Freitag, 19. April 2024

Archiv


Leitbilder der Gegenwartsgesellschaft

In nahezu allen soziologischen Zeitdiagnosen, die in Anlehnung an Ulrich Becks Individualisierungstheorem die Auswirkungen des sozialen Wandels in der postmodernen Gesellschaft auf das Individuum reflektieren, wird der Orientierungsverlust, den die Individualisierung dem Einzelnen beschert hat, als eine ernst zu nehmende Bedrohung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft wahrgenommen.

Von Joachim Weiner | 06.01.2008
    Aus konservativer Sicht sind die beobachteten Orientierungsprobleme und Desintegrationsphänomene vor allem einem Mangel an verbindlichen gesellschaftlichen Werten und Leitbildern geschuldet. Dagegen zeigt Joachim Weiner in seinen Essays, in welchem Ausmaß auch und gerade das postmoderne, aus den Bindungen traditioneller Lebensstile herausgelöste Individuum, in seiner Lebensplanung und Lebensführung unter dem Diktat imperativer gesellschaftlicher Leitbilder steht, die seine Wahlmöglichkeiten angesichts der irritierenden Fülle von Lebens- und Verhaltensoptionen faktisch erheblich einschränken. Sie sorgen bislang noch dafür, dass die Vergesellschaftung der Individuen auch in der individualisierten Marktgesellschaft in vorgegebenen Bahnen verläuft, die der Gestaltungsmacht des Einzelnen weitgehend entzogen sind.

    Thema in "Essay und Diskurs" vom 6. bis 20. Januar.

    1. Coolness

    " Ist dein Handy ein Teil deines Lifestyles. Dann sind die Golla Handy- Taschen genau richtig für dich. Universal und stylisch bringen sie mehr Style in dein mobiles Leben. Golla vermittelt Lässigkeit und Coolness. Selten haben Fans nur eine Golla-Tasche, sondern jeden Tag einen neuen Style. "

    Coolness, die in dieser sprachlich verquasten Internetanzeige als Kaufargument für ein sockenähnliches Handyfutteral bemüht wird, fungiert in der Werbebranche schon seit langem als eine Art Passepartout, um Konsumartikel und Dienstleistungen aller Art zu begehrenswerten Lifestyleprodukten aufzupolieren. So bewirbt etwa VW mit dem Slogan "Coolness ist käuflich" ein unspektakuläres Stylingpaket für sein neues Billigmodell "Fox" und die LBS hat ihren Kunden kürzlich in einer Anzeigenkampagne den traditionell eher als spießig geltenden Bausparvertrag als cooles Investment angepriesen. Selbst die Kirchen versuchen derweil das Bekenntnis zum christlichen Glauben als Zeichen und Ausdruck "echter" Coolness zu verkaufen, um ihre jugendliche Klientel bei der Stange zu halten. Kaum eine andere Branche aber rekurriert mehr auf die Semantik und Ästhetik der Coolness als die Popindustrie, in der sie längst zu einem unverzichtbaren Marketinginstrument ganzer Sparten wie dem Hip-Hop und dem Action Kino geworden ist. Um den Anschluss an den renditeträchtigen Coolnessmarkt nicht zu verlieren, beschäftigen zahlreiche Unternehmen schon seit langem sog. Coolhunter, die in den Jugendszenen und anderen Subkulturen nach neuen marktfähigen Cool Trends Ausschau halten.

    Das Geschäft mit Coolness boomt, weil sie in den letzten beiden Jahrzehnten von einem umstrittenen männlichen Pubertäts- und Subkulturphänomen zu einem gefragten Leitbild unserer individualisierten Marktgesellschaft avanciert ist, in der Konsum als zentrales Instrument der Identitätsfindung fungiert. Lange Zeit eine Domäne der Dandys, Bohemiens und anderer nonkonformistischer Repräsentanten der ästhetischen Moderne, stehen heute ein cooler Habitus und Lebensstil bei weiten Kreisen der Gesellschaft hoch im Kurs. Sie gelten als Vorteil im distinktionsorientierten Konkurrenzkampf um Karrieren, Einfluss und Anerkennung, der immer häufiger schon im Kindergarten einsetzt.

