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Leitbilder der Gegenwartsgesellschaft

Nur der Abschied von der Freizeitgesellschaft und das aktive Bekenntnis zur Leistungsgesellschaft, so die heute allenthalben verkündete Botschaft, kann uns vor dem drohenden Abstieg in die Mittelmäßigkeit und den damit verbundenen Wohlstandseinbußen bewahren. "Keine Leistung ohne Gegenleistung" lautet auch das sozialpolitische Credo, zu der sich die Bundesrepublik seit den 1980er Jahren kontinuierlich entwickelt hat.

Von Joachim Weiner | 20.01.2008
    "Wir brauchen in unserem Land einen Mentalitätswandel für mehr Leistung, mehr Anstrengung und längerer Arbeitszeit. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, dass die Bereitschaft zur Leistung fördert und auch fordert"."

    "" Zum Aufstieg an die Spitze gehört Leistungswille, Leistungsförderung und Leistungsforderung. Wir wollen dafür ein gutes Beispiel abgeben. Ich bin überzeugt, unser Land ist reformfähig. Wir selbst müssen vorangehen. Wir selbst müssen ein gutes Beispiel geben. Wir werden wieder nach vorn kommen. Wenn wir alle unsere Ärmel aufkrempeln, alle mehr leisten, mehr von uns selbst verlangen und weniger vom Staat. So wird die Sanierung gelingen."

    "Politik und Wirtschaft müssen sich zur Elitenbildung und -förderung bekennen, um junge Spitzenforscher und Nachwuchsführungskräfte an Deutschland zu binden. Es muss ein Klima entstehen, das den Leistungsbegriff wieder positiv auflädt."

    Diese öffentlichen Stellungnahmen von CSU- Chef Erwin Huber, Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und einer Professorengruppe der Initiative "Neue soziale Marktwirtschaft" ist repräsentativ für die ausufernde Leistungsrhetorik, mit der die Spitzen unserer Gesellschaft seit Jahren die Modernisierung des Sozialstaates begleiten und vorantreiben. Sinn und Zweck der Leistungsdebatte ist es, die Bürger auf die veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes einzustimmen.

    Gleichzeitig geht es auch darum, den Umbau des Sozialstaats als alternativlose Reaktion auf die Globalisierung der Wirtschaft und der Finanzmärkte darzustellen und so die Einschnitte in das soziale Netz zu rechtfertigen. Nicht umsonst schwingt bei allen Leistungsappellen, mit denen die Medien gefüttert werden, immer die Drohung mit, dass unser Land den Anschluss an die Globalisierung und die führenden Wirtschaftsnationen der Welt verlieren wird, wenn wir nicht alle bereit sind, in Zukunft erheblich mehr zu leisten als bisher.

    Nur der Abschied von der Freizeitgesellschaft und das aktive Bekenntnis zur Leistungsgesellschaft, so die heute allenthalben verkündete Botschaft, kann uns vor dem drohenden Abstieg in die Mittelmäßigkeit und den damit verbundenen Wohlstandseinbußen bewahren.

    Kaum eine Polit-Talkshow, in der nicht die Leistungsfeindlichkeit des Sozialstaats beklagt, das Leistungsprinzip als ein zentrales Leitbild der postindustriellen Wissensgesellschaft beschworen und die Entwicklung einer neuen Leistungskultur als unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem globalisierten Weltmarkt propagiert wird. Sozialreformen zielen auf die Erhöhung der Eigenleistung der Bürger ab, Wirtschaftsreformen auf die Beseitigung von Leistungsbremsen für die Wirtschaft und Bildungsreformen auf die Steigerung der Lernleistung von Kleinkindern, Schülern und Studenten.

    Auch der Gerechtigkeitsbegriff, an dem sich sozialstaatliches Handeln heute orientiert, ist auf Leistung fixiert. Nicht mehr Bedarfs- sondern Leistungsgerechtigkeit ist das Leitbild des modernisierten Sozialstaats. Keine Leistung ohne Gegenleistung lautet das sozialpolitische Credo der postindustriellen Marktgesellschaft, zu der sich die Bundesrepublik seit den 80er Jahren kontinuierlich entwickelt hat. Leistung ist heute auch für den Bedürftigen Pflicht, wenn er auf lange Sicht nicht den Anspruch auf staatliche Transfer- und Unterstützungsleistungen verlieren will.

