Donnerstag, 28. März 2024

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Lehren aus dem Dreißigjährigen Krieg
"Unordentliche Kriege plündern die Bevölkerung aus"

Der Dreißigjährige Krieg war sowohl Konfessions- als auch Hegemonialkrieg. Er habe gezeigt, dass es besser sei, Politik entlang von Interessen anstatt anhand von Wertungen zu machen, sagte der Politologe Herfried Münkler im Dlf. Denn: "Interessen sind kompromissfähig, absolute Wertungen nie."

Herfried Münkler im Gespräch mit Andreas Main | 17.05.2018
    Herfried Münkler, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin
    Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zieht aus der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges Lehren für die Gegenwart (imago/Thilo Rückeis)
    Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
    Andreas Main: Im allgemeinen Bewusstsein firmiert dieser Krieg ja wohl zumeist unter dem Label "Konfessionskrieg". Manche bezeichnen ihn als Religionskrieg. Was ist er für Sie?
    Herfried Münkler: Das alles und noch viel mehr, wenn ich das mal so sagen darf. Also, ganz zweifellos ist er auch ein Religions- oder Konfessionskrieg. Konfessionskrieg ist, glaube ich, besser. Aber er ist auch ein Krieg um die Verfassungsfrage. Und gleichzeitig ist es ein Hegemonialkrieg, also ein Krieg um die Frage, wer denn in Europa das Sagen hat.
    Main: Frankreich, Spanien, Niederlande, Schweden – alles …
    Münkler: Alles Akteure darauf. Und am Anfang spielt, denke ich, Spanien die entscheidende Rolle, weil die Spanier, die ebenfalls ein Teil des Hauses Habsburg sind, dieser Familie, der spanische Zweig – der andere Zweig ist der, der in Wien herrscht – weil die Spanier Sorge haben, dass insgesamt ihre Macht im Schwinden ist. Sie haben schon einen Krieg, in dem sie nicht gut aussehen, der auch um eine Verfassungsfrage und auch um eine Konfession sich dreht, nämlich der Krieg mit den Niederlanden, in den Niederlanden. Und sie möchten nicht, dass der böhmische Konflikt ähnlich wird.
    Und man kann, glaube ich, sagen, wenn Spanien nicht dem Ferdinand – Ferdinand von Steiermark, der böhmischer König ist und den die Böhmen abgesetzt haben – sehr viel Geld und ordentlich Soldaten gegeben hätten, hätte der Ferdinand gar keinen Krieg führen können, denn bei seinen eigenen Ständen in Oberösterreich, Niederösterreich hätte er kein Geld bekommen, keine Soldaten. Die waren nämlich selber protestantisch und wollten auch keinen absolutistisch regierenden Herrn. Und dann hätte er halt verhandeln müssen.
    "Mehr Tote als im Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammen"
    Main: Die Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg ist im kollektiven Gedächtnis verankert. Herfried Münkler, was sind die bitteren Fakten, wie sah Deutschland aus, 30 Jahre nach Beginn des Dreißigjährigen Kriegs?
    Münkler: Ja, also, wenn man bereit ist, Kriegsfolgen umfassend zu rechnen, also nicht nur sagt, na ja, okay, auf den Schlachtfeldern sind soundso viel Tausend Männer geblieben, gefallen, sondern die Gesamtbilanz in Rechnung stellt, also dazurechnet, was an Seuchen und Krankheiten und Hungersnot dazugekommen ist – und das muss man, glaube ich, weil die durchziehenden Heere gewissermaßen Infektionszerstreuer waren und natürlich auch die Flüchtlingszüge die Krankheiten in einer Weise verbreitet haben, wie das in Friedenszeiten nur ein paar Scholaren und vielleicht ein paar Handwerker und ein paar Pilger herumgezogen sind, aber gewissermaßen die Transferierung von Infektionsherden von einem Gebiet ins andere ein sehr, sehr dünnes Rinnsal war.
    Also, wenn man das alles zusammenrechnet, hat dieser Krieg sechs Millionen Menschen gekostet. Das ist jetzt nicht so aufregend, angesichts der Zahlen, die wir aus dem 20. Jahrhundert und dessen erster Hälfte kennen, aber wenn wir das darauf beziehen, dass vorher 16 Millionen Menschen in Deutschland gelebt haben und hinterher nur noch zehn Millionen, dann nimmt sich das anders aus. Und dann kann man sagen, in Relation zur Bevölkerung hat dieser Krieg mehr Menschen das Leben gekostet als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen, was die Deutschen anbetrifft.