    Dank des Einflusses der Medien und der Werbung beginnen viele Kinder bereits im Grundschulalter den coolen Habitus ihrer Popidole zu adaptieren und von den Eltern das dazu passende Outfit einzufordern, um einen Distinktionsgewinn gegenüber ihren Spielkameraden zu erzielen.

    In den diversen Jugendszenen ist Cool sein längst zu einem sozialen Imperativ geworden, dem man sich kaum entziehen kann, wenn man dazugehören will. Wer dem Coolnessdiktat seiner Peer-Group nicht entsprechen will oder kann, läuft Gefahr zum stigmatisierten Außenseiter und im schlimmsten Fall zum Objekt erbarmungsloser Mobbing-Attacken zu werden. Das Koordinatensystem an dem man sich zu orientieren hat, um in seiner Clique als cool zu gelten, ist übersichtlich und schnell erlernbar.

    In einem Statement von Jugendlichen hießt es dazu in einer SWR-Sendung:

    " Zum Coolsein gehören einerseits Klamotten, es gehören Freunde dazu, vor denen man cool sein kann, wie man sich gibt. Es gehören auch Hobbys dazu. Briefmarkensammeln ist nicht cool, dafür aber Skateboardfahren. Bei der Kleidung muss die Marke stimmen. Auch die Musik ist wichtig. Ruhige, sanfte Musik, bei der man einschlafen kann ist nicht cool, dafür aber Hardrock, Blackmusic, Soul, Hip-Hop, Rap und Techno." "

    Und ein anderer fügte noch hinzu:

    "Cool ist, wenn man seinen eigenen Weg geht, seine eigene Meinung hat und sie auch vertritt und cool ist, wenn man alles locker nimmt"

    Zu ergänzen wäre noch die obligatorische und inflationäre Verwendung des Begriffs "cool", für alles und jedes, was für gut, schön, angenehm, erfreulich, erstrebenwert und modisch befunden wird. Was den szenespezifischen Verhaltensmustern, Stilpräferenzen, Freizeitpraktiken und popkulturellen Vorlieben nicht entspricht, wird hingegen von den jugendlichen Freunden des "Cool" in der Regel unreflektiert und verächtlich als uncool abgetan und keiner weiteren Beachtung für würdig befunden. Nicht von ungefähr nennen daher Sozialtherapeuten ihre an gewaltbereite Jugendliche gerichteten Präventionsangebote nicht mehr Anti-Gewalt-, sondern Coolness Trainings. Seitdem cool-uncool für die Mehrheit der Jugendlichen die Leitdifferenz bildet, an der sie sich bei ihrer Identitätssuche, ihren Beziehungswahlen und Konsumentscheidungen orientieren, sind solche Konzessionen notwendig, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

    Noch bis vor zwei Jahrzehnten vorwiegend ein temporäres Adoleszenzphänomen, ist Coolness heute auch in den Erwachsenenmilieus eine weit verbreitete Lebenshaltung, die sich vor allem im Sozialverhalten, in der Einstellung zur Arbeit und in den Konsumverhalten manifestiert.