    Anders als der traditionelle industriegesellschaftliche Sozialstaat hat sein postindustrielles Pendant weniger eine versorgende als eine aktivierende Funktion. Sein zentrales sozialpolitisches Ziel ist nicht mehr die Beseitigung von Armut oder die sozial gerechte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sondern die Integration aller arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft in den Arbeitsmarkt.

    Für die neue, unter das Motto "Fördern und Fordern" gestellte arbeitsmarktorientierte Sozialpolitik sind Sozialleistungen in erster Linie Investitionen, um die Beschäftigungsfähigkeit der Bürger sicher zu stellen. Wer aus welchen Gründen auch immer aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert wird oder gar nicht erst hineinkommt, hat zwar nach wie vor einen Rechtsanspruch auf finanzielle Transferleistungen, nur dass ihre Gewährung nicht mehr ohne Gegenleistung erfolgt. Sie ist jetzt an die Bedingung geknüpft, sich mit allen Kräften um Arbeit zu bemühen, die eigene Beschäftigungsfähigkeit durch Fort- und Weiterbildung aufrecht zu erhalten oder herzustellen und die vom Arbeitsmarkt verlangte Flexibilität und Mobilität zu entwickeln.

    Die Aufgabe des Staates besteht nur noch darin, die dafür notwendigen Bildungs- und Förderangebote vorzuhalten und den gleichberechtigten Zugang zu ihnen zu sichern. Sichtbarer Ausdruck dieses Paradigmenwechsels in der Sozialpolitik sind zum Beispiel die verschärften Zumutbarkeitskriterien und Kontrollen im Bereich der Arbeitslosenversicherung, oder auch die Einführung leistungsbezogener Elemente in das Krankenversicherungs- und Rentensystem. Wem die Umstellung der sozialen Sicherungssysteme von Bedarfs- auf Leistungsgerechtigkeit zugute kommen soll, hat der heutige Finanzminister Peer Steinbrück bereits 2003 dargelegt.

    "Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für diejenigen zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern."

    Sozialpolitik, wie nicht nur Steinbrück sie versteht, ist heute vor allem Arbeitsmarktpolitik. Sie ist nicht länger auf die Armen, Bedürftigen und sozial Benachteiligten fokussiert, sondern auf die viel beschworenen Leistungsträger, die durch ihre Leistungsbereitschaft und Fähigkeiten dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem globalisierten Weltmarkt zu erhalten.

    Die Umstellung des Sozialstaats von Bedarfs- auf Leistungsgerechtigkeit ist allerdings nur dann mehr als ein Beitrag zur Kostensenkung auf dem Rücken der sozial Schwachen, wenn die Bundesrepublik halbwegs den Kriterien einer meritokratischen Leistungsgesellschaft genügt, das heißt ein Sozialsystem ist, in dem nicht Hautfarbe, Geschlecht oder die soziale Herkunft, sondern primär Können, Wissen und Leistung über Karriere, Macht, Reichtum und Status der Individuen entscheiden. Dass dem so ist, gilt zumindest in der Wirtschaft und in nahezu allen Parteien als ausgemacht.

    Ein Blick in die Parteiprogramme zeigt, dass die CDU für die "solidarische Leistungsgesellschaft" und die SPD die "sozial gerechte Leistungsgesellschaft" zu ihrem Leitbild erkoren hat. Einig sind sich allerdings beide Parteien darin, dass in der postindustriellen Wissensgesellschaft vor allem Wissen und Bildung ausschlaggebend für die berufliche Karriere, den gesellschaftlichen Status und die Entlohnung sind. Davon sind auch weite Teile der Bevölkerung überzeugt, darunter auch viele von denen, die ansonsten keinen Zusammenhang zwischen dem Leistungsprinzip und der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes in unserem Land sehen.

