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Leipziger Schule
Unterwegs in der Illustratoren-Szene der Buchstadt

Die Hochschule für Grafik und Buchkunst ist eine der ältesten staatlichen Kunsthochschulen in Deutschland. An der HGB waren es die Maler, die Made in Leipzig zum Kunstlabel machten. Und inzwischen gibt es auch so etwas wie eine Leipziger Schule der Zeichner für Kinderbücher.

Von Nils Kahlefendt | 12.03.2016
    Die 1764 gegründete Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB)
    Die 1764 gegründete Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) (picture alliance/dpa/Peter Endig)
    Die Stimmung ist gelöst, und doch liegt ein Hauch konzentrierter Prüfungsatmosphäre in dem hohen Raum im Westflügel der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Manöverkritik: In der Fachklasse Illustration präsentieren die Studierenden ihre Arbeiten fürs aktuelle Semesterprojekt. Die Aufgabe: Eine Künstlerpersönlichkeit soll erfunden, aus ihrem Leben erzählt werden - so lebendig, dass sich ihre Existenz glaubhaft vermittelt. Ein gezeichneter Fake in frei wählbarer Form.
    Thomas Matthäus Müller, der die Fachklasse seit 2007 leitet, verfolgt die Diskussion seiner Schützlinge größtenteils stumm. In Wendezeiten studierte er selbst an der HGB, die damals vor allem für ihre Malerei bekannt war. Die Protagonisten der sogenannten Leipziger Schule, Professoren wie Heisig, Tübke, Mattheuer und Arno Rink, die in ihren Werken Gesellschaftsanalyse mit hohem handwerklichen Können verbanden und doch weit vom offiziell eingeforderten "Sozialistischen Realismus" operierten, wurden zu Anregern einer ganzen Generation. Die Malerei galt bis in die späten Achtziger als Aushängeschild der Schule. Doch mit ihr hatte Thomas Müller nichts am Hut. Sein "Rollenmodell" war der eigene Vater: Der Grafikdesigner und Illustrator Rolf Felix Müller, der von 1985 bis 1997 ebenfalls an der HGB lehrte und in den Fünfzigern hier ausgebildet wurde. Mit starken Lehrerpersönlichkeiten wie Albert Kapr versuchte der Fachbereich Buchkunst damals, an die Blütezeit Leipziger Buchgestaltung in den 1920er-Jahren anzuknüpfen. Rolf Felix Müller hat diese Einflüsse wie ein Schwamm aufgesogen; mit seinem breit gefächerten Schaffen gehörte er zu den Wegbereitern der "Gebrauchsgrafik", wie das Grafik-Design in der DDR genannt wurde. Er entwarf Theaterplakate, illustrierte Bücher, gestaltete Umschläge, zeichnete Karikaturen und Cartoons. Während Müller Senior Jahr für Jahr den Leipziger Messestand des Eulenspiegel Verlags gestaltete, blickte ihm der Sohn neugierig über die Schulter.
    "Ich habe Illustration immer als etwas weiter gefassten Begriff betrachtet. Und stehe dazu nach wie vor. Ich glaube, es ist das Bild, das für konkrete Zusammenhänge gemacht ist. Oder in konkreten Zusammenhängen steht. In unserer Klasse herrscht die Zeichnung vor - das ist für mich immer noch das geeignete Werkzeug. Egal, wie Zeichnungen zustande kommen. Aber für mich ist nicht unbedingt Illustration im engeren Sinne gleichbedeutend mit Arbeiten für Kinderbücher. Es wird natürlich landläufig so gesehen - und es missfällt mir sehr stark, diese Einengung."
    Wie schon sein Vater setzt auch Thomas Müller auf die Vielfalt des Schönen. Wenn er sich im Metier der Kinderbuchillustration als "Zaungast" bezeichne, klingt das gleichwohl ein wenig nach Understatement. In seinem Büro füllen ausgewählte Preziosen mehrere Regalmeter; er selbst ist Schöpfer wunderbarer Bilderbücher für Verlage wie Macmillan, Beltz & Gelberg oder Moritz. Müller hat gelernt, mit den unterschiedlichen Erwartungen von Verlegern umzugehen; er weiß, dass der Spagat zwischen Künstler und Dienstleister nicht immer spielerisch leicht zu bewältigen ist. Und er tut sich schwer, die eigene Klasse gezielt in diese Richtung zu locken. Will er seine Studenten am Ende vor den Zumutungen des hart umkämpften Kinder- und Jugendbuchmarkts schützen?
