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Leistungsdruck und Depression
Wie der Profiradsport mit psychischen Belastungen umgeht

Der Druck im Profiradsport ist groß - so groß, dass er beim Niederländer Lieuwe Westra zu Depressionen geführt hat. Eine Bestandsaufnahme beim Giro d'Italia zeigt: Hohe Priorität hat das Thema bei den Rennställen nicht.

Vom Tom Mustroph | 26.05.2018
    Zwei Radrennfahrer verschwommen von hinten fotografiert, im Hintergrund ein Versorgungsmotorrad.
    Bei vielen Rennställen steigt die Sensibilisierung für psychische Belatungen - feste Teampsychologen gibt es aber meist nicht. (imago )
    Druck im Radsport ist ein Thema, erst recht bei einer Großen Rundfahrt wie jetzt dem Giro d'Italia. Der Umgang damit mutet zuweilen aber recht hemdsärmelig an. Hat Astana, ein Team, das in der letzten Dekade alle drei großen Rundfahrten gewann, Psychologen beschäftigt?
    "Nein. Aber die Mannschaft ist an Drucksituationen in Rundfahrten etwas besser gewöhnt als andere Teams, die vielleicht das erste Mal auf einen Gesamtsieg oder einen Podestplatz bei einer großen Rundfahrt gehen", sagt Giuseppe Martinelli.
    Der Teamchef von Astana hat Toursieger von Marco Pantani über Alberto Contador bis hin zu Vincenzo Nibali betreut. Über das, was bei Pantani misslang, was diesen großen Kletterer in den tödlichen Strudel aus Doping, Sucht und Depression trieb, spricht er ungern. Man solle Pantani ruhen lassen, ist seine Haltung.
    Allerweltsweisheiten aus den Rennställen
    Die gefährliche Verbindung von schlecht dosiertem Leistungsdruck und psychischen Erkrankungen ist Martinelli dennoch bewusst. Als Vorbeugungsmaßnahmen hält er bestenfalls Allerweltsweisheiten parat.
    "Gelassenheit ist wichtig. Man muss mit der richtigen Einstellung kommen, Heute als heute nehmen, und auch gleich ans Morgen denken. Und das bis zum letzten Tag. Das ist so unsere Taktik."
    Die Vergangenheit ruhen lassen, selbst wenn sie keine 24 Stunden her ist, und immer nach vorn blicken. Das bringe dann Gelassenheit.
    Hat Martinelli eine besondere Formel, eine Methode, um Gelassenheit zu erreichen?
    "Die Formel für Gelassenheit lautet: Sich gut fühlen."
    Ein Kreislauf also, eine Art mentales perpetuum mobile des Wohlgefühls. Ein etwas einfaches Rezept.
    Radprofi Tom Dumoulin, der beim Giro bis zum letzten Tag um den Gesamtsieg kämpfte, bevorzugt ebenfalls ein überraschend unterkomplexes Modell.
    "Ich versuche einfach Vollgas zu geben bis zum Ziel. Dann muss ich nichts bedauern. Das ist das, was ich versuche."
    Alles geben, dann muss man nichts bedauern. Wenn es so einfach wäre.
    Gelassenheit als Mittel gegen psychische Belastung?
    Radprofi Lieuwe Westra, acht Jahre Profikarriere, dabei sieben große Rundfahrten absolviert, stieg in diesem Jahr wegen Depressionen aus dem Radsport aus. Er ließ sogar einen gut dotierten Vertrag sausen. Die Depressionen hatte er sich auch im Radsport geholt: Durch das einsame Vagabundenleben, mangelnde Kommunikation und den Leistungsdruck. Probleme im Zuge seiner Scheidung kamen noch hinzu. Westra fuhr bei Astana, dem Rennstall, der Gelassenheit als Mittel gegen psychische Belastung propagiert.
    Bei den kulturell neueren Teams im Radsport ist zumindest eine größere Sensibilisierung für das Problem zu bemerken.
    "Wir haben niemanden auf Vollzeit im Team, aber wir haben Leute, mit denen wir verbunden sind. Das deckt auch unterschiedliche Sprachen ab. Wenn du spanisch sprichst und der andere nur englisch, dann funktioniert das nicht, dann ist das nicht subtil genug", erzählt Rod Ellingworth, Trainer bei Team Sky. Immerhin besteht eine erweiterte Infrastruktur und auch eine Aufmerksamkeit für die Problematik.
    "Wenn sie Unterstützung brauchen, dann können sie im Team danach fragen und sie kriegen die Hilfe, die sie benötigen."
    Auch beim großen Herausforderer-Team dieser Saison, den Australiern bei Mitchelton Scott, sind Bewusstseinsprozesse im Gange.
    "Sport hat sich heutzutage weiter entwicklelt in diesem Gebiet. Die Psyche ist ein sehr wichtiges Instrument. Ich denke, im Männersport wird das oft abgelehnt. Das muss sich ändern. Aber das Problem ist: Jeder ist anders. Deshalb kann es keine Teamsache sein. Es muss mehr individuell sein. Jeder geht mit Druck ja auch anders um", erzählt Matt White, Teamchef und Gründer von Mitchelton Scott. Zwei Wochen lang fuhr deren Kapitän Simon Yates in rosa. Auf dem Colle delle Finestre ließen die physische Anstrengung, aber auch die mentalen Belastungen ihn komplett einbrechen. Er verlor fast eine halbe Stunde auf Sky-Kapitän Chris Froome.
    Teaminterne Psychologen gibt es nicht
    Teamchefs halten es in Sachen psychologische Betreuung wie Arbeitgeber in der Wirtschaft. Sie entdecken vor allem die leistungssteigernden Effekte und wollen das auch fördern. Bei den Australiern von Mitchelton-Scott klingt das zuweilen nach den IT-Spaßparks a la Silicon Valley: lockere, oder vermeintlich lockere Unternehmenskultur.
    "Alles beginnt mit dem Team, das du gründest, und der Umgebung, in der die Fahrer von Rennen zu Rennen leben. Diese Umgebung, diese Atmosphäre sollte sich nicht ändern, egal ob du eine Rundfahrt gewinnst oder sie verlierst. Umgebung und auch der Druck sollten bei allen Rennen gleich sein. Da kommen wir dann zur Kultur im Team", meint Matthew White.
    Teaminterne Psychologen gibt es aber nicht. Zum einen wegen der Sprachprobleme bei den international aufgestellten Rennställen. Zum anderen, weil der Fokus doch eher auf Leistung liegt und körperliches wie psychisches Wohlbefinden sich dem Leistungsgedanken unterordnet.
    Von daher ist eine Einbindung von Psychologen in die unmittelbare Teaminfrastruktur auch schwierig, denn die Gefahr, dass sie zuallererst zur mentalen Leistungsoptimierung engagiert werden, ist zu groß. Und erst recht die Dynamik, dass die Athleten fürchten müssten, wegen psychischer Probleme die nächste Vertragsverlängerung nicht mehr zu bekommen.