    Wäre diese Annahme zutreffend, dann müssten auch und gerade bei der Besetzung gesellschaftlicher Spitzenpositionen in Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Politik die Kinder von Arbeitern und Angestellten bei gleicher Ausbildung und Qualifikation die gleichen Chancen haben wie die, deren Eltern dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum angehören. Der Soziologe Michael Hartmann hat die Probe aufs Exempel gemacht und Lebenslauf und Herkunft von 6500 promovierten Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 untersucht.

    Die Ergebnisse seiner empirischen Studie, die er unter dem Titel "Der Mythos von den Leistungseliten" veröffentlicht hat, sind nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Propagandisten der Leistungsgesellschaft, sondern lassen auch die heute allenthalben verkündete Botschaft, Bildung und Wissen seien in der Wissensgesellschaft der entscheidende Schlüssel zum beruflichen Erfolg, als haltlose Wunschphantasie erscheinen.

    Hartmann führt den Nachweis, dass männliche Kinder aus dem gehobenen Bürgertum eine um 46 Prozent, und die aus dem Großbürgertum sogar eine um 92 Prozent größere Chance als Arbeiter- und Mittelschichtkinder haben, nach einer Promotion in eine wirtschaftliche Führungsposition aufzusteigen. Frauen hingegen haben nach wie vor eine um 90 Prozent geringere Chance eine Spitzenposition in der Wirtschaft zu erreichen. In Justiz, Wissenschaft und Bildung haben zwar Mittelschichtkinder größere Chancen Karriere zu machen, aber wenn die Top-Positionen in der Wirtschaft knapp werden, haben auch hier die Kinder aus den gehobenen Milieus die besseren Chancen.

    Zum einen belegt Hartmanns Studie, dass die soziale Öffnung der Hochschulen in den letzten fünf Jahrzehnten keine Öffnung der Laufbahnen für alle Schichten zur Folge gehabt hat.

    Zum anderen vermittelt sie die Erkenntnis, dass entgegen dem Selbstverständnis gerade der Wirtschaftseliten, nicht Wissen und Leistung über den Zugang zu den maßgeblichen Machtpositionen in der Wirtschaft entscheiden, sondern die hinlänglich bekannten "feinen Unterschiede", die der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Ausdruck des klassenspezifischen Habitus beschrieben hat.

    Die Vertrautheit mit den Dress- und Verhaltenscodes auf den Chefetagen, eine bildungsbürgerliche Allgemeinbildung und die den großbürgerlichen Milieus eigene Souveränität und Selbstsicherheit, sind nach wie vor die entscheidenden Türöffner auf dem Weg nach ganz oben. Das gilt in einem geringeren Ausmaß auch für einflussreiche Positionen in der Justiz, der Wissenschaft und den staatlichen Verwaltungsapparaten. Die Wirtschaftselite wie Hartmann belegt, in ihrem Kern nach wie vor fest in der Hand des gehobenen Bürgertums und vor allem des Großbürgertums.

    Zu den Abschließungsstrategien dieser weitgehend geschlossenen Gesellschaft gehört auch die von diesen Kreisen immer wieder erhobene Forderung nach Elitenbildung. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als der Wunsch nach exklusiven Bildungseinrichtungen, die, weil sie nicht unter den Mängeln des öffentlichen Bildungssystems leiden, den ohnehin schon vorhandenen Vorsprung des eigenen Nachwuchses noch vergrößern würden.

    Gerade die Spitzenkräfte der Wirtschaft, die in den Medien besonders lautstark über die Leistungsfeindlichkeit des Sozialstaats lamentieren und Leistungsgerechtigkeit einklagen, sind der lebendige Beweis dafür, dass zumindest in den Chefetagen der Wirtschaft das Leistungsprinzip suspendiert ist und von Leistungsgerechtigkeit keine Rede sein kann. Nichts desto trotz hat sich in den fünf Jahren, die seit dem Erscheinen der viel beachteten Untersuchung Hartmanns vergangen sind, nichts an der Leistungsrhetorik der Politiker und der Wirtschaftsvertreter geändert. Nach wie vor versucht man der Bevölkerung einzureden, dass allein Leistung über sozialen Auf- und Abstieg entscheidet und jeden Zweifel an der leistungsgerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums als Sozialneid zu diskreditieren.

