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Leiden und Leidenschaften

Bei Heinrich von Kleist sind entscheidende Details seiner Biographie unentschlüsselt geblieben. Vieles an seiner Dichtung und seiner Person bleibt rätselhaft. Immerhin sind Ende dieses Jahres gleich zwei Biographien erschienen, die Licht ins Dunkel bringen wollen. Die eine stammt von Jens Bisky, die andere von Gerhard Schulz. Letztere hat sich Martin Lüdke angeschaut.

Von Martin Lüdke | 30.12.2007
    Nehmen wir nur "Penthesilea". Das Stück reizt noch immer. Eine Frau zerfleischt ihren Geliebten. Das ist Kleist, der Selbstmörder, der sich, auch noch gemeinsam mit einer Freundin, umgebracht hat, weil ihm, wie er, ganz "heiter", seiner Schwester schrieb, "auf Erden nicht zu helfen" war.

    Der zweihundertfünfzigste Geburtstag Heinrich von Kleists steht erst in zwanzig Jahren an. Der zweihundertste Todestag, in knapp vier Jahren, 2011. Aber auch ohne Jubiläum, überhaupt ohne jeden besonderen Anlass sind in diesem Jahr gleich vier neue Biographien des Dichters erschienen. Dabei gibt es keine Neuigkeiten. Weder sind spektakuläre Funde, noch irgendwelche Entdeckungen gemacht worden. Über wenige unserer großen Dichter wissen wir so wenig wie über ihn.

    Wir haben das Werk, einige, aber auch nicht viele Briefe, wir haben einige, auch nicht sonderliche viele, dabei widersprüchliche Aussagen von Zeitgenossen. Wir stehen noch immer vor einem Rätsel. Vieles an seiner Dichtung bleibt rätselhaft. Gewalt, Hass, Liebe. Und vieles an seiner Person: wie dieser Wunsch, 1802, in einem Brief an seinen Schwager Wilhelm von Pannwitz, dem Verwalter des Familienbesitzes, geäußert:

    "Ich bitte Gott um den Tod und dich um Geld."

    Seine Stücke gehören nach wie vor zum Standardrepertoire des deutschen Theaters. Seine Novellen, seine Anekdoten werden nach wie vor gelesen, sogar auch, wie jüngst wieder die "Marquise von O…", verfilmt. Und wir hoffen nach wie vor auf die Lösung der Rätsel.
    Sogar sein Geburtstag ist ungeklärt, 10. oder, dem Kirchenbuch folgend, der 18. Oktober 1777? Anders als bei Goethe, bei dem nicht nur jeder Tag, sondern beinahe jede Stunde seines Lebens dokumentiert ist, bleiben bei Kleist viele Lücken. Nicht nur Tage und Wochen, oft verliert sich monatelang seine Spur. Und selbst wenn wir wissen, wo er sich aufgehalten hat, wissen wir oft, wie etwa bei seiner berühmten Reise nach Würzburg, bis heute noch nicht warum. Doch darauf, so pflegt Gerhard Schulz, der Biograph, zu sagen, kommen wir später zurück.

    "Legenden wuchern, wo es an Tatsachen fehlt. Hypothesen gehören zur wissenschaftlichen Arbeit, denn sie sind Netze, und nur der wird fangen, der auswirft, um Novalis zu zitieren. Das freie, unkontrollierte Spiel mit Vermutungen, von denen Kleist Biographien durchsetzt sind, hat damit nichts zu tun."

    Mit leicht triumphierenden Unterton stellt Schulz befriedigt fest, dass solche Unsicherheit nicht mehr für die letzten Tage im Leben des Dichters gilt. Dank der Protokolle sowohl der gerichtlichen wie der medizinischen Untersuchungen des Selbstmords Heinrich von Kleists und seiner Freundin Henriette Vogel sind wir, über den Ablauf der letzten Tage des Dichters genauer informiert als "über jeden anderen Teil seines Lebens".

