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Leipziger Buchpreis 2020
Preis für Europäische Verständigung an László Földényi

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 wird dem ungarischen Essayisten, Kunsttheoretiker, Übersetzer und Literaturkritiker László Földényi verliehen für sein Buch „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“.

Von Jan Drees und Miriam Zeh | 05.12.2019
Der ungarische Künstler László Földényi schaut ernst in die Kamera.
Essayist, Kunsttheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer: László Földényi (imago / gezett)
"Ein verstörendes, wenig segenreiches Phänomen unserer Zeit ist das des 'Checkertums', die Haltung des stets durchblickenden, aktionsbereiten Machers. Der Checker weiß genau, wie’s geht, ob in puncto Migrationspolitik und Grenzbefestigung, Klima, Handelsabkommen, Minderheiten. Nie ist er um eine Antwort verlegen, Grübeln ist verpönt, Kompromisse schließen heißt Kapitulation. Und doch verbirgt sich hinter diesem Aktionsdiktat oftmals eine hässliche Leere, in die mit gefährlicher Konsequenz ein ideologischer Absolutismus zu schießen vermag, ein Denken, das wenig Raum für Anderes, kaum Platz für Andere lässt."
Die Verwehrung schneller Antworten
Mit diesen Worten begründet die Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung die Vergabe an den ungarischen Essayisten, Kunsttheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer László Földényi. Sein Buch "Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften" beschreibt in einem feinen Gewebe von Essays eine vieldeutige Stimmung und verwehrt sich schnellen Antworten. Es erschien im April 2019 bei Matthes und Seitz Berlin. Akos Doma hat das Werk aus dem Ungarischen übersetzt.
"László Földényi ist für mich einer der wichtigsten – oder vielleicht der wichtigste – ungarische Intellektuelle und das schon seit vielen Jahrzehnten", sagt Matthes & Seitz-Verleger Andreas Rötzer im Gespräch mit Büchermarkt-Moderatorin Miriam Zeh, "er kam zum Verlag Matthes & Seitz zunächst in München, schon in den 80-er Jahren, mit einem Buch über die Melancholie. Daher kenne ich ihn, seitdem ich den Verlag kenne. Damals wurde er verlegt von Axel Matthes. Es war natürlich ein Geschenk, ihn auch im Berliner Verlag als Autor zu behalten. Er ist jemand, der tief verwurzelt ist in der deutschen Kultur und in der deutschen Romantik und tief in der europäischen Bildungstradition. Er ist der ungarische Herausgeber der Kleist-Gesamtausgabe.
László Földényi - "Er untersucht Fragen in einem übergeordneten Sinn."
Földényi sei eine Art Universalgenie, der sich souverän zwischen den verschiedenen Kunstgattungen bewege, sagt sein Übersetzer Akos Doma. Seit mehr als zwanzig Jahren hat Doma fast jedes Buch seines Landsmannes übersetzt und ist beeindruckt von seinem großen Wissensschatz. Die Melancholie sei ein zentrales Thema bei László Földényi. Im ausgezeichneten Werk beschäftige er sich vor allem mit der Frage, "was an der Melancholie unmodern sei und dennoch wichtig." Die Melancholie sei auch eng mit unserer eigenen Vergänglichkeit, dem Tod, verknüpft.
Da sieht man schon seine tiefe Verbindung zur deutschen Kultur. Seine Themen sind eigentlich immer die dunkle Seite der Rationalität und die dunkle Seite der Vernunft und des Lebens. So untersucht er auch eine Welt, die immer stärker durchorganisiert ist, die immer stärker geplant ist. Er versucht, die Möglichkeiten zu beschreiben, wieder in eine Art spontanes Leben zu gelangen. Die Melancholie ist ein Ausdruck für ein anderes Leben, das sich in der Suche nach Gewissheit, und nicht in der Gewissheit selbst verortet."