    Schaut man sich allerdings die in den letzten beiden Jahrzehnten erheblich veränderte Arbeitswelt an, dann ist unschwer zu erkennen, dass auch jenseits der Chefetagen das Leistungsprinzip längst suspendiert ist. Hat sich doch hier im Gefolge der Arbeitsmarktreformen und einer tief greifenden Veränderung der Organisations- und Produktionsstrukturen in der Wirtschaft eine Leistungskultur entwickelt, die auf einem entgrenzten Leistungsbegriff basiert und die Leistungsbewertung weitgehend dem Markt überantwortet hat.

    Indem aber der Markt bestimmt, was eine Leistung wert ist, befindet er auch darüber, was als Leistung gilt. Was sich nicht rechnet, so die Marktlogik, hat keinen Wert und somit auch keinen Anspruch auf Vergütung. Wenn etwa im Rahmen der Sozialstaatsreform gesellschaftlich unverzichtbare, bislang vom Staat erbrachte soziale Dienstleistungen nicht einfach wegfallen sollen, dann müssen für sie durch Hineinnahme privater Anbieter und die Anwendung von Controlling-Verfahren Marktpreise gefunden werden.

    Wo aber die Entscheidung darüber, was als Leistung gilt und was sie wert ist, dem Markt überlassen wird, erübrigen sich alle Diskussionen über Leistungsgerechtigkeit. Das ist die Quintessenz jener Leistungskultur, die sich hierzulande in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelt hat.

    Zu ihren signifikanten Kennzeichen gehört die Vermarktlichung und Subjektivierung der Arbeit. Sie markiert gleichsam den Abschied von der organisierten Industriegesellschaft und den Übergang zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts.

    Vermarktlichung der Arbeit heißt, dass die Güter- und Dienstleistungsproduktion in der postindustriellen Gesellschaft nicht mehr wie früher durch hierarchisch gegliederte Organisations- und Entscheidungsstrukturen vor den Schwankungen des Güter- und Arbeitsmarktes geschützt, sondern direkt an den Markt und den Kunden angekoppelt wird.

    Konkret bedeutet das, dass die Beschäftigten jetzt Firmenaufträge im direkten Kontakt mit dem Kunden zeitgerecht erledigen und die dafür notwendige Arbeit weitgehend selbst organisieren müssen. Die auf einzelne Projekte herunter gebrochene Produktion von Gütern und Dienstleistungen wird vom Management nur noch indirekt durch Zielvereinbarungen und die Vorgabe von Kennziffern gesteuert und kontrolliert. Die direkte Ankoppelung der Arbeit an den Markt beziehungsweise an den Kunden ermöglicht nicht nur eine auf die individuellen Bedürfnisse des Kunden zugeschnittene Dienstleistung zu erbringen, sondern sorgt auch für einen permanenten Kompetenzzuwachs bei den Mitarbeitern.

    Beides trägt wesentlich dazu bei, die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens auf dem Markt zu sichern. Neben den Kennziffern bilden auch die vielfach vom Management im Unternehmen organisierten internen Märkte, auf denen dann die Beschäftigten untereinander um Aufträge konkurrieren, ein wirksames Kontrollinstrument. In der Autoindustrie zum Beispiel konkurrieren in der Regel die verschiedenen Produktionsstandorte eines Konzerns um den Zuschlag für das jeweils neue Modell, indem sie ein entsprechendes Kostenangebot abgeben, aufgrund dessen das Management seine Entscheidungen fällt.

    Als eine weitere Kontrollinstanz im Dienste einer permanenten Effizienzsteigerung und Kostensenkung fungiert heute auch der Finanzmarkt, dessen Renditeerwartungen in die vom Management vorgegeben Kennziffern und die bereichsübergreifenden Betriebsziele Eingang finden. Der Übergang von den hierarchisch strukturierten und formell geregelten Arbeitsformen des Fordismus zu den heutigen Formen selbst organisierter teamförmiger Projektarbeit stellt indes erhebliche Anforderungen an die Beschäftigten. Sie sind heute, anders als im fordistischen Betrieb, gehalten ihr ganzes persönliches Potential bei der Arbeit einzusetzen, weshalb die Soziologen auch von der Subjektivierung der Arbeit sprechen.

