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Lebensrealität von Hartz-IV-Empfängern

Die Agenda 2010 versprach mehr Jobs für mehr Menschen. Die Fernsehjournalisten Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt wollten herausfinden, ob das stimmte und drehten Filme über die aussichtslose Suche nach Arbeit und über das isolierte Leben im Abseits. Ihre Sozialreportagen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, nun haben die Autoren ihre langjährigen Recherchen in einem Buch vereint.

Von Ralph Gerstenberg | 20.04.2009
    Jessica und René Weber stehen mit Ihrer elf Monate alten Tochter Janina an der Kasse eines Supermarktes in Wattenscheid. In ihrem Portemonnaie haben sie kein Geld, sondern einen Gutschein vom Amt, das jetzt "Arbeitsgemeinschaft für die Grundsicherung Arbeitssuchender" heißt. Die 1129 Euro plus Miete, die sie monatlich als Hartz-IV-Empfänger erhalten, haben mal wieder nicht gereicht. Nun können sie nach einiger Bettelei beim Sachbearbeiter ihren Einkaufskorb auf Pump noch einmal mit lebensnotwendigen Dingen wie Windeln für ihre Tochter füllen. Die Prozedur ist demütigend, die Blicke der anderen Kunden sind abschätzig. Jessica und René Weber gehören zu einer stetig wachsenden Gruppe von Menschen, deren Alltag Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt in ihrem Buch "Deutschland Dritter Klasse" beschreiben, das den Untertitel trägt: "Leben in der Unterschicht"

    In jeder dritten Wattenscheider Familie wachsen Kinder auf, die nicht wissen, wie es ist, wenn die Eltern zur Arbeit gehen. Ihr Leben läuft so ab wie Janinas: Die Eltern gehen zum Amt oder bleiben zu Hause. Wie nennt man solch ein Leben? Sind das arme Familien? Abgehängte oder Ausgeschlossene? Fragt man die Webers selbst, lachen sie kurz. "Unterschicht", sagt Jessica dann und schaut Helmut und René an, die neben ihr auf dem Sofa sitzen, "Unterschicht - das sind wir!" Sohn und Vater nicken ohne zu zögern. Die Frage nach dem Platz in der Gesellschaft scheint für sie alle schnell und eindeutig beantwortbar zu sein.

    "Das einzige Wort, mit denen die Familien gearbeitet haben oder mit dem sie was anfangen konnten, war halt Unterschicht. Da haben wir gedacht, wenn die Familien selber ihre Situation so beschreiben, dann fänden wir es verkopft, da jetzt bemüht andere Begriffe zu nehmen, nur weil wir uns scheuen, diesen Begriff zu verwenden. Wir hatten den Eindruck, dass das ein recht klarer Begriff ist und dass es nichts bringt, ein Problem akademisch zu umschreiben, nur weil man sich scheut, es zu benennen. Also wir hatten nicht den Eindruck, dass sich Familien dadurch beleidigt fühlen, weil sie selbst den Begriff "Unterschicht" immer wieder verwendet haben."

    Die Fernsehjournalistin Julia Friedrichs arbeitet ebenso wie Eva Müller und Boris Baumholt für den WDR. Die jungen Autoren drehen Reportagen, die sich mit der Lebensrealität von Hartz-IV-Empfängern, Leiharbeitern oder Kindern und Jugendlichen in Förderschulen auseinandersetzen. Um nicht immer wieder nur einzelne Facetten eines komplexen Themas in fernsehgerechten Portionen zu servieren, haben sie sich dazu entschlossen, die Fäden ihrer Geschichten für ein Buchprojekt miteinander zu verknüpfen. So soll das Bild einer parallelen und beinahe hermetisch abgeschlossene Welt entstehen, in der Menschen leben, die sich zur Unterschicht zählen, einer Welt, in die man heutzutage leicht hinein gerät und aus der man schwer wieder heraus kommt. Das meinen zumindest Julia Friedrichs und ihre Kollegen, die manche der Protagonisten bereits seit vier Jahren beobachten.

    "Um eben auch zu sehen, wirkt denn dieses Versprechen, das gemacht wurde, als die Hartz-Gesetze vorgestellt wurden? Hat sich das Leben für die Menschen tatsächlich verbessert? Und da ist es doch so, dass wir sagen müssen: Bei all den Familien, die wir begleitet haben, hat sich nichts verbessert. Bei zweien ist es so, dass sich die Lage geändert hat zum Positiven. Die einen sind ausgewandert, die sind nach Österreich gegangen. Und ein Mädchen hat durch einen Film, den wir über sie gemacht haben, einen Ausbildungsplatz bekommen, aber durch die Gesetzesänderung hat sich bei niemandem etwas geändert."

