Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Leiser, melancholischer und reifer

Anne Wiazemsky ist die Enkelin des französischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers François Mauriac. 1965 entdeckte sie der Regisseur Robert Bresson für seinen Filmklassiker "Zum Beispiel Balthasar".

Von Thomas Palzer | 05.01.2011
    Bei den Dreharbeiten lernt sie Jean-Luc Godard kennen, der sie in seinen Filmen einsetzt und heiratet. Sie dreht mit Pasolini und Jean-Pierre Léaud - und als irgendwann die Engagements ausbleiben, wendet sie sich dem Schreiben zu. 1998 erhält sie den renommierten Grand prix du roman von der Académie française.

    2009 erschien von Anne Wiazemsky im Verlag C. H. Beck der autobiographische Roman "Jeune fille" - ein Bericht über ihre Einführung in die Schauspielkunst durch den Regisseur Robert Bresson und zugleich eine einfühlsame und berührende Erkundung der weiblichen Seele - ihrer eigenen Seele im Alter von 18.

    Nun hat sie auf der Grundlage von Tagebüchern und Briefen einen Roman über ihre Mutter geschrieben - und wieder ist es die Erkundung der weiblichen Seele im Stadium von Aufbruch und erster Reife. Ihre Mutter ist allerdings nicht 18, sondern 28 - und es herrscht Krieg in Europa.
    "Mein Berliner Kind" heißt der Roman - und der Witz an der Sache ist, dass mit dem "Berliner Kind” die Autorin des Buches selbst gemeint ist, Anne Wiazemsky.

    Am 8. Mai 1945 schlug für Deutschland die Stunde Null. Die Wehrmacht hatte bedingungslos kapituliert. Es begann die Zeit der Flüchtlingsströme, der Verwundetentransporte und der Trümmerfrauen - zumal in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin. Die Stunde Null währte bis 1947.
    Im Mai 1947 gebar eine junge Französin in Berlin ein Mädchen. Für das kleine Geschöpf seine persönliche "Stunde Null". Und im selben Atemzug für Europa auch der Marker seiner nicht mehr geglaubten Wiederauferstehung.

    "Sie prüft die so weiche, so zarte Haut, prüft, ob es tatsächlich zwei Hände und zwei Füße hat, bleibt sprachlos über jedes Lächeln, das dieses Wesen ihr schenkt, über die Laute, die aus seinem Mund kommen."

    Claire ist 28 und arbeitet als Fahrerin beim französischen Roten Kreuz, in einer Staffel, die nach Berlin abkommandiert ist, um die Verwundeten zu versorgen und den Rücktransport der französischen Gefangenen zu organisieren, ihre Repatriierung. Bereits Ende 1944 hat Claire - als ihr bewusst geworden ist, dass sogar die Deutschen wissen, dass der Krieg verloren ist - den Entschluss gefasst, den eigenen Truppen...

    "... weiter zu folgen, bis ins Herz des Deutschen Reichs, bis nach Berlin."

    Dieser Entschluss ist nicht das Ergebnis eines starken patriotischen Gefühls - oder wenn, dann ist dieses patriotische Gefühl nur ein Vorwand. Ein Vorwand, um sich von vorgezeichneten Bahnen zu emanzipieren.
    Mit Kriegsende ist für Claire auch jener Ausnahmezustand vorbei, der für ihr eigenes Leben gegolten hat - ein Leben fern von einer Familie, in der sich Mutter und Vater noch mit "Sie" anreden, und fern von den Ansprüchen, die diese intellektuelle und hochbürgerliche Familie an sie stellt. Es ist die Familie des französischen Literaturnobelpreisträgers François Mauriac.

    Claire hat ihr Leben im Dienst des französischen Roten Kreuzes sehr genossen. Der Dienst hat ihr eine Freiheit geschenkt, die sie unter der Fuchtel des prominenten Vaters und unter der eines sittsamen Heiratsversprechens, das sie nicht mehr einhalten will, nicht hätte erleben können. Und darum kommt Berlin gerade recht. Berlin gibt ihr die Lizenz, weiterhin ein Leben ohne familiäre Bevormundung zu führen.

    "Der Name der besiegten Stadt, Berlin, hallt wie eine Verheißung in ihr wider."

    Es ist ein provisorisches, gleichsam zeitloses Leben, das die Protagonistin in Berlin lebt, inmitten von Tod, Krankheit und Elend; in einem vierstöckigen, von anderen Rotkreuzschwestern und Angehörigen der französischen Armee bewohnten Gebäudes am Kurfürstendamm. Hier ist sie nicht die Tochter von ... oder die Verlobte von ..., und diese Ungebundenheit genießt Claire. Ihre Arbeit in der von Zerstörung gezeichneten, vom Vier-Mächte Status zerrissenen Stadt, in dieser, wie die Autorin schreibt ...