Melancholie vs. Depression
Miriam Zeh hat an dieser Stelle gefragt. "Allein der Begriff der Melancholie erscheint heute beinahe unzeitgemäß. Mit dem Sanguiniker, dem Phlegmatiker und dem Choleriker bildet der Melancholiker das antike Quartett der Temperamente. Földényi thematisiert in seinem ‚Lob der Melancholie’ aber auch das bekanntesten Gemälde zum Thema: Dürers ‚Melencolia I’ von 1514. Heute würde man anstatt eines melancholischen Gemüts aber wahrscheinlich eher von einer Depression sprechen und von einem chemischen Ungleichgewicht im Gehirn. Was fasziniert Földényi so an diesem unzeitgemäßen Melancholie-Begriff?"
Dazu Andreas Rötzer: "Weil László Földényi den Transzendenzbegriff und den Begriff der Seele vielleicht nie aufgegeben hat, und daher in der Melancholie etwas findet, das zwar eine Form von Traurigkeit ist, aber eine Traurigkeit, die gleichzeitig glücklich macht, weil sie ein Ziel, oder etwas über das Diesseitige Hinausgehende erkennt. Da unterscheidet sich die Melancholie ganz stark von der Depression. Und diese Geisteshaltung führt dazu, dass man in eine suchende Haltung zur Welt gelangt, in eine, die nicht von Gewissheit schon erfüllt ist. Dadurch, glaube ich, kommen wir über die Melancholie einen viel zärtlicheren und zarteren Umgang mit unserer Umwelt. Das feiert, oder das lobt László Földényi in seinem Buch."
Beglückend unzeitgemäße Volte
Die Preisverleihung an László Földényi findet zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am Abend des 11. März 2020 im Gewandhaus zu Leipzig statt. Die Laudatio hält der Publizist und Leiter des Zeit-Feuilletons Adam Soboczynski. Der Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2020 gehören an: Dr. Skadi Jennicke (Bürgermeisterin für Kultur der Stadt Leipzig), Michael Krüger (Autor, Verleger, Übersetzer, München), Johannes Riis (Verleger, Kopenhagen), Elisabeth Ruge (Autorin, Verlegerin, Literaturagentin, Berlin), Daniela Strigl (Essayistin, Kritikerin, Dozentin, Wien).
In der Begründung der Jury heißt es weiter: "In einer beglückend unzeitgemäßen Volte hat László Földényi sich der Melancholie verschrieben. Er hat sie über Jahrzehnte in großen geistesgeschichtlichen Studien erforscht und sie uns dabei in einer wunderbaren Paradoxie als produktiven Zustand offenbart, als zutiefst lebensbejahende Haltung. Der melancholische Mensch kapituliert nicht, er hält den Blick auf das Unlösbare gerichtet und bringt so den ewigen Kern unserer Existenz zur Anschauung, das zutiefst Widersprüchliche. Es ist der Blick auf das Leben als 'hauchdünne Membran', als durchlässige Umgrenzung, nicht Bollwerk. Durchlässig auch für Zivilisation und Barbarei. In Földényis ungemein anregendem, reichem Werk offenbart sich die Welt als fortwährendes Rätsel, das Hinwendung und Aufmerksamkeit verlangt. Und in eben dieser Aufforderung zur beharrlichen schöpferischen Anteilnahme – auch wenn sie keine Lösungen verspricht – liegt der mögliche zarte Triumph des Lebendigen."
Eine der wichtigsten Literaturauszeichnungen in Deutschland
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, seit 1994 jährlich vergeben und mit 20.000 Euro dotiert, zählt zu den wichtigsten Literaturauszeichnungen in Deutschland. Das Preiskuratorium bilden der Freistaat Sachsen, die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. und die Leipziger Messe. Kooperationspartner ist die Bundeszentrale für politische Bildung.
Dieser Beitrag wird fortlaufend aktualisiert. Die Deutschlandfunk-Sendung "Büchermarkt" spricht ab 16:10 mit Andreas Rötzer, dem Verleger von Matthes & Seitz, "Kultur heute" sendet ab 17:35 ein Gespräch mit dem Übersetzer Akos Doma.