    Die vom Management an die Beschäftigten delegierte Selbststeuerung des Arbeitsprozesses, die sich von der Prüfung der Arbeitsinhalte, der Planung der Arbeitszeit, der Organisation der Arbeitsabläufe und der Definition des Arbeitsortes, bis hin zur Kontrolle der Kosten und der Eruierung von Kooperationsmöglichkeiten erstreckt, erfordert eine Reihe von Fähigkeiten, die weit über den Bereich der fachlichen Qualifikation hinausgehen und bislang eher der privaten Sphäre vorbehalten waren.

    Dazu gehören etwa Flexibilität, Mobilität, Kommunikationsbereitschaft, Organisationsfähigkeit, Kreativität, Eigenständigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Konfliktfähigkeit. Um die vom Management an sie gestellten Ansprüche und Erwartungen erfolgreich erfüllen zu können, sind die Beschäftigten nicht nur gezwungen, sich stärker als früher mit den Zielen des Unternehmens zu identifizieren, sondern auch die Marktlogik zu verinnerlichen. Das birgt die Gefahr in sich, dass sie ihre eigenen Interessen gegenüber denen des Unternehmens aus den Augen verlieren oder gar beide miteinander verwechseln.

    Gewiss haben sich mit der Einführung der selbstorganisierten Projektarbeit nahezu alle Forderungen erfüllt, wie sie in den 70er Jahren unter dem Schlagwort "Humanisierung der Arbeit" gegen die abstumpfenden Auswirkungen des Taylorismus erhoben wurden. Dennoch erfahren die Beschäftigten die neue Arbeitssituation als überaus ambivalent. Einerseits entspricht sie ihrem Wunsch nach Zeitsouveränität und Selbstverwirklichung durch eigenständige Bearbeitung anspruchsvoller und abwechslungsreicher Aufgaben.

    Andererseits leiden viele unter den kontinuierlich steigenden Arbeitsanforderungen des Managements und dem ständig wachsenden Termindruck. Beides führt dazu, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben immer weiter erodieren.

    Darüber hinaus erzeugt auch der in vielen Unternehmen vom Management bewusst in Gang gesetzte Konkurrenzkampf zwischen einzelnen Betriebsteilen und Mitarbeitern erheblichen Psychostress, weil er Arbeitsplatzkonflikte und Mobbingpraktiken befördert, die einen vertrauensvollen Umgang miteinander stören und zu einer anhaltenden Verschlechterung des Arbeitsklimas führen.

    Schaut man sich an, wer abgesehen von der Wirtschaft, von diesem tief greifenden Wandel in der Arbeitswelt profitiert, dann sind das vor allem die am Leitbild des unternehmerischen Selbst orientierten postmodernen Symbolproduzenten, die der gehobenen Mittelschicht angehören. Für sie hat der amerikanische Ökonom Richard Florida den Begriff der "kreativen Klasse" geprägt. Diese ist im Gefolge der mikroelektronischen und digitalen Revolution in den 80er Jahren entstanden und gilt heute als die Elite der globalen Informations- und Wissensgesellschaft.

    Zu ihr zählen die hoch qualifizierten Dienstleister der relevanten Berufsgruppen in den Bereichen Informationstechnologie, Medien, Consulting, Konstruktion, Software-Entwicklung, Design, Forschung und Management, die mit der eigenständigen und kreativen Produktion innovativer symbolischer Güter befasst sind. Gut ausgebildet, flexibel, mobil und mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie bestens vertraut, arbeiten sie vorwiegend in zeitlich begrenzten und teamorientierten Projekten, in denen sie eine kreative und eigenständige Leistung erbringen. Sie erzielen in der Regel überdurchschnittlich hohe Einkünfte, und haben aufgrund ihres Wissens und ihrer hohen Problemlösungskompetenz ihren jeweiligen Arbeitgeber gegenüber eine starke Verhandlungsposition, die allerdings je nach Branche mit zunehmendem Alter abnimmt.

    Weit weniger profitiert die breite Masse der gut qualifizierten Angestellten und Facharbeiter von den neuen Arbeitsformen. Sie hat in der deregulierten Arbeitswelt so gut wie keinen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen und -strukturen und ist daher den Flexilibitäts- und Mobilitätsanforderungen der Unternehmen mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert.