    "Wenn man angewandt arbeitet - und das machen wir ja - dann muss man auch einen Sinn für Erwartungen entwickeln, die von außen kommen. Und die man mit den eigenen Erwartungen, oder mit den eigenen Wünschen, versuchen muss, unter einen Hut zu bringen. Wir sind Kinder zweier Welten: Sind unseren eigenen Maßstäben verpflichtet - aber natürlich auch denjenigen zugetan, die zu uns kommen und was von uns wollen. Und die haben auch etwas zu sagen! Das muss man kennenlernen. Ich glaube aber, dass die Aufgabe des Lehrers zunächst erst mal ist, das Feuer zu entfachen. Und das richtig zu einem Glutbett entstehen zu lassen. Und was daran dann für Würste gegrillt werden, das wird sich später herausstellen."
    Klett: Goldrichtig in Leipzig
    Der kleine Klett-Kinderbuchverlag, 2008 als Ableger des Stuttgarter Klett Konzerns gegründet, residiert im Seitenflügel einer Gründerzeitvilla im Leipziger Süden. Die Entscheidung für Leipzig fiel innerhalb von fünf Minuten. Dass sie damit goldrichtig lag, wurde Verlegerin Monika Osberghaus erst nach ihrer Ankunft klar. "Also, eigentlich die HGB - das war quasi ein Pool für mich, für die ersten Programme. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, wie das wirklich zustande kam. Ich glaub', die haben sich bei mir gemeldet. Und zum Teil habe ich aber auch im Netz nach denen gesucht und mich speziell auf die gestürzt, wenn ich gesehen habe, dass die aus Leipzig kommen."
    Osberghaus lernt nicht nur die Nähe zu den Illustratoren-Schmieden schätzen: Neben der HGB ist das vor allem die Burg Giebichenstein Kunsthochschule im benachbarten Halle, an der neben Design auch Buchkunst und Grafik gelehrt wird. In der ehemaligen Buchstadt Leipzig, die zuletzt eher mit Verlagsschließungen von sich reden machte, wird Osberghaus mit offenen Armen empfangen. In einer Kinderbuchlandschaft, in der immer noch Mauerreste zwischen Ost und West bestehen, schadet der Austausch nicht. Dass das Klett-Kinderbuch-Programm heute nicht mehr von den Künstlerinnen aus dem HGB-Umfeld dominiert wird, hat eher mit dem Markt als mit dem kreativen Potenzial Leipzigs zu tun.
    "Ich glaube, ich musste lernen. Ich will gerne aufregende Bilder in unseren Büchern haben und es darf auf keinen Fall so süßlich, niedlich, gefällig sein. Es muss seine eigene, bisschen kantige Handschrift haben. Aber andererseits muss es auch schon so sein, dass es überwiegend doch auch woanders gut gefällt. Von Kindern reden wir gar nicht, weil die viel aufnehmen können, weil die am besten auch mit neuen, aufregenden Bildern klarkommen. Aber die Mütter, die Tanten, die Omas - die Käufer der Bücher, denen muss es gefallen. Und das war mit den etwas wilderen Sachen, die so von der HGB und so kamen, dann nicht immer der Fall - und dann musste ich mich ein bisschen orientieren. Aber das heißt nicht, dass ich's nicht immer wieder gern versuchen würde."
    Die Schule von Volker Pfüller
    Sucht man so etwas wie das Gravitationszentrum nicht nur der Leipziger, sondern der deutschen Nachwende-Illustratoren-Szene, landet man ziemlich folgerichtig bei Volker Pfüller. Als der 1939 geborene Bühnenbildner und Grafiker 1997 die Leipziger Illustrationsklasse übernahm, war das ein Glücksfall für die HGB. In bibliophilen Unternehmungen wie Armin Abmeiers "Tollen Heften" oder den "Graphischen Büchern" des Verlags Faber & Faber hatte Pfüller schon seit Anfang der 1990er-Jahre mit alten druckgrafischen Techniken wie der Offsetlithografie experimentiert. In den gut ausgestatteten Werkstätten der Hochschule konnte er seinen Studenten die Liebe zu den traditionellen Techniken vermitteln, ohne dabei die Gegenwart aus den Augen zu lassen.