    "... gigantischen Sortiermaschine für Flüchtlinge ..."

    ... ist entbehrungsreich und leidvoll - und dennoch für sie und ihre Mitstreiterinnen erfüllend. Voller Zuversicht gehen die jungen Frauen jeden neuen Tag an.

    Das alles ist in einer einfachen, reduzierten Sprache geschildert und berührend.

    "Um acht Uhr morgens fuhr ich wieder los, diesmal mit einem gewiefteren Offizier und ans andere Ende von Berlin, da der Zug den Standort gewechselt hatte. Erneut verteilten wir Pakete. Die Elsässer, fast alle aus Straßburg, weinten vor Freude. Endlich kümmerte man sich um sie! Man muss diese Züge wirklich gesehen haben, um zu begreifen. All die armen Jungen haben so gelitten, dass ihnen jede Hoffnung vergangen ist."

    In dem Gebäude am Kurfürstendamm gibt es zwischen den vier Stockwerken ein ständiges Auf und Ab. So kann es nicht ausbleiben, dass die Protagonistin einen französischen Offizier russischer Abstammung kennenlernt, einen echten Fürsten, wie ihre Freundinnen aus der Rot-Kreuz-Staffel flüstern.

    Der Mann verfügt über einen bestechenden Charme - und er ist lebenslustig. Aber er liest keine Bücher - und kennt deswegen auch nicht Claires berühmten Vater, den Nobelpreisträger François Mauriac, dessen Tochter sie ist. Zwei Welten treffen aufeinander.

    Die Stadt in der Stunde Null hält für Claire Mauriac den Beginn einer Amour fou parat, den Beginn einer leidenschaftlichen und unmöglichen Liebe. Es ist ihre persönliche Stunde Null, die sie in die Arme des Offiziers Yvan Wiazemsky führt.

    Der Mann mit den beeindruckenden Segelohren, den alle Wia nennen, ist kein Hochstapler, sondern tatsächlich Sprössling einer russischen Fürstenfamilie, die Petersburg während der Revolution im April 1919 verlassen hat, um nach den Durchgangsstationen Malta und London in Paris zu landen - verarmt. Zunächst schockiert das Claire, die aus einem bourgeoisen Elternhaus stammt.

    "Claire zündet sich eine Zigarette an. Mit eisiger Klarheit vergleicht sie die beiden Familien, ihre eigene und Wias. Hier geht es nicht nur um zwei verschiedene Nationalitäten, hier geht es um zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben."

    Berlin - und immer wieder Paris. Zwischen diesen beiden Welten pendeln Claire und Wia hin und her. Wie zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen der Welt, aus der sie kommen, und der, die eine gemeinsame Zukunft für sie bereithält.

    "Ein Spruchband ist über die Treppe am Kurfürstendamm 96 gespannt. 'Willkommen, unser erstes Berliner Brautpaar!' Auf allen Etagen bricht Applaus aus, als Wia mit Claire in der Hand auftaucht. Er strahlt vor Freude vor Stolz, wendet auf jeder Stufe den Kopf, um seine Braut wieder und wieder zu betrachten."

    Beeindruckend an "Mein Berliner Kind" ist die Einfühlsamkeit, mit der Anne Wiazemsky von Lebensfreude, Solidarität und seelischen Nöten in düsteren Zeiten erzählt.

    Anne Wiazemsky hat ihre Figuren erfunden, wie sie waren: ihre Mutter, ihren Vater, die Freundinnen und Freunde. Weil die Autorin es hasst, ihren Figuren, wie sie sagt, "Pappnasen" aufzusetzen, erscheinen sie im Roman mit ihren wirklichen Namen. Trotzdem bleiben es Figuren - Figuren nahe an der Realität, ähnlich jenen, wie sie die Zeit damals hervorgebracht hat.

    Im Grunde hat Anne Wiazemsky mit "Mein Berliner Kind" "Jeune fille" noch einmal geschrieben - nur, dass diesmal die Protagonistin nicht sie selbst ist, sondern ihre Mutter - ihr Double in der Zeit. Beide Male geht es um das Frauwerden, um Emanzipation; darum, den eigenen Lebensweg jenseits von Familie und der psychischen Bevormundung durch das Wort "Anstand" zu finden.

    Anne Wiazemsky ist eine Art Françoise Sagan der eigenen Biografie - nur leiser, melancholischer und reifer.

    Anne Wiazemsky "Mein Berliner Kind"
    Aus dem Französischen von Grete Osterwald

    München: C. H. Beck 2010.
    260 Seiten, Euro 19,95