    Main: Was hat das in den Köpfen gemacht? Wie haben Theologen reagiert?
    Münkler: Ja, gut, es gibt auf der einen Seite die Theologen, die sagen, dieser Krieg ist die Chance zur Durchsetzung eines Wahrheitskonzepts. Das Interessante ist, Krieg und religiöse Disposition, theologische Sicht spielen hier insofern zusammen, als der Krieg die radikalsten der jeweiligen theologischen Gruppierungen – an die Macht bringt ist jetzt zu viel gesagt, aber jedenfalls ihnen Oberwasser verschafft.
    Also, auf der einen Seite sind das die Reformierten, bestimmte Theologen, die sagen, es gibt eine katholische Verschwörung und wir müssen präventiv gegen sie agieren und auch, als man die ersten Niederlagen eingesteckt hat: durchhalten, durchhalten, durchhalten. Das sind auch diejenigen, die am Schluss sagen, wir würden den Frieden von Münster und Osnabrück nicht unterschrieben haben.
    Der Friedenssaal im Historischen Rathaus von Münster 
    Der Westfälische Friede wurde unter anderem im Friedenssaal in Münster ausgehandelt (imago stock&people)
    Und auf der anderen Seite deren Gegenspieler, die Jesuiten als die Träger der Gegenreformation. Und solange Kurfürst Maximilian von Bayern einen jesuitischen Beichtvater hat und Ferdinand II. am Leben ist und seinen jesuitischen Beichtvater, also Wilhelm Lamormaini, hat, da ist auch die Bereitschaft zu einem kühlen Interessenabgleich und die Frage: Was kostet die Fortsetzung des Krieges? Was gebe ich auf, wenn ich jetzt Frieden schließe? - diese Bereitschaft ist nicht da.
    "Auch ein Krieg unter Theologen"
    Sondern es ist bedingungslos orientiert darauf. Und da spielen Theologen eine ganz wichtige Rolle. Notabene – es sind aber nicht die einzigen. Also, der Hoftheologe des sächsischen Kurfürsten Johann Georg ist eher zunächst darauf ausgerichtet, eine Politik des Ausgleichs zu betreiben. Das gilt auch für Kardinal Khlesl, der lange in Wien die Politik leitet. Und eine Reihe von, ja, eher Kapuzinern sagt auch: Friede ist wichtiger als die Durchsetzung gegenreformatorischer Projekte.
    Also, könnte man sagen, dieser Krieg ist auch ein Krieg zwischen den oder unter den Theologen. Und man könnte sagen, das ist ein Krieg zwischen denen, die nach Religionsraison und jenen, die nach Staatsraison denken. Die Staatsraison-Leute setzen sich halt am Schluss durch und sagen, jetzt ist aber genug.
    Main: In Ihrem Buch über den Dreißigjährigen Krieg stellen Sie ja auch Positionen von Künstlern, von Dichtern gegenüber, um Prototypisches herauszuarbeiten. Das tun Sie auch mit religiösen Positionen. Welche Beispiele sehen Sie da? Was hat sich sozusagen in den Herzen verändert durch diesen Krieg?
    Münkler: Ja, gut, so, wie am Anfang die Konfession ein Beschleuniger und Zündler des Krieges ist, so kann man sagen, leidet die Frömmigkeit der Menschen durch den Krieg, durch den Verlust von Angehörigen, durch das Abbrennen, Aussterben ganzer Dörfer und Regionen. Also, die Frage: Was ist das für ein Gott, der das zulässt? Oder, wenn Gott das zulässt, dann will ich nicht, dass dieser Gott Gott ist, sondern ich wende mich davon ab – sehr aktiv. Oder auch einfach nur tiefe Glaubenszweifel, die sich zunehmend verbreiten.
    Ein zeitgenössiches Porträt des deutschen Dichters Andreas Gryphius (1616-1664).
    Der deutsche Dichter Andreas Gryphius verarbeitete den Krieg in seinen Werken (picture alliance / dpa)
    Also, insofern ein Krieg, der von solcher religiöser Intensität ist, gleichzeitig einer, der das religiöse Feuer auch erstickt. Man kann dann nebeneinanderstellen, Andreas Gryphius, der in den "Tränen des Vaterlandes" – dieses Gedicht "Tränen des Vaterlandes", vielleicht das größte Gedicht des deutschen Barock – den Krieg beschreibt im Bilde der Johannes-Offenbarung, also den apokalyptischen Reitern – Krieg, Teuerung, Pestilenz, Hungersnot – dieses Bild blendet auf die eigene Gegenwart und also sagt: Es ist Endzeit.