    "Ich denke, dass Zeichnen eine sehr unmittelbare Äußerung ist, so wie ein Schriftsteller sich auch sehr unmittelbar äußert. Und dass das auch eigentlich durch nichts zu ersetzen ist. Und ich habe praktisch erstens mal alles, was technisch damit zusammenhängt, versucht zu vermitteln. In der Weise, wie ich's für modern hielt. Und habe auch versucht zu vermitteln, wie man bei sich selber sozusagen Aktivitäten erzeugen kann. Dass man sich selber kennenlernt und dass man aus sich selber heraus schöpfen kann!"
    Damit hat Pfüller in Leipzig Schule gemacht, und das im Wortsinn: In den folgenden zehn Jahren bildete er eine ganze Riege von Illustratoren aus, die seine herbe, in Farbe und Form expressive, an der Avantgarde der 20er-Jahre geschulte Art des Erzählens aufnahm und weiterentwickelte. Was sie eint, ist bildnerischer Gestaltungswille und sicheres Gespür für Breitenwirkung - ohne Kompromisse an Gefälligkeit einzugehen. Nicht wenige sind - wie Henning Wagenbreth in Berlin, Anke Feuchtenberger in Hamburg, ATAK in Halle oder sein Nachfolger Thomas Müller - heute selbst Professoren. "Meine Familie" nennt Pfüller unsentimental all jene, die auf seinen Schultern stehen. Eine Gruppe, die, wie Andreas Platthaus zu Pfüllers 70. Geburtstag schrieb, "mit mehr Recht als die Maler den Beinamen 'Leipziger Schule' tragen sollte". Doch um Stil ist es Pfüller nie gegangen. Sein Pfund war das Insistieren auf Qualität, die Förderung individueller Ausdruckskraft.
    "Das habe ich schon in Berlin gemerkt: Dass viele junge Leute mit sich selbst gar nicht befreundet sind in dem Sinne. Dass man weiß, wer man ist. Und was man wirklich für Qualitäten hat. Und was man für Schwächen hat und dergleichen. Das ist für mich keine Stil-Frage. In dem Sinn habe ich das auch nicht angestrebt, dass also eine 'Volker-Pfüller-Schule' entsteht. Aber was das Denken und die Auffassung betrifft, denke ich schon, dass ich in Leipzig da ein paar Spuren hinterlassen habe."
    Fünf Freude für Gerda Raidt
    Gerda Raidt gehört zum ersten HGB-Jahrgang, den Volker Pfüller komplett betreute. 1975 in Berlin geboren, studierte Raidt zunächst freie Grafik an der Burg Giebichenstein in Halle. 1998 wechselte sie nach Leipzig. "Ich hab' mich ja praktisch mit meinen Halle-Arbeiten bei ihm beworben und wurde ernst genommen. Das fand ich toll. Und dann, an so einer Kunsthochschule: Man lernt sehen! Man lernt, Probleme in Bildern zu erkennen und das auch aussprechen zu können. Und genau diesen Knackpunkt zu finden, was da jetzt nicht stimmt und was einen daran stört."
    Wie viele ihrer Kommilitonen absolviert Raidt nach dem Diplom noch ein zweijähriges Meisterschüler-Studium - ein Aufschub im kuschligen Hochschul-Biotop. "Die Zeit danach war erst mal schwer. Ich würde sagen, das war sogar eine der schwersten Zeiten so im Leben, so'n krasser Sprung. Und dadurch, dass es so langsam ging bei mir - also, es hat wirklich Jahre gedauert, bis ich da wirtschaftlich auch auf die Füße gekommen bin, dass ich davon leben konnte. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir das jemand gesagt hätte, dass ich Angst haben müsste vor der Außenwelt. Aber irgendwie war's so, dass man das hatte. Man hatte auch Angst, dass man sich irgendwie verbiegen muss. Aber meine Erfahrungen waren dann irgendwie anders."
    Die großformatigen, expressiven Zeichnungen ihrer HGB-Abschlussarbeit lassen noch deutlich den Lehrer durchscheinen. "Matrosentango", ein Bilderbuch nach Texten deutscher Seemannslieder, erhält eine lobende Anerkennung im Wettbewerb um die "Schönsten deutschen Bücher". Die Wende-Geschichte "Fritzi war dabei", die sie für Klett Kinderbuch illustriert, zeigt ihre hohe zeichnerische Qualität und die Fähigkeit, vergangene Lebenswelten präzise einzufangen - von den rußgeschwärzten, maroden Häuserfassaden bis zum Schein der Montagsdemo-Kerzen. Petra Albers, Programmleiterin bei Beltz & Gelberg, wird auf Raidts Vorliebe für historische Stoffe aufmerksam und ermuntert sie zu eigenen Projekten. "In die neue Welt", eine Bilder-Reise durch 200 Jahre Auswanderer-Geschichte, zeigt sie auf der Höhe ihrer Kunst: Wunderbar leichthändig und doch akribisch genau werden Moden und Dekors auf Doppelseiten und Detailzeichnungen ins Bild gesetzt. Fähigkeiten, die Raidt auch beim Relaunch der Kinderbuch-Reihe "Fünf Freunde" von Enid Blyton entgegenkommen. Cover und maßgeschneiderte Illustrationen für 22 Bände; ein Fünfer im Lotto.
