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"Leistung für Gegenleistung – das ist die Philosophie des Rentensystems"

Die Rente sei das Kernstück einer selbstbewussten Sozialpolitik, sagt der ehemalige CDU-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Die Rentner hätten sich ihre Renten erarbeitet. Das System sei zudem auf die Solidarität der Generationen angewiesen.

Norbert Blüm im Gespräch mit Jürgen Liminski | 04.09.2012
    Jürgen Liminski: Bundessozialministerin Ursula von der Leyen stößt mit ihren Plänen für eine Zuschussrente gegen Altersarmut landauf landab auf Widerstand. Gegen das Vorhaben wenden sich neben SPD und Grünen auch der Koalitionspartner FDP und Politiker der Union. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und Sozialverbände lehnen das Vorhaben der Ministerin ab. Dabei hat die Ministerin eine Armutslücke ausgemacht, die in einem reichen Land wie Deutschland eine ernsthafte Diskussion durchaus wert ist. Aber ist das Rentensystem der richtige Ort für eine Armutsdiskussion und drohen dem Rentensystem nicht ganz andere Gefahren, etwa aus dem demographischen Niedergang? Wie demografiefest ist die Rente überhaupt und wo liegen ihre Geburtsfehler, die jetzt zu Buche schlagen? Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich den ehemaligen Arbeits- und Sozial-, mithin auch Rentenminister Norbert Blüm, der neben seinem Nachfolger Riester vermutlich am stärksten die Erinnerung der Deutschen belebt. Guten Morgen, Herr Blüm.

    Norbert Blüm: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Blüm, die Rente ist sicher, ihre Höhe aber scheinbar nicht. Kann man mit Zuschüssen das System sanieren?

    Blüm: Zunächst mal zu dem Satz: Die Rente ist sicher. Allerdings sie braucht das Geld, um anständige Renten zahlen zu können. Das ist, wie wenn Sie in Ihr Auto in den Benzintank nicht genug Benzin geben. Fängt der Motor an zu stottern, hat das nichts mit dem Motor zu tun, sondern mit zu wenig Tankfüllung. Und wenn Sie vier Prozent, wie mit der Riester-Rente geschehen, nicht in die Rentenkasse geben, sondern der Privatversicherung, dann fehlt das freilich in der Rentenkasse. Dann wird das Rentenniveau abgesenkt und dann entsteht Rentenarmut, und zwar so abgesenkt – das ist ja der eigentliche Skandal -, dass viele Rentner im Alter nicht mehr haben wie Sozialhilfe. Und wenn die Rente es nicht schafft, dass jemand, der ein ganzes Leben lang gearbeitet hat, mehr Rente bekommt, als hätte er nicht gearbeitet, dann ist das System übergeschnappt. In der Logik eines solchen verrückt gewordenen Systems liegt: Geh doch gar nicht arbeiten, geh doch gleich zur Sozialhilfe.

    Liminski: Wenn das Zuschusssystem nur zu mehr Komplikationen, aber nicht zu Lösungen führt, wie kann man dann die von Frau von der Leyen ausgemachte Armutslücke im Alter füllen? Kann man überhaupt Vorsorge und Fürsorge vermengen? Adenauer hat das ja auch so gemacht.

    Blüm: Also zunächst mal ist die Rente keine Fürsorge, sondern wird mit Beiträgen finanziert, und die Rentner haben sich ihre Rente erarbeitet, und daran muss man festhalten. Das ist nicht nur ein Unterschied in Geld, sondern das ist ein Unterschied auch für das Selbstbewusstsein, dass ich meine Rente selber erarbeitet habe, und ich möchte nicht, dass wir mit Fürsorge das Alter, die Altersprobleme lösen. Ich möchte nicht, dass die Alten sozusagen bitten müssen um eine milde Gabe, sondern sie haben einen Anspruch, wenn sie zur Solidarität beigetragen haben, auch von der Solidarität unterstützt zu werden. Leistung für Gegenleistung – das ist die Philosophie des Rentensystems, und die wollen wir nicht vermischen mit Fürsorge, die notwendig ist, weil wir nicht alle Probleme lösen. Aber die Rente ist das Kernstück einer selbstbewussten Sozialpolitik.

    Liminski: Also Vorsorge und Fürsorge auseinanderhalten?

    Blüm: Ja.