    Die Formen der Selbstpräsentation und die Geschmackspräferenzen, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus und Szenen als cool definiert werden, differieren allerdings erheblich, und sind in der Regel trotz gelegentlicher Überlappungen nicht miteinander kompatibel. Was etwa in den eher bildungsfernen Autotuning, Biker oder Bodybuilding Szenen als Inbegriff von Coolness gilt, wird in bildungsorientierten Milieus und Szenen überwiegend als aufgeblasene Männlichkeit und peinliches Proll-Gehabe wahrgenommen, denen das Prädikat cool verweigert wird. Derart milieu- und szenespezifisch ausdifferenziert, entzieht sich Coolness einer allgemein verbindlichen Definition. Der steht allerdings auch die semantische Bandbreite des Begriffs "cool" im Weg, die von leidenschaftslos, teilnahmslos, gleichgültig, besonnen und gelassen bis hin zu unverfroren, waghalsig frech und kaltschnäuzig reicht. Erschwerend kommt hinzu, dass "cool" sowohl eine mentale Grundhaltung gegenüber der Wirklichkeit bezeichnet, als auch die daraus resultierenden Werturteile und Verhaltensformen. Allerdings verdankt Coolness die milieuübergreifende Akzeptanz, die sie heute in unserer pluralistischen und individualisierten Marktgesellschaft genießt, auch und gerade ihrer vagabundierenden Semantik.

    Was die postmodernen milieu- und szenespezifischen Coolnessvarianten bei allen Unterschieden gleichwohl miteinander verbindet, ist eine von dem Wunsch nach Souveränität und psychischer Unverletzbarkeit bestimmte, mehr oder weniger habitualisierte emotionale Distanz und Gleichgültigkeit gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den eigenen Gefühlsregungen. Allergisch gegen Unlust und Enttäuschung und auf die optimale Befriedigung der eigenen Bedürfnisse bedacht, unterhält man ein ironisch-ästhetisches Verhältnis zur Wirklichkeit, um sich die Gesellschaft mit ihren Anforderungen und Einbindungsansprüchen möglichst vom Leibe zu halten. Fixiert auf die Erzeugung einer konkurrenz- und marktfähigen Individualität, vermeidet man allzu starke soziale und affektive Bindungen, um für alle Lebensmöglichkeiten, Konsumoptionen und Erlebnisangebote offen zu bleiben, die die konsumistische Marktgesellschaft für das postmoderne Individuum bereithält.

    In dieser egomanen Ausprägung hat Coolness das rebellische und kritische Potenzial verloren, aufgrund dessen sie in der Vergangenheit vor allem eine von gesellschaftlichen Außenseitern und Unterdrückten präferierte Haltung und Überlebensstrategie war. Als solche hat sie auch der schwarze Unternehmer und Bürgerrechtler Marcus Garvey begriffen, der sie Ende der 20er Jahre seinen afroamerikanischen Brüdern als politische Strategie im Kampf gegen die rassistische weiße Übermacht empfahl und damit unbeabsichtigt einen folgenreichen Beitrag zu ihrer dauerhaften Verankerung in der amerikanischen Gefühlskultur geleistet hat. Die von ihm angesichts der damals überall in den USA aufflackernden Rassenunruhen an seine Mitstreiter ausgegebene Parole "Keep cool!" war allerdings keine Aufforderung zu einer dauerhaften Verhaltensänderung. Sie sollten sich nur so lange durch eine demonstrative, die eigene Würde bewahrende Emotionslosigkeit gegen alle Erniedrigungen durch die weiße Übermacht immunisieren, bis die Zeit für einen Erfolg versprechenden Generalangriff gekommen sei. Aus der von ihm bis dahin empfohlenen Affekt- und Verhaltenskontrolle, entwickelte sich dann in der Folgezeit der coole männliche Habitus der schwarzen Ghettokultur, der im Cool Jazz der 50er Jahre seine kongeniale ästhetische Verkörperung gefunden hat und heute in einer Gewalt verherrlichenden und sexistischen Form zum verkaufsträchtigen Markenzeichen der Hip-Hop- Kultur verkommen ist.