    "Man könnte ja eine viel, wie soll ich sagen, kämpferischere Haltung einnehmen. Und sagen: Wir müssen hier für das gute Kinderbuch eine Lanze brechen, wir müssen gute Beispiele geben und so weiter. Da kann etwas dran sein. Ich hab' allerdings ein bisschen das Gefühl, dass das auch ein Kampf gegen Windmühlenflügel ist."
    Umweg Frankreich
    Ein wenig neidvoll schaut Thomas Müller nach Frankreich, wo in Sachen Illustration größere Durchlässigkeit herrscht, weniger in Sparten gedacht wird. HGB-Absolventinnen wie Katrin Stangl, auch sie eine Pfüller-Schülerin, gingen den Umweg über das Nachbarland, um ihre ersten Bilderbücher zu realisieren. Die in Lissabon preisgekrönte Abschlussarbeit von Müllers Schülerin Johanna Benz, eine wunderbare Hommage an die Akkordeon-Legende "Pacho" Rada, ein Fest der Farben und Klänge, ist im Leipziger Institut für Buchkunst erschienen. Deutsche Kinderbuch-Verleger winkten ab. Dabei sollte sich herumgesprochen haben, dass scheinbar "ausgefallene" Titel durchaus auch wirtschaftlich interessant sein können. So zählt Katrin Stangls "Stark wie ein Bär", im Rahmen des Troisdorfer Bilderbuchstipendiums entstanden, beim Hamburger Aladin Verlag zu den Titeln mit den meisten Auslandslizenzen. Verständlich, dass Thomas Müller wenig Neigung verspürt, seinen Studenten stromlinienförmigere Projekte zu empfehlen.
    "Wenn man Illustration studiert, kommt man nicht umhin, sich selbst zu erfinden. Und das ist etwas, was mit den eigenen Möglichkeiten und mit den Neigungen und mit der Bereitschaft, etwas auszuprobieren zu tun hat."
    Kinderbuch oder Bilderbuch für Erwachsene?
    Eine Hochdruckpresse, eine Siebdruckmaschine, viel Platz und gefühlte fünf Grad. Eine Idylle auf Abruf. Die Fabrikräume, in denen sich Christina Röckl mit einer Handvoll Kollegen eingemietet hat, stehen zum Verkauf. Röckl hat bei Georg Barber alias ATAK an der Burg Giebichenstein Illustration studiert. Ihre Masterarbeit entstand in einem ofenbeheizten Zimmerchen in einem der Leipziger "Wächterhäuser"; leer stehende Immobilien, die durch kreative Zwischennutzung erhalten werden sollen. "Und dann platzt der Kopf" heißt das Buch, mit dem Röckl 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Sachbuch gewann und das auch auf der Longlist der " "Schönsten Bücher" der Stiftung Buchkunst steht. "Was ist Seele?" hat Röckl 200 Kindergarten- und Grundschul-Kinder gefragt, und die Antworten, rund 1000 Minuten Text, in farbintensive Bildwelten übersetzt. Keine Flügelchen auf flauschigen Seelenpolstern, stattdessen fantastische, an der Typologie von Kinderzeichnungen angelehnte riesige Doppelseiten. Ein Seelen-Mixtape, das die Darstellung des Nichtdarstellbaren zum Thema macht. "Es ist ein Bilderbuch! (lacht). Ich würd's so sagen. Es ist ein Bilderbuch - von Kindern gedacht und im ersten Falle für Erwachsene gemacht. Aber natürlich können Kinder das auch ankucken. Also, ich möchte da nicht so in Schubladen denken. Weil ich glaube, dass Kinder mit allem irgendwas anfangen können. Wir Erwachsenen sind die, die die Grenzen setzen. Und die da in Schubladen reinkategorisieren."
