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Leere Hülle
Forscherteam findet neue Form von Eis

Unterm Mikroskop gleicht keine Schneeflocke der anderen. Das liegt an der sechszähligen Symmetrie, in der Eis kristallisiert. Doch es gibt auch andere Formen von Eis, etwa sogenanntes kubisches Eis. An Europas größtem Forschungsreaktor in Grenoble haben Wissenschaftler nun die jüngste Form von Eis entdeckt - winzige leere Käfige aus Eis.

Von Frank Grotelüschen | 11.12.2014
    Der Forschungsreaktor in Grenoble
    Der Forschungsreaktor in Grenoble (Frank Grotelüschen)
    Eine Experimentierhalle am Institut Laue-Langevin, hier steht der größte Forschungsreaktor Europas. Der Chemiker Thomas Hansen steht vor einer dicken Betonmauer. Der einzige Zugang ist eine gelbe Metalltür. Doch sie ist verschlossen, und mehrere Leuchtanzeigen warnen davor, den Raum dahinter zu betreten.
    "Das ist aus strahlenschutztechnischen Gründen notwendig. Denn hinter dieser Mauer steht ein großer Detektor. Die Neutronen, die vom Reaktor kommen, treffen da auf eine Probe. Und da diese Neutronen jetzt durch die Gegend fliegen, ist es für uns Menschen angenehm, nicht dort zu sein."
    Denn der Reaktor produziert Unmengen an Neutronen. Das sind radioaktive Bausteine von Atomkernen, mit denen sich Materialien detailliert durchleuchten lassen. Gemeinsam mit Forschern aus Göttingen hat sie Hansen dazu genutzt, eine bestimmte Klasse von Molekülen unter die Lupe zu nehmen - Gashydrate.
    "Gashydrate sind Käfigverbindungen, in denen Wassermoleküle Gase einschließen. Wie ein Käfig sind sie darin festgehalten. Gashydrate machen heute viel von sich reden, weil sie am Meeresboden in großen Mengen vorkommen - vor allen Dingen Methanhydrat. Dieses Methanhydrat ist eine potenzielle Energiequelle."
    Um genauer abschätzen zu können, ob und wie man diese Energiequelle eines Tages anzapfen könnte, wäre es praktisch, möglichst viel über die eisigen Käfigmoleküle in Erfahrung zu bringen. Interessant ist besonders eine Frage: Wie verhält sich der leere Käfig, also ein Gashydrat ganz ohne Inhalt? Das Problem: In der Natur gibt es solche leeren Hüllen nicht. Um sie künstlich herzustellen, mussten sich die Experten einen raffinierten Trick einfallen lassen:
    "Die Leute in Göttingen haben es geschafft, ein sogenanntes Neon-Hydrat herzustellen, vom Edelgas Neon. Das war schon schwierig genug."
    Einzelne Neon-Atome, verpackt in dünne Hüllen aus Eis - mit diesem Gepäck reisten die Experten nach Grenoble. Dort schlossen sie das Neon-Hydrat bei -130 Grad Celsius in eine luftleer gepumpte Probenkammer ein. Dann schauten sie mithilfe der Neutronen zu, was passierte.
    "Wir haben verfolgen können, wie das Neon die Käfige verlässt, weil das Neon ein Atom ist, das klein genug ist und hinter sich ein leeres Skelett, ein leeres Hydrat hinterlässt. Da das leere Hydrat nichts anderes als Wasser ist, nichts anderes als H2O, und fest ist, ist es der Definition nach eine neue Phase von Eis."
    Und zwar die nunmehr 17. bekannte Kristallform von Eis. Ihre Eigenschaften sind durchaus bemerkenswert.
    "Dieses Eis zeichnet sich dadurch aus, das es das leichteste von allen Eis-Phasen ist - ungefähr 80 Prozent der Dichte von normalem Eis."
    Nur: Besonders stabil ist das neue Eis offenbar nicht. Nach einer gewissen Zeit scheinen die leeren Käfige von selbst zu zerfallen.
    "Ich bin sehr skeptisch, dass man sie auf irgend einem Kometen oder sonst wo zufällig finden würde. Auf der anderen Seite muss man sich sagen: Wenn wir Menschen es hinkriegen, die Bedingungen dafür herzustellen, kann es natürlich in der Natur auch irgendwo mal passiert sein."
    Konkrete Anwendungen sind von dem neuen Eis zwar nicht zu erwarten, sagt Thomas Hansen. Dafür aber manche spannende Erkenntnis.
    "Es ist ein Material, das für den Physikochemiker sehr wichtig ist, weil es einen Eckpfeiler bildet zu einer ganzen Theorie, die die Eigenschaften voraussagt von Gashydraten."
    Das Kalkül: Je mehr man über das Verhalten der leeren Eiskäfige rausbekommt, umso mehr lernt man etwas über Gashydrate im Allgemeinen. Und das könnte dann helfen, neue Techniken zu entwickeln - auch wenn die aus heutiger Sicht ziemlich abenteuerlich klingen. Da wäre etwa die Idee, CO2 aus Kraftwerken in Eiskäfige einzuschließen und gegen das Methanhydrat auf dem Meeresgrund auszutauschen, das man dann als Energiequelle nutzen würde.
    "Das klingt noch ein bisschen nach Science-Fiction, und da ist noch viel Arbeit zu tun, wenn das überhaupt mal machbar sein sollte. Deshalb müssen wir über Gashydrate soviel wie möglich wissen."
    Weshalb Hansen an seinem Forschungsreaktor in Grenoble nun weitere Messreihen plant mit den leeren Käfigen aus Eis.