    Am 20. November 1811 nahmen sich Kleist und Henriette in einem Gasthaus in der Nähe von Potsdam am Kleinen Wannsee zwei Zimmer. Die ganze Nacht seien sie aufgeblieben und umhergegangen. Um vier Uhr morgens hätten sie einen "Caffe" verlangt und um sieben nochmals. Dann schickten sie einen Brief per Boten nach Berlin. Später bestellten sie sich einen Tisch und zwei Stühle ans Ufer des Sees. Lachend, ja regelrecht ausgelassen, seien sie dort herumgetollt. Ihr Sterben sei, behauptet Schulz darum, "undramatisch" verlaufen. Henriette hatte ein Körbchen dabei. Darin befand sich allerdings weder Essen noch Obst, sondern, zur Sicherheit, gleich drei Pistolen. Gegen vier Uhr hörte Frau Riebisch, die von den beiden mit einer leeren Tasse weggeschickt worden war, den ersten Schuss, danach, etwa vierzig Sekunden später, einen zweiten. Man fand sie dort, "Fuß an Fuß", mit Blick auf den Wannsee, sie "liegend", den "Herrn vor ihr sitzend". Man ließ die beiden über Nacht dort draußen liegen.

    Am "nächsten Morgen – es war Freitag, der 22. November – wurden die Toten in das Gasthaus zurückgebracht, auf Tische gelegt, und nun endlich hatten die amtlich bestellten Obduzenten, der Kreis Physicus und Hof Medicus Doctor Sternemann und der Chirurgus forensis Dr. Greiff, ihres Amtes zu walten. ‚Denatus’ (d.h. der Verstorbene) Kleist wurde gemessen, das Offensichtliche festgestellt, aber auch nach Gründen gesucht, wofür das Seziermesser und die Knochensäge freilich nicht die geeignetsten Instrumente waren; an Kleists hartem Schädel zerbrach die ‚Kopf-Säge’ und musste für einen Taler und zwölf Groschen repariert werden.

    Das heißt, vielleicht etwas kühn gedeutet, nicht nur das Leben Kleists bleibt rätselhaft, auch der Tote entzog sich noch dem schnellen Einblick.

    Der große deutsche Literaturkritiker Günter Blöcker, in den sechziger Jahren noch Widerpart Reich-Ranickis, schrieb darum in seiner Studie "Heinrich von Kleist oder das absolute Ich", einer existentialistisch inspirierten Deutung des Werks, dass Kleist den Musterfall eines bis zur Unkenntlichkeit im Werk verglühenden Künstlers darstelle. Außer einer winzigen Miniatur gebe es kein gesichertes Bild. Autobiographische Dokumente, sein "Ideenmagazin" oder die "sagenhafte ‚Geschichte meiner Seele’" seien verloren gegangen. Es habe also seinen Sinn, sagt Blöcker, dass seine "Person ins Anonyme verwiesen wurde, von ihm selbst und von den Umständen. Kleist dichtete aus der Existenz, nicht aus der Biographie."
    Viele der Kleist-Biographien sind an diesem Problem gescheitert. Denn Rückschlüsse aus dem Werk aufs Leben führen vollends in die Irre. Gerhard Schulz setzt sich entschieden von solchen Versuchen ab.

    "Sein dichterisches Werk aber ist nicht für unmittelbare autobiographische Auskunft benutzbar; dessen Besonderheit und Außerordentlichkeit beruht gerade darin, daß es scheinbar ganz unabhängig von seinem Schöpfer existiert. Für die Briefe aber gilt die gleiche Einschränkung (…): Sie sind Produkte bestimmter Situation und nicht nur Selbstausdruck (…), zugleich auf die Eigenarten von Adressaten bezogen."

    "Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leib reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschicken. – Dummer Gedanke," schreibt Kleist der Schwester Ulrike. Und weiter: "Wie soll ich es möglich machen, in einem Briefe so etwas Zartes, als ein Gedanke ist, auszuprägen? Ja, wenn man Thränen schreiben könnte."

    Aus dieser Not macht der Biograph eine Tugend. Schulz, ein emeritierter Germanist der Universität von Melbourne, Australien, und Verfasser eines Standardwerks der deutschen Literaturgeschichte von 1789 bis 1830, in zwei dicken Bänden ebenfalls im Münchner Beck-Verlag erschienen, setzt den, wie er wörtlich sagt, "schwierigen Menschen" Kleist in den Horizont der Zeit. Und da kennt sich der Autor aus. Parallel zur Lebensgeschichte entfaltet Schulz die Zeitgeschichte, den Aufstieg Napoleons, die Napoleonischen Kriege, die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen, Preußens Niederlage und die Ansätze zur Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft. Kurzum: Krisensymptome.