    Röckl, die Geschichtenerzählerin, die den "Kleinen Prinzen" ebenso mag wie Ringelnatz, Christoph Schlingensief oder Erich Fromm, wird weiter Bücher machen. In die "Kinderbuch-Ecke" allein will sie sich nicht drängen lassen. "Natürlich ist es wichtig, zu wissen: An wen wende ich mich? Oder: Was möchte ich gerne machen? Aber trotz allem bin ich der Meinung, dass man sich während des Machens auch noch ganz viel Freiraum lassen muss. Sonst verspielt man ganz viel. Oder diese schönen Experimentier-Momente verpasst man dann auch einfach."
    Aus der HGB kommen auch Comic-Zeichner
    Ortswechsel, ein Atelier in der Leipziger Südvorstadt. Die junge Frau mit der roten Wollmütze, die man nur unter ihrem Künstlernamen Anna Haifisch kennt, bietet gut gelaunt Tee an. Und das, obwohl ihr letzter Kinder-Comic, den sie gerade für ein französisches Kollektiv gezeichnet hat, abgelehnt wurde: Zu traurig, hieß es - die Geschichte spielt in einem Gefängnis. "Von Spatz ", ihre Meisterschüler-Arbeit an der HGB, hat der Kasseler Rotopol Verlag zwischen Buchdeckel gebracht. Eine reichlich abgefahrene Geschichte in pastellfarbener Siebdruckoptik, in der wir Walt Disney, Saul Steinberg und Tomi Ungerer als Patienten einer Nervenklinik für Künstler mit Burnout-Problemen begegnen. Drei Großmeister, die Haifisch zu ihren Vorbildern zählt. Normalerweise sorgt der Akademie-Kosmos nicht für das Reizklima, aus dem Comic-Zeichner hervorgehen. Doch für die 1986 in Leipzig geborene Künstlerin bot die HGB den perfekten Freiraum.
    "Bevor ich angefangen hab', an der HGB zu studieren, waren mir die Werkstätten total wichtig. Also, ich wollt' dringend Holzschnitt machen. Und dann nach einem Jahr hab' ich so gemerkt: OK, das ist jetzt vorbei, ich kann's auch nicht so gut. Und dann hab' ich mich auf Illustration konzentriert. Und dann hab' ich gemerkt: Nur Buch-Illustration ist so'n bisschen gefährlich. Und dann bin ich nach Amerika gegangen, für eineinhalb Jahre. Und hab' dort gearbeitet. Und dort hab' ich James getroffen. Und da bin ich dann eigentlich in Comics reingerutscht. Also, Comics hab' ich immer gelesen. Aber erst in Amerika hab' ich richtig angefangen, welche zu zeichnen."
    Anna Haifisch heuerte in einer Brooklyner Siebdruckwerkstatt an. Und brachte den Illustratoren-Kollegen James Turek, den sie in einer New Yorker Bar kennengelernt hatte, kurzerhand mit nach Leipzig. "Ich hatte das große Glück, Thomas Müller zu treffen. Er hat mich für zwei Semester als Gast in die Illustrations-Klasse eingeladen. Das war eine großartige Chance, und sie kam ziemlich unerwartet. Unversehens hatte ich also die Möglichkeit, hier zu leben, die Stadt mit all ihren tollen Künstlern kennenzulernen. Sie haben mich wie mit einem magischen Lasso eingefangen - und einfach hierbehalten. Ich bin glücklich, ein Teil dieser Szene zu sein."
    2013 begründeten Anna Haifisch und James Turek mit sechs Mitstreitern "The Millionaires Club ". Anders als der Name vermuten lässt, geht es eher um Vielfalt als um dicke Kohle: Der Club der Millionäre ist ein mit weiteren Kollegen aus dem HGB-Umfeld organisiertes Low-Budget-Festival für Comics, Plakate und Grafik, das über drei Tage parallel zur Leipziger Buchmesse über die Bühne geht - und inzwischen Künstler aus aller Herren Länder anzieht. Und da in Leipzig die Wege kurz sind, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Neubürger Turek der Verlegerin Monika Osberghaus über den Weg lief. Resultat dieser Begegnung war sein erstes Bilderbuch. Oder, genauer: ein Hybrid aus Comic und Wimmelbuch.
    Turek: "Ich habe versucht, Deutsch zu lernen, indem ich Bilder zeichnete und die deutschen Begriffe danebenschrieb. Ich dachte, das könnte eine hübsche Idee für ein Buch sein. Und sie sagten: Ja, wir machen das! Für Kinder, die Englisch lernen wollen. Ich kannte das deutsche Wort nicht. Wimmelbuch? Im Englischen gibt's das nicht."