    Als dieser Habitus im Zug der sozialen Umwälzungen, die durch die industrielle Entwicklung der USA in den 30er Jahren hervorgerufen wurden, Eingang in weiße Subkulturen fand, verlor er bereits weitgehend seinen politischen Charakter. In den subkulturellen weißen Milieus der USA mutierte Coolness von einer politischen Überlebensstrategie für eine rassistisch unterdrückte Minderheit zu einer gefühlsverachtenden und gewaltaffinen Inszenierung männlicher Autonomie und Souveränität, mit der das männliche Amerika sein durch den industriellen Strukturwandel angeschlagenes Selbstbewusstsein zu stabilisieren versuchte.

    Derart entpolitisiert avancierte Coolness nach dem Zweiten Weltkrieg in einer durch Hollywood und die Musikindustrie ästhetisierten Form zum hegemonialen Männlichkeitsideal der westlichen Welt, von dem seither insbesondere männliche Jugendliche in der Pubertät angezogen sind.

    In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war Coolness, anders als in den USA, im gesellschaftlichen Leitbildkatalog der Bundesrepublik durchgängig negativ konnotiert.

    In der Adenauer-Ära galt Coolness als asoziale Attitüde pubertierender männlicher Jugendlicher, der man mit den Mitteln einer autoritären Pädagogik begegnete, weil sie weder mit der selbstmitleidigen Stilisierung der Tätergeneration zu verführten Opfern der Nazidiktatur noch mit deren selbstvergessenem Aufbauwillen vereinbar war. Gefragt war damals Anstand, Sauberkeit, Fleiß, Opferbereitschaft, Gehorsam, Pünktlichkeit. Demonstrative Coolness und Lässigkeit passten nicht dazu und wurden daher auch bei der männlichen Jugend kaum toleriert. Sie galten als jugendgefährdender, weil Werte zersetzender Kulturimport der amerikanischen Besatzungsmacht. Die Vertreter des Cool Jazz, oder Filmhelden wie James Dean, Marlon Brandon und Humphrey Bogart, deren Coolness und innere Zerrissenheit auch und gerade die männliche deutsche Nachkriegsjugend faszinierte, waren in den Augen der Kulturwächter und Pädagogen der Adenauerära Repräsentanten eines durch den amerikanischen Liberalismus beförderten Kultur- und Wertezerfalls, den es mit allen Mitteln einzudämmen galt.

    So heißt es etwa in einer 1959 erschienen Publikation von Hans Heinrich Muchow, einem in den 50er Jahren vieldiskutiertem Autor zur Psychologie und Geschichte der deutschen Jugend u. a. über die jugendlichen Fans des Cool Jazz abfällig:

    " Der junge Mensch ist in jedem Augenblick bereit sein jeweils gelebtes Leben um der bloßen Lebenserhöhung und Lebensfülle zu übersteigen. (..) Oft bildet sich (...) ein süchtiger Drang nach Spannung des Lebensgefühls, der in den Ordnungen der Familie, der Schule und der Berufslehre keine Erfüllung findet. Der Jugendliche tritt den Weg in die "Katakomben" in die Jazzkeller an. (...) Doch sind diese Besucher der Jazzkeller nicht eigentlich Jazzfans, sondern parasitäre Existenzen."

    Kaum weniger aggressiv als auf die nonkonformistischen Jugendcliquen der 50er Jahre reagierte die Mehrheitsgesellschaft auf die subversive Coolness der weitgehend von der akademischen Jugend getragenen antiautoritären Protestbewegung, die Ende der 60er Jahre gegen die undemokratischen und restaurativen Strukturen des Adenauerstaates revoltierte. Sie verstand sich selbst als außerparlamentarische Opposition und hatte den kulturrevolutionären Umbau der kapitalistischen Industriegesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben. Bei ihren Protestaktionen gegen den übermächtigen Staatsapparat, setzten die Aktivisten der Bewegung vor allem auf die von der Popkultur bereits erfolgreich erprobten Strategien des Cool. Ironische Distanz, strategisches Rollenverhalten, die Inszenierung selbstbewusster Souveränität und eine demonstrative Kälte waren ihre bevorzugten Mittel, um das System zu irritieren und seine Verwundbarkeit zu demonstrieren.

