel in einem großen Karton, füllt die Fahrradtaschen mit Brot und Milch. Ein Supermarktmitarbeiter mit Namensschild auf dem weißen Kittel späht hinter einer Palette Leergut hervor, beobachtet, wie Benjamin die Tonne plündert, er verschwindet und kommt nicht wieder. Eigentlich ist es verboten, Lebensmittel aus den Tonnen auf dem Supermarkt-Gelände zu klauben. Aber, sagt der junge Mann, Ärger hat er deshalb noch nie bekommen. Früher sei er auch mal nachts über einen Zaun gesprungen; heute würde er das nicht mehr machen, denn das sei Hausfriedensbruch. Er sucht sich am liebsten frei zugängliche Locations wie diesen Supermarkt, ohne Zaun und Tor, direkt an der Straße.

    "Wenn es angezeigt wird, was auch schon öfter vorgekommen ist, wird es in der Regel nicht zum Verfahren gebracht, weil der Streitwert einfach zu gering ist. Und es ja offensichtlich nur eine Schikane ist, um Leuten diese Form von Nachhaltigkeitsaktivismus madig zu machen, um ein Zeichen zu setzen, dass das nicht noch mehr Leute versuchen."

    Nach einer halben Stunde ist er fertig, klemmt den schweren Karton auf seinen Gepäckträger und radelt los. Er ist einer von etwa 15.000 selbst ernannten Lebensmittelrettern in ganz Deutschland, die sich beim Internet-Portal Foodsharing engagieren. Alles, was Benjamin nicht selber essen, nicht an Freunde und Nachbarn verteilen kann, wird er noch am selben Tag im Internet posten. Sein Freund Raphael Fellmer, den er beim Containern kennengelernt hat, koordiniert die Initiative in Berlin. Der Familienvater, Ende zwanzig, lebt seit Jahren aus Überzeugung fast ohne Geld. Er sitzt zu Hause vor dem Internet, liest vor, was auf foodsharing gerade alles umsonst im Angebot ist.

    "Ostereier, fertig bemalt und gekocht, Babynahrung, Backwaren ... "

    Seit vier Monaten ist das Internetportal geschaltet. Raphael Fellmer ist ganz zufrieden. Doch er will mehr: Seine Idee ist es, dass jeder in der eigenen Nachbarschaft mindestens einen Lebensmittelretter kennt, bei dem man Essen abholen oder abgeben kann. Fellmer hat am Vorabend beim Bäcker um die Ecke übrig gebliebene Backwaren besorgt und via Internet angeboten. Nun wartet er auf Alwina, die die Brötchen abholen will.

    "Hallo, ich bin der Raphael, schön, dass du da bist und so pünktlich. Brötchen werden immer gebraucht und gern gegessen, und von daher habe ich das mit einem schönen Spaziergang verbunden und ja, passt."

    Die Mutter von drei Kindern steht im Treppenhaus, Tochter Lilly, zwei Jahre alt, greift in die Brötchentüte, knabbert an einer Brezel. Alwina bietet selbst regelmäßig Lebensmittel an, aus Kostengründen, aber vor allem aus Überzeugung.

    "Wenn Käse gekauft wurde, der nicht gegessen wird, so Sachen halt. Bevor wir sie in die Tonne schmeißen, weil sie keiner isst, kann man sie einfach abholen."

    Raphael sieht auf die Uhr. Er hat es eilig. Sein nächster Termin, der Biomarkt um die Ecke. Auf den Deal mit der Supermarktkette ist er besonders stolz: Jeden Tag können die Lebensmittelretter dort ganz legal die übrig gebliebene Ware abholen. Rund um die Uhr ist Fellmer damit beschäftigt, Lebensmittel zu organisieren und zu verteilen. Jeden Tag melden sich Interessierte, die sich ebenfalls engagieren wollen. Dass auch viele Leute einen Schritt weiter gehen und sagen, hey ich investiere auch ein, zwei Stunden meiner Zeit pro Woche und hol Sachen irgendwo ab, stell sie rein oder verschenk sie weiter. Ich glaube, dass da sehr viel Potenzial steckt. Fürs Containern, wie früher, hat er längst keine Zeit mehr.