    Spezifisch eigener Stil?
    Mehr Neugier in den Verlagen, weniger Schubladen - das wäre schon ein Anfang. Programmmacher, die dem Illustratoren-Nachwuchs Vertrauen entgegenbringen. Und, das gibt Thomas Müller zu bedenken, ein wenig Geduld. Auf beiden Seiten. "Als ich das erste Mal Vater wurde - das ist jetzt schon fast 20 Jahre her - sprachen viele: Na ja, da ich ja nun zeichne, dann wäre das ja nun der gegebene Anlass, um Kinderbücher zu machen. Das fand ich damals überhaupt nicht. Jetzt, mit noch mal kleinen Kindern wesentlich später, geht mir das schon mehr auf. Also, ich glaube, William Steig hat angefangen, Kinderbücher zu machen, da war er über 60; das ist noch jung genug. Manchmal bringt auch das Leben einen in die Lage, das für sich zu entdecken. Das finde ich eine gute Lösung."
    Ein Blick ins Buch und zwei ins Leben, damit kennt man sich in Leipzig aus. Ob Bilder dem literarischen Text zur Seite stehen oder, wie im "West-Östlichen-Diwan-Büro ", einem aktuellen Projekt der Illustrations-Klasse, als Unterrichtsmaterial für Flüchtlinge Verwendung finden. Und die "Leipziger Schule " der Zeichner? Als spezifisch eigener Stil oder "Strich " lässt sie sich heute nur schwer dingfest machen. Zum Ausdruck kommt sie eher in der Offenheit für angewandte Disziplinen, einem Bedürfnis nach Qualität und handwerklicher Präzision. Mit Nostalgie hat das wenig zu tun: Die Jungen docken beim Erbe an, um sich Freiräume für neue, ganz aufs Hier und Jetzt gerichtete Bildlösungen zu schaffen. Die alte Buchstadt, in der sich lange eine fatalistische Routine des Verlusts breitgemacht hatte, kann davon nur profitieren. Sollte man nicht für immer hierbleiben? Christina Röckl hält es lieber mit einer Weisheit ihrer Oma: Sag' niemals nie!
    "Ich könnte jetzt sagen: Ich werd' nie wieder hier weggehen! Aber das ist genau so falsch, wie wenn ich sage: Ich werd' nur noch Kinderbücher machen. Ich weiß nicht, was in fünf Jahren ist. Aber gefühlt ist das schon der Ort, wo ich gerne bleiben möchte für sehr lange (lacht). Für immer vielleicht? Das weiß ich nicht."
    Bücher in Auswahl:
    Thomas Müller: Der Traktor und der Esel. Moritz Verlag 2015, 34 Seiten, 10,95 Euro.
    Christoph Ruckhäberle/Thomas Siemon (Hrsg.): V. P. 70. Das Linolschnittbuch zu Volker Pfüllers 70. Geburtstag. Lubok Verlag 2011, 46 Seiten, 30 Euro.
    Gerda Raidt/Christa Holtei: In die neue Welt. Eine Familiengeschichte in zwei Jahrhunderten. Beltz & Gelberg 2013, 34 Seiten, 13,95 Euro.
    Gerda Raidt/Enid Blyton: Fünf Freunde auf großer Fahrt. cbj 2015, 160 Seiten, 7,99 Euro.
    Susanne Göhlich: Lenas Laden. Moritz Verlag 2016, 24 Seiten, 8,95 Euro.
    Christina Röckl: Und dann platzt der Kopf. Kunstanstifter Verlag 2014, 72 Seiten, 26,50 Euro.
    Katrin Stangl: Stark wie ein Bär. Aladin 2013, 32 Seiten, 12,90 Euro.
    Johanna Benz: Aber ohne mein Akkordeon bin ich nichts! Ich wollte nie. Institut für Buchkunst 2013, 64 Seiten, 22 Euro.
    James Turek: Make My Day. Mein wildes Englisch-Wimmelbuch. Klett Kinderbuch 2013, 32 Seiten, 19,50 Euro.
    Anna Haifisch: Von Spatz. Rotopolpress 2015, 68 Seiten, 18 Euro.
    Jutta Bauer/Katja Spitzer (Hrsg.): Das Beste von Allem. Aladin 2015, 112 Seiten, 25 Euro.