    Endzeit oder Gottvertrauen?
    Also, eine zutiefst religiöse, theologische Deutung. Dieser Krieg, so, wie er abläuft führt uns vor Augen, dass jetzt die Zeit zu Ende geht und demnächst, ja, vielleicht ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen werden. Und auf der anderen Seite aber dann auch wieder der Versuch, so etwas wie Gottvertrauen wiederherzustellen.
    Paul Gerhardt tut das in seinem "Sommerlied" – so heißt das, unmittelbar nach Kriegsende geschrieben – "Geh aus mein Herz und suche Freud" – in dem er Strophe für Strophe für Strophe eigentlich beschreibt, wie die Zyklen der Natur laufen und eigentlich gar nicht Endzeit ist. Sondern, was weiß ich, das Reh und der Hirsch und die Glucke und alles, auch was da wächst und gedeiht, wieder neu da ist und er daraus Gottvertrauen schöpft.
    Also, zwei sehr unterschiedliche Deutungen dieses Krieges und ich meine, "Geh aus mein Herz und suche Freud", das ist ja sozusagen eigentlich zutiefst bekannt bei den Deutschen als Lied. Also, wer überhaupt etwas damit im Sinne hat, der kennt dieses Lied. Aber man muss dann doch auch noch dazusagen, es ist eine Art der Trauma-Bearbeitung, -Bewältigung: Nach einem so furchtbaren Krieg einfach zu schauen, wie das Leben weitergeht.
    Main: Herr Münkler, der Westfälische Frieden, Sie haben ihn schon angesprochen. 1648 – warum hat er aus Ihrer Sicht bis heute Modellcharakter?
    Münkler: Also, es gab ja einige Friedensschlüsse vorher schon. Lübecker Friede, Prager Friede – und die scheitern alle. Es sind retrospektiv betrachtet nur so eine Art Waffenstillstände im Dreißigjährigen Krieg. Und die große Leistung derer, die in Münster und Osnabrück verhandeln, ist, die verschiedenen Kriegstypen, die sich da übereinander gelagert haben, auseinander zu legen. Auch die einen, eher die konfessionellen Fragen in Osnabrück zu verhandeln und die machtpolitischen Fragen eher in Münster zu verhandeln und da nach Kompromissen zu suchen.
    Und diese Kompromisse, die erst möglich werden, indem man den Verfassungskonflikt vom Konfessionskonflikt trennt und den wiederum vom Hegemonialkonflikt trennt und dann kann man auch noch die einzelnen Grenzfragen bearbeiten, das ist eine schon fundamentale Leistung. Und schauen wir in die Gegenwart, dann könnte man also sagen, wie das Frank-Walter Steinmeier, als er noch Bundesaußenminister war, in Osnabrück getan hat: "Der Nahe Osten braucht einen Westfälischen Frieden."
    "Staaten werden zu Monopolisten der Kriegführungsfähigkeit"
    So mancher glaubt dann, na ja, das sei dann so ein ewiger Friede und alle Kriege seien beendet. Das ist er ja gerade nicht gewesen, dieser Westfälische Friede, sondern er schafft im Prinzip eine neue Ordnung in der …
    Main: Er schafft auch Staatlichkeit des Krieges.
    Münkler: Er schafft Staatlichkeit. Also, man kann sagen, die Staaten werden zu Monopolisten der legitimen und der faktischen Kriegführungsfähigkeit. Und dadurch werden Krieg und Frieden sauber voneinander getrennt, was man während des Dreißigjährigen Krieges nicht immer weiß, weil der Kaiser sagt, er ist gar nicht im Krieg, er bekämpft nur Aufstände im Innern. Und die Aufständischen sagen, sie sind auch nicht im Krieg, sondern sie leisten nur Widerstand gegen eine ungerechte Obrigkeit.
    Und indem mit Staatlichkeit, dann auch Souveränität – dieser noch zu diesem Zeitpunkt ganz junge Begriff, den der Franzose Bodin geprägt hat – ins Spiel kommt und Souveränität überhaupt die Voraussetzung dafür ist, dass man rechtsförmig Krieg erklären kann und wer nicht souverän ist, darf das nicht, ist auch klar, der Kreis derer, die jetzt hier kriegsführungsfähig sind im rechtlichen Sinne, ist kleiner geworden. Denn gucken wir in den Dreißigjährigen Krieg hinein, dann sind das im weiteren Sinne: Bandenführer, Condottieri, Warlords und derlei mehr – Mansfeld, der tolle Halberstädter, Wallenstein, vielleicht der Berühmteste, aber auch der Weimaraner.