    Heinrich von Kleist wurde im Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder in eine der bekanntesten preußischen Familien hineingeboren. Zeitlebens hatte Kleist unmittelbaren Zugang zum preußischen Herrscherhaus, geholfen hat es ihm wenig.

    1788 starb sein Vater, ein preußischer Major. Und nur fünf Jahre später, 1793, die Mutter. Sieben zum Teil noch kleine Kinder waren Vollwaisen geworden. Doch seit Juni 1792 war Heinrich von Kleist bereits Soldat. Weil er an der Beerdigung seiner Mutter teilgenommen hatte, musste der "Korporal" vom Garderegiment des Königs in Potsdam seiner Truppe nach Frankfurt am Main nachreisen, in den Krieg, unter anderem zur Belagerung von Mainz.

    Nach drei Jahren Krieg kehrte er nach Potsdam zurück und bat um Entlassung aus dem Militärdienst. Aber erst allmählich schälen sich seine wirklichen Interessen heraus. Er beginnt zu studieren, bricht das Studium aber schon bald wieder ab. Im Frühjahr 1800 verlobt er sich mit Wilhelmine von Zenge, der Tochter einer Nachbarsfamilie in Frankfurt an der Oder.
    Eine Hochzeit liegt in weiter Ferne, weil nicht abzusehen ist, wann Kleist einmal über die Mittel verfügen sollte, eine Familie zu ernähren. Sein Leben lang plagen ihn materielle Sorgen.
    Im Sommer des Jahres 1800 plant Kleist mit seinem Freund Ludwig von Brockes eine Reise aus Berlin über Dresden nach Wien. In Dresden ändern sie ihr Reiseziel und fahren für sechs Wochen nach Würzburg. Warum? Darüber rätselt die Kleist-Forschung von Anbeginn an.
    Den "Zweck" der Reise erläutert Kleist seiner Schwester Ulrike, die er auch um finanzielle Unterstützung bittet, in einem Brief:

    "Ein Risiko sei nicht dabei, nichts könne verloren gehen, ‚doch alles dabei gewonnen’ und das Glück, die Ehre, u vielleicht das Leben eines Menschen gerettet werden’ – in der Tat recht große, aber verschleiernde Worte an jemanden, der sich sorgen muß, daß der Bruder wohl selbst dieser Mensch sein könnte und die Sache an die Wurzeln seiner Existenz gehen werde."

    Sein Biograph kommentiert diese etwas mysteriöse Erklärung:

    Moralisch rechtfertigte sich Kleist zunächst mehr vor sich selbst als vor der Schwester. "Und ich – ich schwieg, ihr Herrn; ich log, ich weiß, / Doch log ich anders nicht, ich schwör’s, als schweigend" – wird Eve im "Zerbrochenen Krug" später sagen.

    Wunderliche Spekulationen hat diese Reise ausgelöst. Unklar bleibt bis heute, ob es überhaupt einen Grund für die Heimlichkeiten gab. Was aber auch immer die Absichten gewesen sein mögen, behauptet nun Schulz, durch die Reise und vielleicht "noch ohne bewusste literarische Ambitionen" sei Kleist "zum Erzähler" geworden.
    Und, nebenbei, eines der eindrucksvollsten Bilder seiner Dichtung hat er aus Würzburg bezogen. Er schreibt seiner Verlobten:

    "Ich gieng an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. (…) in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen, und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost".

    Im Drama von der verliebten Amazonenkönigin Penthesilea wird das Bild wiederkehren.

    In Anlehnung an den englischen Komponisten Edward Elgar nennt Schulz seine Darstellung der Würzburger-Reise-Rätsel "Enigma-Variationen". Fast spielerisch entfaltet er das Thema und die, von der Kleist-Forschung produzierten, Variationen, aus denen wir das Motiv ableiten können:
    "Geheimnisse pflegen den menschlichen Geist anzuregen, aber wo die Tatsachen fehlen, blühen die Spekulationen. Was also hatte es auf sich mit jener in Mysterien gehüllten Reise (…)?
    1. Variation (Allegro appassionato)
    In seinen Unterhaltungen über den Menschen beschreibt Kleists geschätzter Frankfurter Lehrer Christian Ernst Wünsch auch das männliche Glied, das ‚der Schöpfer’ mit ‚jener gemeinschaftlichen häutigen Hülle’ überzogen habe, ‚die den ganzen Leib umgiebt.’"