    Die hohe Arbeitslosigkeit und die Rationalisierungswut der Unternehmen, lassen ihnen kaum noch einen Spielraum, um mit ihren Arbeitgebern über die Korrektur überzogener Leistungsansprüche oder eine den erhöhten Leistungsanforderungen entsprechenden Bezahlung zu verhandeln. Eher müssen sie, wie sich in der jüngsten Vergangenheit gezeigt hat, mit indirekten Lohnsenkungen durch Erhöhung der Wochenarbeitszeit oder unbezahlte Überstunden rechnen. Für viele, die sich bereits heute am unteren Ende der Lohnskala bewegen, dürfte die Fortsetzung der restriktiven Lohnpolitik der Unternehmen auf lange Sicht den Abstieg in die heute bereits schon große Gruppe der working poor bedeuten.

    Der eindeutige Verlierer der Arbeitsmarktreform aber ist die relativ große Gruppe der gering Qualifizierten und Unqualifizierten, für die es aufgrund des rapiden Rückgangs einfacher Tätigkeiten entweder keine oder nur noch miserabel bezahlte Arbeitsplätze gibt. Obwohl sie keine Chance haben, eine berufliche Leistung zu erbringen, werden sie von den Arbeitsagenturen in nachweislich sinnlose Maßnahmen oder oft entwürdigende Ein-Euro-Jobs gesteckt. Darüber hinaus sind sie auch noch gehalten permanent Nachweise ihrer Bemühungen um Arbeit erbringen. Das hat weniger mit "fordern und fördern" als mit politischem Zynismus zu tun.

    Der ungeschönte Blick auf den längst noch nicht abgeschlossenen Strukturwandel in der Arbeitswelt zeigt, dass in der Leistungskultur, die unterdessen hier vorherrscht, das Leistungsprinzip keine Geltung besitzt und von daher auch von Leistungsgerechtigkeit keine Rede sein kann.

    Zum Einen macht es die teamförmige Projektarbeit nahezu unmöglich, die Leistung halbwegs zu bestimmen, die der Einzelne bei der Erstellung des Endproduktes erbracht hat. Zum anderen hat die Entgrenzung der Arbeit zur Folge, dass nicht mehr festgestellt werden kann, welche Arbeitsleistung tatsächlich erbracht worden ist, um das Projektziel zu erreichen.

    Wo die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben weitgehend aufgelöst sind, ist des kaum noch möglich den Umfang der Arbeitsleistung zu eruieren, die letztlich erbracht werden musste, um das Projektergebnis zu realisieren. Hinzu kommt, dass heute nur noch die Leistung zählt, die von einem Markterfolg gekrönt wird. Leistungen, die keinen Markterfolg zeitigen, haben auch keinen Wert, gleichgültig wie hoch der dafür betriebene Aufwand war. Das Verhältnis von Aufwand und Ertrag, das Ausmaß von Anstrengung und Belastung, die gleichsam das innere Regelwerk des Leistungsprinzips bilden, wird vom Markt nicht berücksichtigt. Honoriert wird nur das Ergebnis nicht aber der dafür tatsächlich erbrachte Aufwand.

    Die Soziologen Sighard Neckel und Kai Dröge treffen daher den Nagel auf den Kopf, wenn sie in ihrem Aufsatz "Die Verdienste und ihr Preis" schreiben:

    "Der Markt ist mithin keine meritokratische Institution, die an sich schon Leistungen belohnt. Er verteilt nicht nach den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit, sondern nach dem günstigsten Angebot, der stärksten Nachfrage und den besten Preisen. Wenn aber Leistungen sich hauptsächlich nur im Markterfolg realisieren, und Markterfolge sich auch leistungsfrei einstellen können, bietet eine Gesellschaft des Marktes keine Gewähr, dass materielle Erfolge den Leistungsnormen entsprechen, die sie legitimieren sollen."