    Historische Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert, Portrait von Graf Peter Ernst II. von Mansfeld, 1580 - 1626, ein Söldner- und Heerführer im Dreißigjährigen Krieg
    Die Truppen Ernst von Mansfelds wüteten im Dreißigjährigen Krieg besonders schlimm (imago stock&people)
    Main: Und die führen halt "unordentliche Kriege", um einen Begriff von Ihnen zu benutzen.
    Münkler: Ja, mindestens unordentliche Kriege und vor allen Dingen plündern sie die Bevölkerung aus. Und Wallenstein macht das noch eher in Rechtsbahnen, aber der Mansfelder, der raubt einfach zusammen, was er kriegen kann. Und in der Schlussphase, in den letzten 14, 13 Jahren des Krieges besteht der eigentlich gar nicht mehr aus dem Kampf der Heere gegeneinander, sondern dem Kampf der Soldaten gegen die Bauern, nur noch mit der Absicht, etwas zu reißen und zu beißen zu bekommen und die Bauern, die sich dessen erwehren.
    "Das kann man zurzeit im Nahen Osten beobachten"
    Also diese Dimension zu beenden, die dann auch den Krieg noch einmal ungeheuer verlustreich macht, das ist schon eine große Leistung. Und mit Verlaub, das kann man auch zurzeit im Nahen Osten beobachten. Die Rückkehr solcher Gruppierungen, die den Krieg auf eigene Faust führen. Die sich dann Freischärler oder wie auch immer oder IS nennen und das Projekt haben, ein eigenes Territorium zusammen zu erobern, das man dann vielleicht mal dort Kalifat-Staat genannt hat. Und das wird ihnen aber dann auch wieder abgenommen. Also, all das überführt der Westfälische Frieden in ein neues Regulationssystem, das nicht den Frieden an sich bringt, sondern eine Ordnung von Krieg und Frieden. So, glaube ich, muss man es sagen.
    Rauchwolken steigen über einem Gebiet südlich von Damaskus auf, das die syrische Regierung bombardiert hat.
    Der Syrienkonflikt ist ein "unordentlicher Krieg" (AFP / Rami al SAYED)
    Main: Herr Münkler, für historisch bedeutende Ereignisse wie den Dreißigjährigen Krieg, da suchen Dichter und Denker immer nach Namen, nach Begriffen. Wenn ich Ihr Buch richtig verstanden habe, war eigentlich schon den Zeitgenossen der Begriff Dreißigjähriger Krieg offenbar geläufig oder er war im Schwange. Wenn wir jetzt versuchen, für jene Kriege im Vorderen Orient und in der afrikanischen Sahelzone so einen Begriff zu finden, was wäre der angemessene Titel für diesen Krieg?
    Münkler: Na ja, gut, also ich habe ja diesen sehr einfachen und nach Hilfe rufenden Begriff "unordentlicher Krieg" gewählt. Es sind in diesem Sinne unordentliche Kriege, weil es keine Regulationsregime gibt, weder solche, die auf einen Ethos der Kämpfer zurückgreifen, die Wehrlose schonen, noch auf ein "ius in bello", also gewissermaßen die Regulation der Gewalt, die Kombattanten gegeneinander üben und – Genfer Konventionen zur Haager Landkriegsordnung dazu genommen – Kriege, in denen Nonkombattanten unter einem bestimmten Schutz stehen. All das ist ja nicht der Fall.
    Also, ich würde das alles gewissermaßen "nicht regulierte, unordentliche Kriege" nennen. Wie lange sie dauern? Vielleicht bekommen sie irgendwann mal auch so einen der typischen Namen, dass man die Kriege nach ihrer Dauer benennt. Das wird man sehen.
    "Wir beschreiben den schlimmsten Fall, um ihn zu vermeiden"
    Main: Wenn ich provozierend formulieren würde "das ist der Große Islamische Krieg", wie reagieren Sie dann?
    Münkler: Dann würde ich zumindest sagen, das kann er werden. Das kann er werden und je länger dieser Krieg dauert, desto größer sind die Chancen dazu, dass er das wird.
    Main: Aber Ihr Ansatz ist ja eben gerade, die verschiedenen Ebenen …
    Münkler: Das zu vermeiden, ja.