    Wenn diese Haut etwas eng geraten ist, spricht der Mediziner von einer "Phimose", der er mit einem Messer zu Leibe rückt. Das, also den entsprechenden chirurgischen Eingriff, vermuten einige Kleist-Forscher als Zweck der Würzburger Reise.

    Andere Spekulanten, Variation 2, gehen aufs Ganze und nehmen gar eine generelle Impotenz an, aber auch die Sprachhemmungen, unter denen Kleist gelegentlich litt, werden angeführt, wogegen der "tierische Magnetismus", also eine Mesmer’sche Magnetkur als Heilmittel dienen sollte, eine Frühform der Elektro-Schocks.

    Weiter wird vermutet, Variation 3, dass die Fraumaurer dahinter stehen könnten, oder, wie Kleist’s Schwester Ulrike angedeutet hatte, sogar, Variation 4, politische Gründe, Spionage. Denn als Spion wird Kleist später in Frankreich inhaftiert werden.
    Wie auch immer. An all diesen Spekulationen, von denen es in der Kleist-Forschung nur so wimmelt, lässt sich, wie Gerhard Schulz zeigt, vor allem die Beständigkeit des Rätsels ablesen.

    Schulzes Biographie, kenntnisreich im Detail, eher zurückhaltend im Ton und auch vorsichtig in der Deutung, mag auf Anhieb etwas enttäuschend wirken. Wer eine Kleistbiographie liest, will gewiss die Rätsel gelöst sehen, die das Leben und das Werk dieses Dichters bietet. Nur wenn man sich ansieht, was da seit hundertfünfzig Jahren alles an Unsinn verzapft worden ist, wie phantasievoll die Lücken, die der Autor ließ, von seinen Biographen geschlossen worden sind, der muss Schulze dafür danken, dass er sich konsequent der Entschlüsselung des Lebens durch das Werk, ja selbst der Deutung der Briefe als wirklichkeitsgetreue Dokumente enthalten und uns Kleist als rätselhafte Gestalt erhalten hat.

    Genau das betont auch Christoph Martin Wieland, auf dessen Gut in "Osmannstädt" bei Weimar Kleist einige Zeit verbracht hat: "etwas Räthselhaftes und Geheimnißvolles" sei diesem Tischgefährten eigen, etwas "das tiefer zu liegen schien, als daß ich es für Affectation halten konnte". "Er schien mich wie ein Sohn zu lieben und zu ehren, aber zu einem offenen und vertraulichen Benehmen war er nicht zu bringen. Unter mehreren Sonderlichkeiten (…) war eine seltsame Art der Zerstreuung (…) und eine noch fatalere, weil sie zuweilen an Verrücktheit zu grenzen schien, war die, daß er bei Tische sehr häufig etwas zwischen den Zähnen mit sich selbst murmelte. (…) Er musste mir endlich gestehen, dass er in solchen Augenblicken mit seinem Drama zu schaffen hatte (…)". "An einem glücklichen Nachmittag" kam "die glückliche Stunde", in der sich bereit fand, mir "einige der wesentlichsten Scenen aus dem Gedächtniß vorzudeclamiren. Ich gestehe Ihnen, daß ich erstaunt war und ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich Sie versichere: Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakspear sich vereinigten eine Tragödie zu schaffen, so würde das seyn was Kleists ‚Tod Guiscards, des Normanns’, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ."

    Wieland stellt – "nach meiner Meinung wenigstens", wie er sagt – Kleist noch über Goethe
    und Schiller. Eine überraschende Wertung. Gerhard Schulz bietet dafür, in kurzen, aber immer luziden Deutungen des Werkes gute Begründungen.

    Für Kleist wurde, so Schulz, das Werk zu einer "eigenen Lebensform", in der er all die "Sinnlichkeit, Zärtlichkeit und auch Liebe" ausdrücken konnte, zu der er fähig war. Das Lustspiel "Amphitryon" spielt nicht nur mit Verwechselungen und Identitäten, sondern zeigt zugleich, weit tiefer, die ewige Spannung endlichen Lebens und einer grenzenlosen, göttlichen Liebe.