    Liminski: Adenauer wird der übrigens nirgendwo dokumentierte Satz zugeschrieben, Kinder kriegen die Leute immer. Das stimmte vielleicht bis knapp in die Mitte der 60er-Jahre, bis zum Pillenknick. Aber dann begann der demografische Niedergang, der das Rentensystem in eine Schieflage brachte. Sind die fehlenden Geburten der Geburtsfehler des Systems?

    Blüm: Zunächst mal: Der Satz von Adenauer ist richtig. Aber schon in der Adenauer-Zeit hat Schreiber den Vorschlag gemacht, nicht ein Rentensystem oder ein Sicherungssystem mit zwei Generationen, Erwerbstätige und Alte, sondern mit drei, eine Familienkasse zu schaffen, eine Kinderkasse. Ich selber habe den Vorschlag '97 wiederholt, dafür keine Mehrheit gefunden. Ich halte den Vorschlag nach wie vor für aufrecht, denn die ganze Familienpolitik wird ja unübersichtlich: Tausend Kästchen, tausend Kisten, tausend Kassen. Eine große Familienkasse und dann können wir uns erübrigen die ganze Diskussion, wer was wie macht mit tausend Vormundschaften. Denn in der Tat: Der Generationenzusammenhang besteht aus drei Generationen. Da gibt es eine schöne Geschichte bei Johann Peter Hebel, wo der Bauer dem Fürst erklärt, ein Teil seines Lohnes gibt er Kredit, ein Teil zahlt er seine Schulden ab und ein Teil für sich. Wie das? Ja seinen Kindern gewährt er Kredit und bei seinen Eltern zahlt er die Schulden ab. Das ist das ganze Geheimnis der Rentenversicherung, immer müssen die Jungen für die Alten bezahlen. Da kann in Berlin regieren wer will, das Rentensystem machen wer will: Immer ist es auf die Solidarität der Generationen angewiesen. Da lenkt auch keine Kapitaldeckung ab, die mit der Illusion arbeitet, das Geld würde irgendwo im Kopfkissen versteckt. Immer muss aus dem aktuellen Sozialprodukt die Rente bezahlt werden. Deshalb kommt es darauf an – jetzt zur Demografie -, von der Kopfzahl allein kann es deshalb nicht abhängen, von der Zahl der Geburten, sonst müssten die ja in Indien eine hervorragende Alterssicherung haben. Es kommt darauf an, dass die, die geboren werden, auch Arbeit haben, und zwar produktive Arbeit, also ergiebige Arbeit. Ich bin dennoch für Kinder, aber nicht nur aus demografischen Gründen, sondern weil Kinder unser Leben bereichern, weil sie uns vor Egoismus bewahren.

    Liminski: Herr Blüm, nun kommen in den nächsten Jahren die Baby-Boomer ins Rentenalter. Das heißt, die Zahl der Rentner wird enorm steigen und die der Erwerbsbevölkerung, der Beitragszahler drastisch sinken. Das lässt sich durch eine höhere Produktivität vermutlich nicht ausgleichen. Steuert Deutschland nicht doch unweigerlich auf eine Sockelrente zu, auf eine steuerfinanzierte Grundrente?

    Blüm: Da muss man sich entscheiden, ob man das will. Ich will es nicht, ich will nicht diese Gleichmacherei. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass dann die Beiträge steigen. Und wenn einer sagt, das geht nicht – wir haben es ja bei der Riester-Rente auch gemacht, und zwar ohne Arbeitgeberbeitrag. Die Riester-Rente wird auch bezahlt aus dem gleichen Geldbeutel, aus dem die Rente bezahlt wird. Und zur Wahrheit gehört, dass die Beiträge steigen, was nicht die Katastrophe ist, wie sie häufig beschrieben wird. Früher waren die Beiträge niedriger, aber der gesamte Wohlstand war auch niedriger. Meine Eltern, die haben vielleicht zehn Prozent Beitrag gezahlt, ihre Enkel 20 Prozent, doppelt so viel, aber trotzdem war der Wohlstand meiner Eltern geringer, weil das verfügbare Einkommen, nämlich die 90 Prozent, das war weniger als das, was heute den jüngeren übrig bleibt. Also es gehört dazu, nicht ins unendliche, aber ohne Beitragssteigerung ist die demografische Entwicklung nicht zu meistern, das muss man wissen. Weniger Kinder heißt, dass die, die geboren werden, sozusagen die Beiträge der nicht geborenen mitbezahlen müssen. Eine Gesellschaft, die kinderfeindlich ist, die muss das bezahlen, die muss die Konsequenzen tragen. Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, den Single feiern und meinen, der alte Wohlstand ließe sich erhalten. Das ist ein Kurzschluss.