    Main: … die verschiedenen Ebenen auseinander zu dividieren, damit es eben nicht so weit kommt.
    Münkler: Genau. Wir beschreiben sozusagen den schlimmsten Fall, um ihn zu vermeiden.
    Main: Herr Münkler, viele Menschen heutzutage blicken nicht mehr durch angesichts der Unübersichtlichkeit dieser Kriege der Gegenwart. Das gilt womöglich auch für den Dreißigjährigen Krieg. Wenn wir jetzt mal zum Schluss versuchen, eine Bilanz zu ziehen, wenn es eine Lehre aus dem Dreißigjährigen Krieg zu ziehen gilt, welche wäre das?
    Münkler: Es ist besser, Politik entlang von Interessen zu machen als bedingungslose Wertungen, denn das ist ja gewissermaßen die religiöse Parteinahme, ins Zentrum zu stellen. Denn entgegen dem, was wir intuitiv im Allgemeinen so meinen, muss man aus sozialwissenschaftlicher Sicht sagen: Interessen sind kompromissfähig, absolute Wertungen nie. Wenn absolute Wertungen aufeinandertreffen, dann wird ein Krieg wirklich auf Leben und Tod ausgefochten.
    Main: Sagen Sie damit, dass Religionsgemeinschaften die Tendenz haben, per se kompromissfeindlich zu sein, weil sie eben etwas Absolutes im Nacken oder über sich haben?
    Münkler: Das ist nicht zwingend so bei Religionsgemeinschaften, wie wir gegenwärtig ja sehr schön sehen können und wie im Gedanken der Ökumene ja auch versucht wird, das Ganze umzusetzen. Aber natürlich haben – ich würde es anders formulieren – Offenbarungsreligionen einen gewissen Absolutheitsanspruch, jedenfalls solange wie gewissermaßen das Feuer der Offenbarung unmittelbar ernstgenommen wird.
    Tauschen statt opfern
    Main: Also, sowohl mit Blick auf den Dreißigjährigen Krieg als auch mit Blick auf das, was sich im Vorderen Orient abspielt: Für religiöse Leidenschaften haben Sie nicht allzu viel Verständnis?
    Münkler: Als Sozialwissenschaftler sollte man für alles Verständnis haben, um ihm auf die Spur zu kommen. Aber ich bin da ein bisschen sozusagen auf "distance", würde allerdings sagen, wenn man den Begriff der politischen Religion, wie ihn Eric Voegelin geprägt hat und andere, dazu nimmt, ist solches Unbedingtheitsdenken auch im Nationalismus und in anderen politischen Wertungen enthalten. Also, immer dann, wo gewissermaßen Bindungen der Unbedingtheit ins Spiel kommen, wird die Sache unerfreulich, weil dann sozusagen die Verständigung – "Okay, wir teilen uns, wir schließen einen Kompromiss" – weil die dann ausgeschlossen ist.
    Main: Es sagen ja heute viele Zeitgenossen: "Das hat nichts mit dem Islam zu tun." Oder mit Blick auf 1618: "Das hat nichts mit Luther und nichts mit dem Papst zu tun." Machen sich also Religionsgemeinschaften manchmal einen schlanken Fuß?
    Münkler: Ja, sicher. Ich meine, sie sind betroffen angesichts dessen, was sie angerichtet haben. Kreuzzüge wäre ein anderes Beispiel, aber auch, wenn Sie so wollen, die islamische Expansion mit Feuer und Schwert im 7., 8. Jahrhundert. Ich würde da gegeneinanderstellen Tausch und Opfer, die Ökonomie, die den Tausch ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt.
    Der Gedanke des Opfers wird klassisch von Religion und Theologie bewirtschaftet. Das kann ein großartiger Gedanke sein im Hinblick auf die Begründung von Solidarität. Es kann aber auch ein furchtbarer Gedanke sein in dem Sinne, dass durch das Selbstopfer – denken wir an die Selbstmordattentäter – ja, religiöses Heil erwirkt und gleichzeitig die politischen Verhältnisse in der Welt verändert werden. Das ist natürlich alles, worauf sich im Prinzip Leute, die gerne Krieg führen wollen, freuen, denn das sind im Prinzip die Sprengsätze, die ihnen zur Verfügung stehen.
    Herfried Münkler: "Der Dreißigjährige Krieg: Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 - 1648"
    Rowohlt Berlin, 976 Seiten, 39,95 Euro
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