    Amphitryon, siegreich aus der Schlacht nach Hause zu seiner Frau Alkmene zurückgekehrt, wird Opfer eines göttlichen Betrugs. Jupiter, der Göttervater, hat sich in seiner Gestalt in das Bett Alkmenes geschlichen. Dazu Schulz:

    "Der Kuß auf den Nacken ist die Erinnerung Alkmenes an die Begegnung mit dem Gotte in der gestalt Amphitryons, die den Ehemann freilich, dem sie das sagt, in tiefste Verwirrung stürzen muß: In fundamentale existentielle Zweifel führt es, wenn eine Frau den Mann, den sie liebt, in doppelter Gestalt erscheinen sieht, als Gott und als Ehegatten. Denn wie lässt sich göttliche, weil unendliche und nicht begrenzbare Erfahrung der Liebe mit der Wirklichkeit versöhnen. (…) Das Ergebnis kann nur der Weg an den Rand der Tragödie sein, denn Gott und Gatte bleiben zwei verschiedene Personen. Weder kommt Amphitryon um die Tatsache herum, daß ein anderer seiner Frau beigelegen und einen Sohn gezeugt hat, noch findet Jupiter seinen Trost in der genussvollen Nacht, die er verbracht hat, weil die Frau ihren Ehemann umarmt zu haben glaubt. (…)
    Dem Gotte aber versagt sich Alkmene, denn nur den Ehemann liebt sie in ihm; der allerdings erscheint ihr in Jupiter – wie könnte es anders sein – göttlich."

    Schulz vertritt die These: Was immer auch Kleist zu erzählen hat, es sind Geschichten, die aus ihm selbst kommen, das sei das Bedeutsame darin und zugleich auch das Beunruhigende daran. Aus dem historischen Verbürgten und dem geographisch lokalisierten führten diese Geschichten "in seelische Unterwelten", wo "Leiden und Leidenschaften" herrschten, Macht, Gewalt, Gier, Angst, Verzweiflung, Irrsinn. Aus Menschen werden Monster. Kleist entwerfe ein ganzes Panorama des Bösen. Hoffnung setze er nur wenig dagegen.

    "Kohlhaas akzeptiert den Tod als gerechte Strafe, was ihm zum Lobe gereicht und den Söhnen zum erblichen Adelstand verhilft; Friedrich von Trotha überlebt das Gottesgericht eines Zweikampfs, wenngleich arg zugerichtet, und die Marquise von O… arrangiert sich mit der Wirklichkeit eines Mannes, der, wenn er schon kein Engel war, nun wenigstens auch kein Teufel mehr zu sein scheint."

    Die Ordnung, die nun – "dennoch" – über allem waltet, ist die Ordnung von Kleist Sprache. Der Satzbau mag schwierig erscheinen. Doch müsse man nur laut lesen, um diese Ordnung zu erkennen, die "wohlgeordnete dramatische Steigerung". Eine sprachliches Netzwerk zieht sich über sein gesamte Dichtung. Nicht nur seine Novellen und seine Anekdoten sind, "dergestalt daß", an seiner Sprache zu erkennen und an dem, was Günter Blöcker "Dichtung aus der Existenz" nannte.
    In diesem umfangreichen, über sechshundert Seiten dicken Buch zieht eine "schwierige Person" an uns vorüber. Wir sehen sie in ihrer Zeit, die eine Zeit der Krisen und des Umbruchs war. Die Französische Revolution mit ihren unmittelbaren Folgen war ja selbst Ausdruck der Modernisierung unserer Gesellschaft. Preußen, der Militärstaat, war davon besonders betroffen.

    Oft möchte man glauben, dass Heinrich von Kleist diesen Prozess gleichsam am eigenen Leib erfahren und durch seine unglaubliche Sprachkraft in unglaublichen Bildern seiner unglaublichen Sprache dargestellt hat, bis hin zu den Exzessen der Gewalt und des Hasses in der "Hermannsschlacht".
    "’Am Morgen meines Todes’ schrieb Kleist dann auch der Schwester, die ihn durch sein Leben und insbesondere durch dessen schwerste Phasen helfend und schützend begleitet hatte: ‚Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allem Anderen, meine theuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben.’
    Aber ‚wirklich, du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl"
    Gerhard Schulz: "Kleist. Eine Biographie", Verlag C.H. Beck, München 2007, 607 Seiten, 26,90 Euro