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Lehrfilm über Berichterstattung
Wenn Medien Amok laufen

Der Absturz der Germanwings-Maschine in Frankreich, der Amoklauf in Winnenden - es gibt viele Beispiele dafür, was in der Berichterstattung über Krisensituationen falsch laufen kann. Ein Lehrfilm soll Journalisten nun auf die Berichterstattung über Krisen vorbereiten. Eine Lehre: "Sie haben es mit Menschen zu tun!"

Von Susanne Arlt | 20.06.2015
    "Seien sie authentisch. Und seien sie offen, was ihr Interesse betrifft. Das heißt, Sie haben es im Allgemeinen zu tun mit Menschen, die keinerlei Medienerfahrung haben."
    Würden sich Journalisten diesen Appell von Gisela Mayer zu Herzen nehmen, wenn sie über Gewalttaten wie zum Beispiel den Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden informieren, dann würde in der Berichterstattung vermutlich nicht mehr so viel falsch laufen. Damals druckte eine Boulevardzeitung das Foto einer angeblich ermordeten Schülerin. Das 14-jährige Mädchen lebte aber noch, die Journalisten hatten ihren Namen verwechselt. Zu oft gehe es den Medien nach hochexpressiven Gewalttaten nur um Effekthascherei. So empfand es damals Gisela Mayer, die durch den Amoklauf ihre Tochter verlor. In der Berichterstattung ist ihr noch ein zweiter Punkt wichtig. Medienvertreter sollten den Opfern und potenziellen Gesprächspartnern mehr Zeit geben, sie auf keinen Fall direkt nach solch einer Tat mit Fragen bestürmen. Unter Schock ließen sich keine Interviews auf Augenhöhe realisieren, betont Gisela Mayer.
    "Das heißt, kommen sie nicht und sagen sie in drei Minuten, sondern geben sie ihnen Zeit, ein oder zwei konstruktive Gedanken zu fassen und sich auch darüber klar zu werden, erstens möchte ich das? Und wenn ja, was kann ich zulassen, was kann ich erlauben, was kann ich nicht erlauben und was wird mir vielleicht später leidtun."
    Viele Beiträge über den Ablauf, den Täter, seine Motive und mögliche Mittäter, die kurz nach dem Amoklauf veröffentlicht wurden, enthielten damals falsche Angaben, kritisiert der Wissenschaftler Herbert Scheithauer von der FU Berlin. Er koordiniert den internationalen Forschungsverbund "Taget"" dem Psychologen, Kriminologen, Soziologen und Pädagogen angehören. Ihr Ziel ist, Fälle von hochexpressiver und zielgerichteter Gewalt zu analysieren. Unter dem Begriff versteht man nicht nur Amokläufe an Schulen, sondern auch terroristische Anschläge. Scheithauer warnt vor allem davor, sich zu sehr auf die Darstellung des Täters zu fixieren. Viele von ihnen hätten sich von Vorgängern inspirieren lassen.
    "Man sollte nicht den Täter beim Namen nennen. Auch wenn man das rechtlich darf und wenn immer wieder argumentiert wird, es ist eine Person der Zeitgeschichte, ich sehe das anders. Es hat für mich keinen Mehrwert, für niemanden da draußen, der über diese Tat sich hinterher informiert. Auch sollte man nicht über die Motive und Hintergründe des Täters berichten. Das führt gerade zu diesem Effekt, dass einige Täter durch ihre Tat sich ja nach außen hin der Welt zeigen und präsentieren wollten, und man ihnen dann tatsächlich genau diese Bühne gibt, die man ihnen aber bitte nicht geben möchte. Damit erreicht der Täter genau das, was er durch seine Tat erreichen will. Und das finde ich ganz fatal."
    Vorsicht im Umgang mit Material über den Täter
    Auch Frank Urbaniok, Leiter des Psychologisch-Psychiatrischen Dienstes Zürich, mahnt an, sehr vorsichtig mit dem Material über den Täter umzugehen. Bestimmte Posen könnten zu einer Romantisierung und Idealisierung führen. Darum sollte sich Journalisten immer die Kontrollfrage stellen, ob eine bestimmte Geste, ein Bild, ein Statement des Täters gut in einen Propagandafilm über ihn passen könnte. Lautet die Antwort ja, sollte man Abstand von einer Veröffentlichung nehmen. Aber deshalb nicht mehr über die individuellen Gründe eines Täters zu berichten, hält er für falsch.
    "Wir sollten uns da nicht in einen Elfenbeinturm zurückziehen, im Gegenteil. Das ist eine wichtige Funktion. Es braucht Erklärung, es braucht Einordnung, es braucht auch Einordnung deswegen, dass man nicht übertrieben Ängste hat. Dass man es verstehen kann. Und dafür ist auch die fallbezogene, die individuelle Berichterstattung nicht nur wünschenswert, sondern sie ist notwendig aus meiner Sicht."
    So sieht es auch Gisela Mayer. Das Interesse am Täter würde sonst nur weiter beflügelt. Aber es sollten nur relevante Informationen sein, die zur Aufklärung dienen. Und eben nicht Effekthascherei.