    Man experimentierte mit neuen kollektiven und solidarischen Lebensformen, schuf selbstbestimmte und kreative Arbeitsarrangements, erprobte eine vom Lustprinzip bestimmte Beziehungspraxis und entwickelte ein ästhetisches Verhältnis zur Wirklichkeit.

    Als sich die antiautoritäre Protestbewegung in eine breit gefächerte Palette alternativer, ökologisch und feministisch orientierter sozialer Bewegungen auflöste, war Coolness als subversive politische Strategie verbraucht. Davon unbeeinträchtigt, entwickelte sie sich in der Folgezeit zu einem kommerziell überaus erfolgreichen Markenzeichen und dominanten ästhetischen Stilmittel der Popkultur. Als Lebenshaltung und Persönlichkeitseigenschaft hingegen war sie auch in den alternativen Milieus nicht gefragt. Hier waren vor allem emotionale Betroffenheit, kommunikative Unmittelbarkeit, Authentizität und Nähe gefordert. Zudem wurde sie von den Vertreterinnen der Frauenbewegung als frauenverachtendes und patriarchales Machogehabe diskreditiert, mit dem die Männer nur ihre emotionale Unbedarftheit, Kommunikationsprobleme und Angst vor der Weiblichkeit zu verdecken versuchen. Auch die von der Ökologiebewegung postulierte, stark moralisch konnotierte Umweltverantwortung und Nachhaltigkeit, ließ sich kaum mit einer cool distanzierten Lebenshaltung vereinbaren.

    Zu einem gesellschaftlich akzeptierten Leitbild und gefragten Habitus wurde Coolness erst im Rahmen der postmodernen individualistischen Subjektkultur, die sich im Zuge der neoliberalen Wende der 80er Jahre etabliert hat. Ihre Wegbereiter waren die gegenkulturellen Bewegungen der 60er und 70er Jahre und die mikroelektronische und digitale Revolution, die die Strukturen und das soziale Gefüge der produktionsorientierten Industriegesellschaft aufgesprengt und ihre Transformation in eine wissensbasierte Informations- und Dienstleistungsgesellschaft eingeleitet haben.

    Den Focus der neuen, in den 90er Jahren hegemonial gewordenen, Subjektkultur bildet ein flexibles, mobiles, kreatives und allzeit leistungsbereites Subjekt, das aktiv für den Erhalt seiner Beschäftigungsfähigkeit sorgt und auf die Erzeugung einer einzigartigen und marktfähigen Individualität bedacht ist.

    Ihren Dominanzanspruch hat die neue Subjektkultur erfolgreich durch institutionalisierte Anforderungen in allen sozialen Feldern untermauert. Diese wurden von der Politik, der Wirtschaft und den Medien zu imperativen Leitbildern verdichtet, die unterdessen im öffentlichen Bewusstsein fest verankert sind.

    Ihren heutigen Hegemoniestatus, verdankt die neue Subjektordnung den gravierenden Veränderungen in der Arbeitswelt und der gesellschaftlichen Stellung ihrer primären sozialen Träger: Das sind die postmodernen global orientierten Symbolproduzenten, die aus den urbanen Milieus der neuen höheren Mittelschichten erwachsen. Für sie hat der amerikanische Ökonom Richard Florida den Begriff der "kreativen Klasse" geprägt. Sie ist im Gefolge der mikroelektronischen und digitalen Revolution in den 80er Jahren entstanden und gilt heute als die neue Leistungselite der global orientierten Informations- und Wissensgesellschaft. Zu ihr zählen vor allem die hoch qualifizierten Dienstleister der relevanten Berufsgruppen in den Bereichen Informationstechnologie, Medien, Kunst, Design, Wissenschaft und Management, die mit der eigenständigen und kreativen Produktion innovativer symbolischer Güter befasst sind.