    Liminski: Aber es gibt vielleicht auch eine andere Möglichkeit, eine Systemänderung. Wir haben mit der lohnbasierten Rente ein System, bei dem nur Lohnempfänger zur Rentenkasse gebeten werden, Selbständige und Vermögende, die ihr Kapital vermehren, aber nicht. Das ist in der Schweiz zum Beispiel anders, dort gibt es eine Höchst- und eine Mindestrente, alle Einkommen sind sozialpflichtig gestellt.

    Blüm: Diese viel beschworene Rettung, Wertschöpfungsrente, das ist schwer zu ermitteln. Ich warne vor diesem Experiment. Der Lohn ist ein Maßstab, der auch etwas mit der Lebensleistung zu tun hat. Wo ich allerdings zustimme: Leistung ist nicht nur Erwerbsarbeit. Deshalb haben wir ja auch in den 80er-Jahren – erster Schritt zu drei Generationen – die Kindererziehungszeiten eingeführt, mit der Überlegung, dass Kindererziehung auch Arbeit ist. Also wir müssen mal den Arbeitsbegriff neu definieren. Arbeit ist nicht nur Arbeit auf Lohnsteuerkarte. Der Arbeitsbegriff muss weiter gefasst werden. Und ich glaube auch, dass wir das Problem lösen müssen, dass manche drin sind, manche draußen aus der Rentenversicherung. Das verändert nicht das System, aber der Arbeitsbegriff, der hat sich verändert. Früher ist der Arbeitnehmer definiert worden durch weisungsabhängig, diese alten Formeln, die halten so nicht mehr. Sie sehen es ja an so merkwürdigen Begriffen wie scheinselbständig. Man muss den Begriff Arbeit neu definieren.

    Liminski: Eine offene Flanke sind die Pensionslasten, eine Bugwelle, die immer größer wird. Muss man die Beamtenschaft nicht stärker in das Beitragssystem einbeziehen? Ist das nicht auch ein Geburtsfehler des Systems?

    Blüm: Ja, darüber kann man diskutieren. Die Lösung unserer Strukturfragen ist es nicht. Wenn die Beamten in die Rentenversicherung eingeführt werden, dann zahlen sie zwar Beiträge in die Rentenversicherung, bekommen aber anschließend auch Rente. Also das demografische Problem wird durch die Einbeziehung der Beamten nicht verändert. Dennoch kann man sagen, Grenzziehungen sind schwierig, lasst uns diese Grenzfragen neu ordnen. Nur die Strukturfrage, wer bezahlt für wen, da kann ich nur sagen, da bezahlen immer die Jungen, egal ob sie Beamten sind, Selbständige sind, immer ist die Alterssicherung darauf angewiesen, auf die Solidarität der Jungen. Das war im Neandertal schon so und das wird noch so sein, wenn wir auf dem Mars gelandet sind. Eine andere Lösung gibt es nicht als Solidarität der Generationen. Und die Kapitaldeckung, diejenigen, die sagen, jeder sorgt für sich selber, die Kapitaldeckung ist nur so viel wert, wie das Kapital genutzt wird. In dem Augenblick, in dem sie es brauchen – Maschinen können Sie nicht essen. Und die Kapitaldeckung, das ist eine der Ursachen des ganzen Schlamassels, den wir im Moment haben, denn diese kapitalgedeckten Renten, die füttern die Hedgefonds, und die Hedgefonds, das sind die Zulieferanten für die Pensionsfonds und die fressen die Arbeitsplätze auf. Die Pointe ist: Die Arbeitnehmer bezahlen mit ihren privat versicherten Beiträgen ihren eigenen [ ... unverständlich wegen technischer Störung; Anmerkung der Online-Redaktion], und das kann ja wohl nicht die Lösung sein.

    Liminski: Die Geburtsfehler des Rentensystems, wie man sie beheben und die Rente dennoch sichern könnte – das war hier im Deutschlandfunk der langjährige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm. Besten Dank für das Gespräch, Herr Blüm.

    Blüm: Ich danke auch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.