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Leichen bekommen wieder Namen

Biologie. - Der Tsunami von Weihnachten 2004 brachte der Menschheit die größte Natur-Katastrophe aller Zeiten. Die Identifizierung der zahllosen Opfer stellte Forensiker vor eine nie dagewesene Herausforderung. Jetzt zogen Experten eine Zwischenbilanz.

Von Michael Lange | 06.06.2006
    Die Kriminalbiologin Kristy Wright ist den Umgang mit Leichen gewohnt. Für die Polizei von Queensland, Australien, hat sie bereits Mordopfer oder Tote nach Verkehrsunfällen und Flugzeugabstürzen identifiziert. Als sie im Frühjahr 2005 nach Thailand kam, war sie dennoch schockiert.

    "Ich war absolut überwältigt vom Ausmaß dieser Tragödie. Niemand in unserem Team hatte jemals etwas Vergleichbares gesehen. Auch wissenschaftlich standen wir vor einer absolut neuen Herausforderung. Keiner hatte je so etwas gemacht. Das stand in keinem Lehrbuch. Ich hatte so eine Situation noch nie erlebt."

    In Phuket hatten Experten vor Ort früh mit der Identifizierung der Opfer begonnen. Zunächst nach Aussehen und äußerlichen Merkmalen, dann über die Zähne der Opfer mit Hilfe von Zahnarzt-Akten. Vor allem bei den umgekommenen Touristen half diese Vorgehensweise weiter. Auch mit Fingerabdrücken konnten die Spezialisten vielen Opfern wieder einen Namen geben, und die Leichen den Angehörigen zur Bestattung übergeben. Am schwierigsten aber war die Identifizierung der Kinder, vor allem der thailändischen. Es fanden sich keine Zahnarztakten, und auch Fingerabdrücke waren kaum zu beschaffen. Deshalb setzte man bei der Identifizierung auf die Australierin Kirsty Wright und ihr DNS-Team.

    "Es war sehr schwer, an DNS-Proben der Kinder heranzukommen. Wir sind zu den Hinterbliebenen gegangen und haben versucht DNS aus den Zahnbürsten, aus Spielzeug oder aus Büchern der Kinder zu gewinnen. Oft hatten die Eltern die Gebrauchsgegenstände aber beseitigt, um nicht dauernd an das Erlebte erinnert zu werden. Oder wir fanden auf den Gegenständen DNS von verschiedenen Kindern. Deshalb versuchten wir, über Verwandtschaftstests die Kinderleichen zu identifizieren. Aber vor allem bei den Einheimischen waren oft ganze Familien vom Tsunami ausgelöscht worden, so dass wir nicht weiter kamen. "

    Weil die Beschaffung der Vergleichsproben so schwierig war, dauerte es Wochen und Monate, bis die Kinder identifiziert werden konnten. Als wichtigste Methode erwies sich der Vergleich verschiedener Opfer-DNS-Proben. So erfuhren die Experten, welche Opfer zusammengehören.

    "Wenn ein Erwachsener identifiziert werden konnte, dessen Kinder noch vermisst wurden – zum Beispiel durch Zahnarzt-Akten oder Fingerabdrücke, dann haben wir einen Knochen aus der Leiche entnommen und sie dann als Vergleichsprobe zur Identifizierung der Kinder verwendet."

    Die Laborarbeit ist dann nur noch Formsache. Es ist die gleiche Technik wie beim genetischen Fingerabdruck oder beim Vaterschaftstest. So gelang es dann, eine Familie nach der anderen zu identifizieren. Das ist für Kirsty Wright eine wichtige Lehre aus diesem Einsatz. Die Vergleichsmethode hätte von Anfang an eingesetzt werden müssen. So hätten viele Angehörige früher Gewissheit erlangen können. Inzwischen ist Kirsty Wright wieder zu Hause in Queensland. Ob sie bei der nächsten Katastrophe wieder dabei sein wird?

    "Manchmal sitze ich da und denke darüber nach. Ich wünsche niemandem die Erfahrungen, die ich gemacht habe. Es war schwer, damit fertig zu werden. Aber als forensische Wissenschaftlerin habe ich einfach die Pflicht, mein Wissen zur Verfügung zu stellen, wenn es gebraucht wird. Gegenüber der Gesellschaft und gegenüber den betroffenen Familien. Wahrscheinlich würde ich wieder hinfahren und helfen, damit die Identifizierung beim nächsten Mal schneller gelingt. "