    Gut ausgebildet, flexibel, mobil und mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie bestens vertraut, arbeiten sie vorwiegend in zeitlich begrenzten und teamorientierten Projekten, in denen sie eine kreative und eigenständige Leistung erbringen. Eingebettet in karriereförderliche Netzwerke, sind sie kontinuierlich darum bemüht, ihr individuelles Kompetenzprofil marktgerecht zu verbreitern, um ihren Marktwert zu steigern oder zumindest zu erhalten. In der Regel finanziell überdurchschnittlich gut ausgestattet, pflegen sie einen möglichst individuellen Lebensstil, der seinen Ausdruck vor allem im Erwerb ästhetisch und materiell hochwertiger Konsumgüter sowie in einer genuss- und distinktionsorientierten Freizeitpraxis findet.

    Langfristige berufliche Bindungen empfinden sie als einengende Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit und Wahlmöglichkeiten. Mehrheitlich sehen sie in einer weitgehenden Deregulierung des Arbeitsmarktes und in der Privatisierung staatlicher Aufgabenbereiche die beste Voraussetzung für die Entfaltung ihres kreativen Potenzials und die Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität. Dem Sozialstaat, stehen sie hingegen überwiegend mehr oder weniger ablehnend gegenüber, weil er aus ihrer Sicht die Eigeninitiative und Selbstverantwortung des Individuums untergräbt.

    Es ist unschwer zu erkennen, dass die zentralen Anforderungen, denen heute die Mitglieder der neoliberalen Marktgesellschaft bei der Entwicklung ihrer Biografie Rechnung zu tragen haben, wenn sie am gesellschaftlichen Reichtum und an den vorhandenen Ressourcen partizipieren wollen, dem Lebensstil der kreativen Klasse entsprechen. Auf deren Lebensformen, Arbeitsarrangements und Praktiken des Selbstmanagements sind die Anforderungen des neoliberal zurechtgestutzten Sozialstaats zugeschnitten, denen heute alle Gesellschaftsmitglieder ungeachtet ihrer Lebenslage entsprechen sollen.

    Arbeit um jeden Preis und gleich welcher Art, Anpassung an die ständig wachsenden Leistungsanforderungen der Wirtschaft und Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit, lauten heute die zentralen Imperative der neoliberalen Marktgesellschaft, die von der Politik und der Wirtschaft unablässig verkündet werden. Dahinter haben alle anderen sozialen Belange wie Familie, Beziehungen, Gesundheit, Kultur und Freizeit zurückzustehen. Nicht von ungefähr hat sich die Parole "Sozial ist, was Arbeit schafft" in den letzten Jahren zum zentralen sozialpolitischen Dogma entwickelt.
    Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihrer ständig wachsenden Anforderungen an den Einzelnen, wird verständlich, warum Coolness sich in den letzten beiden Jahrzehnten von einem umstrittenen Pubertätsphänomen zu einer weit verbreiteten Lebenshaltung entwickelt hat. Um den Subjektanforderungen der postmodernen Marktgesellschaft halbwegs entsprechen zu können, ist ein cool distanziertes Verhältnis zur sozialen und beruflichen Umwelt, aber auch zu den eigenen Gefühlen und der sozialen Identität unerlässlich. Die heute allseits geforderte Flexibilität, Mobilität und bedingungslose Leistungsbereitschaft, setzen Coolness geradezu voraus.

    Die vor allem von konservativen Politikern und Publizisten in letzter Zeit häufig angestimmte Klage über die zunehmende soziale Kälte in der Gesellschaft, die schwindende Bindekraft der Familie oder die wachsende Gleichgültigkeit einer konsumfixierten Jugend ist scheinheilig, weil sie gleichzeitig zu den eifrigsten Verfechtern einer deregulierten und flexibilisierten Arbeitswelt gehören, in der starke soziale und familiäre Bindungen ein Karrierehindernis darstellen. In ihr hat heute der die besten Karten, der jederzeit einsatz- und arbeitsbereit ist, seine Schwächen, Gefühle und Unfähigkeiten hinter einer vorgetäuschten Souveränität zu verbergen weiß und ohne Rücksicht auf die Belange und Befindlichkeiten anderer seine Ziele und Interessen verfolgt.