    Im Buch verweilen die drei Autoren zunächst in Wattenscheid. Neben der Familie Weber begleiten sie eine Siebzehnjährige in eine Förderschule und eine alleinerziehende Mutter in ein soziales, durch Spenden bestücktes Warenhaus. Sie treffen einen Ein-Euro-Jobber beim Brötchenschmieren und einen so genannten "Absteiger", der nach dem Verlust seiner Arbeit bald auch seinen gesamten Freundeskreis verloren hat. In Berlin und in Leipzig zeigen sie, wie im Niedriglohnbereich die Schraube immer weiter angezogen wird und Arbeitnehmer, die als Sicherheitspersonal oder Menüboten arbeiten, trotz aufreibender und zeitaufwendiger Tätigkeiten von ihrem Lohn nicht leben können. Wie in einer Fernsehdoku werden die Schauplätze rasch gewechselt, die Bilder, die nun im Kopf entstehen, rasant aneinander geschnitten, die Schicksale in parallelen Strängen erzählt.

    Zusätzliche Informationen erhält der Leser aus farblich abgesetzten Kästchen, in denen Statistiken und Zahlen aus verschiedenen Quellen zusammengetragen werden. 4, 50 Euro, erfährt man da beispielsweise, bekommt ein Fleischzerleger in Sachsen, 3,22 Euro ein Gartenbauarbeiter in Thüringen, 3,05 Euro eine Friseurin in Brandenburg. Das erinnert an die Häppcheninfos bei "Hart aber fair". Auf eine gesellschaftstheoretische Diskussion dieser Entwicklung, wie sie beispielsweise in der Exklusionsdebatte geführt wurde, verzichten die Autoren bewusst.

    "Wir wollten, dass die Familien von ihrem Leben erzählen können, wir wollten dem ausreichend Raum geben, wir wollten auch, dass der Leser mit diesem Buch einfach in diese Welt eintaucht und versucht, soviel wie möglich zu verstehen, weil ich glaube, dass sehr viel geurteilt wird, ohne dass man erst versucht hat zu verstehen, dass man erst wirklich genau hinsieht. Wir wollen mit dem Buch vor allem genau hinsehen. Ich finde, wenn eine Familie, wo drei Generationen von Hartz IV leben, wenn die das Leben mit Hartz IV beschreibt, haben die davon Ahnung, da brauche ich keinen Soziologen, der das für mich noch einordnet, der mir sagt: Ja, das stimmt, was die sagen. Sondern die wissen für mich Bescheid."

    Leonie nimmt uns mit zu sich nach Hause. Ihre Eltern haben sich getrennt. Sie lebt allein mit ihrer Mutter. Ihre Mutter hat nie eine Ausbildung gemacht. Nach der Schule hat sie sofort als ungelernte Arbeiterin in der Fabrik angefangen. Inzwischen leben sie und ihre Tochter von Hartz IV. In der Wohnung der beiden ist es dunkel. Schon seit Tagen ist das Licht kaputt. "Sehr dunkel ist es", sagt ihre Mutter. "Die Lampe ist durchgebrannt, und ich bin kein Fachmann. Bei uns macht Leonie das alles mit der Technik. Ich bin dazu nicht in der Lage." Die Mutter ist krank, der Schwester hilft sie mit den kleinen Neffen. Leonie hat wenig Zeit Kind zu sein.
    Solche Beobachtungen sind es, die das Buch zum Teil sehr lesenswert machen. Die Dunkelheit im Zuhause des Förderschulkindes Leonie oder die unglaubliche Fremdheit der Hartz-IV-Familie Weber bei dem Versuch, in einer Kirchengemeinde Anschluss zu finden, schaffen eine emotionale Anteilnahme, die über das rationale Verstehen einer fremden Welt hinausgeht. Das Festhalten an der Fernsehästhetik und die sehr präsente Reporterperspektive führen hingegen dazu, dass man beim Lesen stets ein Fernsehteam vor Augen hat, das die Porträtierten begleitet. Zudem vermisst man eine klare Struktur und vor allem Zeit und Ruhe für eine gründliche Analyse des zusammengetragenen Materials. Anders als eine 30-Minutenreportage im Fernsehen bietet ein Buch über das Phänomen einer sich verfestigenden Unterschicht die Möglichkeit, Betroffene zu Wort kommen zu lassen und die geschilderten Fehlentwicklungen ausführlich zu reflektieren. Davon machen die Autoren leider zu selten Gebrauch.

    Ralph Gerstenberg über "Deutschland Dritter Klasse - Leben in der Unterschicht". Die Autoren sind Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt. Das Buch ist gerade bei Hoffmann und Campe erschienen, 209 Seiten kosten 14, 95 Euro.