    Die neuerdings allseits geforderten Softskills wie Teamfähigkeit, kommunikative Kompetenz, Konfliktfähigkeit, Eigenständigkeit oder Individualität, sind in der Berufswelt nur in einer extrem eingeschränkten Form als Persönlichkeitseigenschaften gefragt. Wer das vergisst und sie wirklich ernst nimmt, bekommt in der Regel Probleme.

    Je weniger einer dem männlich coolen Charaktertypus entspricht, der clever seine Ziele verfolgt und ungeachtet aller Erfolge des Feminismus, nach wie vor gefragt ist, desto mehr läuft er Gefahr frühzeitig aus dem Rennen um Karriere und Anerkennung auszuscheiden. Wer etwa heute Zeit mit der eigenen Familie, seinen außerfamiliären Bindungen oder auch nur dem Erhalt seiner psychischen Gesundheit Vorrang vor der Annahme eines weit entfernten, all das gefährdenden Arbeitsplatzes einräumt, gilt als nur eingeschränkt verwendbar und kann nicht mit Verständnis für seine Präferenzen rechnen. Sollte er auch noch arbeitslos sein, wird er sogar als Sozialschmarotzer betrachtet und muss gegebenenfalls mit der Kürzung der staatlichen Transferbezüge rechnen.

    Die mehr oder weniger coole Lebenshaltung, die heute in allen gesellschaftlichen Schichten und Milieus anzutreffen ist, dürfte nicht zuletzt auch eine Reaktion auf den erhöhten Anforderungsdruck sein, den der deregulierte und flexibilisierte Arbeitsmarkt im Verbund mit einem entfesselten Markt auf die Individuen ausübt. Die Angehörigen "der kreativen Klasse", die über die heute gefragten Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, benötigen Coolness, um die Flexibilitäts-, Mobilitäts- und Leistungsanforderungen eines sich rasant verändernden Marktes erfüllen zu können und dabei ihren Marktwert zu steigern, der über den Zugang zu Geld, Macht, Privilegien und Ansehen entscheidet.

    Alle anderen, die nur über mittelmäßige oder geringfügige Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, bewahrt eine coole Lebenshaltung davor, unter dem Druck der ständig wechselnden und ihre Möglichkeiten überschreitenden gesellschaftlichen Anforderungen, ihr Selbstwertgefühl und ihre Handlungsfähigkeit einzubüßen.

    Um nicht zwischen den heterogenen, widersprüchlichen und tendenziell uneinlösbaren Anforderungen zerrieben zu werden, die die moderne Marktgesellschaft an ihre Mitglieder stellt, kommt man ihnen nur soweit entgegen, wie es unbedingt notwendig ist, um an den Konsum- und Erlebnisangeboten des Marktes partizipieren zu können.

    Wann und wo immer es geht, versucht man sich von dem bestehenden Anforderungsdruck durch vorgetäuschtes Engagement und die bloß formale Erfüllung bestehender Erwartungen zu entlasten. Auf diese Weise schafft man sich unter der Hand private Freiräume, in denen man mit vollem Einsatz sein "eigenes Ding" macht, wie es heute so schön heißt. Diese coole Haltung ist allerdings in der Regel nicht das Resultat einer souveränen und kritisch reflektierten Distanz gegenüber den Strukturen und institutionalisierten Anforderungen der konsumistischen Marktgesellschaft, sondern der Ausdruck eines unreflektierten Arrangements mit ihnen.

    Während Coolness es den postmodernen Eliten ermöglicht, sich im Konkurrenzkampf auf einem weitgehend entfesselten Markt mehr oder weniger erfolgreich zu behaupten, schützt sie alle Übrigen vor der Überforderung durch denselben. In dieser Doppelfunktion sorgt sie dafür, dass die einen weiter die für den Erhalt der Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik auf dem Weltmarkt notwendigen Spitzenleistungen erbringen und die anderen, sofern sie noch nicht hoffnungslos abgehängt sind, bei der Stange bleiben.

    Darüber hinaus erfüllt sie in unserer postmodernen Marktgesellschaft, in der die traditionellen Institutionen, wie soziale Herkunft, Familie oder Beruf ihre identitätsstiftende Funktion weitgehend eingebüßt haben, auch noch die unersetzliche Funktion eines Identitäts- und Individualitätsgenerators. Gilt doch Coolness heute gleichsam als Bedingung der Möglichkeit, eine einzigartige Individualität auszubilden. Allerdings keine, die auf der Einzigartigkeit der persönlichen Geschichte und Erfahrungen beruht, sondern eine, die sich über ihre Differenz zum anderen definiert. Die wird heute vorwiegend durch Konsum erzeugt.

    Ihm gegenüber spielen andere Individualisierungsdimensionen wie etwa Erfahrung und Erkenntnis nur noch eine untergeordnete Rolle. Wer wie das postmoderne Individuum gezwungen ist, seine soziale Identität in einer sich ständig verändernden Umwelt aktiv und selbstverantwortlich zu gestalten, sieht sich angesichts der bestehenden Optionsvielfalt mit dem Problem der richtigen Wahl konfrontiert.

    Entgegen der allgemein verbreiteten These von einem gleichberechtigten Nebeneinander der Lebensstile und Individualitätskonstruktionen, geht es nicht darum irgendeine Individualität auszubilden, sondern eine, die anschlussfähig ist. In einer Gesellschaft, die sich durch die Vermarktlichung nahezu aller Lebensbereiche und die zunehmende Verschmelzung von Arbeit und Leben zu einer ununterscheidbaren Einheit auszeichnet, ist nur eine marktgerechte, d.h. flexible Individualität anschlussfähig.

    Angesichts dieses Umstands ist eine cool distanzierte Haltung gegenüber der bestehenden Optionsvielfalt und den eigenen Wahlen hilfreich, da sie dem Einzelnen jene Oberflächlichkeit und Wendigkeit garantiert, die für eine konkurrenzfähige Inszenierung des Selbst notwendig ist. Diejenigen, und das ist die Mehrheit, die über die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht verfügen, können auf eine Heerschar von Lifestyleberatern zurückgreifen, die ihnen das richtige Persönlichkeitsdesign auf dem Markt besorgen.

    Mit einer souveränen und selbstbestimmten Individualität hat der verbissene Wille zur Distinktion, der sich seit Jahren unter dem Label Coolness in einem bisweilen grotesk anmutenden Lifestyle- und Markenkult austobt, kaum etwas zu tun. Individualität, die diesen Namen verdient, wahrt eine reflexive Distanz zu bestehenden Identitäts-, Konsum- und Erlebnisangeboten, anstatt dem prinzipiell uneinlösbaren Individualitätsversprechen eines alles nivellierenden Marktes unreflektiert aufzusitzen. Den ihr aus dieser Haltung erwachsende Gewinn an Zeit und Gelassenheit, nutzt sie dazu, darüber nachzudenken, wie ein halbwegs gelungenes Leben unter den Bedingungen postmoderner Marktgesellschaften aussehen könnte. Auch in unserer Gesellschaft ist dieser Menschentyp noch immer anzutreffen. Das Problem ist nur, dass ein reflektierter Individualismus in unserer individualisierten Gesellschaft, immer weniger erwünscht ist, weil er sich nicht von der leidigen Frage abbringen lässt, ob wir wirklich so leben wollen, wie wir leben. Die aber scheint sich nach dem weltweiten Siegeszug des Kapitalismus für weite Teile unserer Gesellschaft erledigt zu haben.