    In der Tat. Die neoliberale Marktgesellschaft, in der wir heute leben, ist keine meritokratische Leistungsgesellschaft, wenn man an die Entgrenzung des Leistungsbegriffs und die Implementierung des marktorientierten Leistungsdenkens in nahezu allen sozialen Bereichen denkt. Wo allein der Markt über den Wert der Leistung bestimmt gibt es keine Leistungsgerechtigkeit, sondern nur Gewinner und Verlierer, von denen der eine alles und der andere nichts bekommt.

    Unter diesem Blickwinkel erscheint der permanente rhetorische Rekurs unserer gesellschaftlichen Machteliten auf das Leistungsprinzip und auf Leistungsgerechtigkeit als eine durchsichtige Strategie, die in den letzten beiden Jahrzehnten durch Umverteilung von unten nach oben rapide gewachsene soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft zu legitimieren. Verliert doch die ungleiche Verteilung von Reichtum, Einkünften, Besitz, Status und Privilegien in unserer Gesellschaft weitgehend ihren skandalösen Charakter, wenn sie das Resultat von Leistung, Können und Wissen zu sein scheint.

    Das funktioniert allerdings nur so lange wie Leistung und Vergütung halbwegs in einem Verhältnis zueinander stehen, das nicht völlig den im gesellschaftlichen Bewusstsein verankerten Vorstellungen von Leistungsgerechtigkeit widerspricht. Es ist daher nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet die lautstärksten Propagandisten des Leistungsprinzips in jüngster Zeit den ohnehin schon lange abbröckelnden Glauben an seine Geltung noch weiter erschüttert haben.

    Massenentlassungen trotz exorbitanter Gewinne bei gleichzeitiger Erhöhung der Managergehälter um ein Vielfaches haben nicht nur die Volksseele zum Kochen gebracht, sondern auch die Apologeten des Leistungsprinzips in den politischen Parteien und den Medien zur offenen Kritik an der Selbstbedienungsmentalität der Konzernmanager genötigt. Weniger, weil das Verhalten der Manager zutiefst ihren ethischen Grundüberzeugungen zuwider läuft, sondern vor allem deshalb, weil deren Einkünfte das von ihnen in der medialen Öffentlichkeit hochgehaltene Leistungsprinzip allzu offensichtlich konterkariert und die Rede von der meritokratischen Leistungsgesellschaft als pure Ideologie entlarvt.

    Nicht zuletzt deshalb, fühlte sich offenbar der SPD-Vorsitzende Kurt Beck im August 2006 genötigt, das Verhalten der Manager als einen nicht hinnehmbaren Verstoß gegen die Prinzipien der von den Sozialdemokraten propagierten sozial gerechten Leistungsgesellschaft zu brandmarken. Unter der Überschrift "Leistung muss sich wieder lohnen" heißt es darin unter anderem:

    " Die Leistungsgesellschaft ist ein traditionelles Leitbild der SPD. Aufstieg durch Leistung anstelle von Privilegien und sozialer Herkunft war von Anfang an das Credo der Arbeitbewegung und jedes ernsthaften Demokraten. Über Jahrzehnte war es auch das Prinzip der Bundesrepublik. Generationen von Arbeiterkindern haben den Schritt in den Mittelstand geschafft. Heute wird dieses Leitbild zunehmend unglaubwürdig. Der Leistungsgedanke gerät ernsthaft in Gefahr, und zwar nicht, weil Gesetze dem Individuum keinen Bewegungsspielraum ließen. Vielmehr sind neuartige, anonyme Risikomärkte entstanden, auf denen die Leistung eines Menschen Lohn, Erfolg und Sicherheit weniger als früher bestimmt. [...] Leistung muss sich in einer gerechten Gesellschaft gerade für diejenigen Menschen lohnen, die nicht auf einem breiten Kapitalpolster sitzen.[...] Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen hat den Sinn für soziale Gerechtigkeit nicht verloren. Aus der Mitte der Gesellschaft wächst der Wille zur sozial gerechten Leistungsgesellschaft. "

    Bemerkenswert ist hier zweierlei: Einmal die Empörung darüber, dass die neoliberale Marktgesellschaft in zentralen gesellschaftlichen Bereichen nicht die Kriterien einer meritokratischen Leistungsgesellschaft erfüllt. Weitaus bedenklicher ist jedoch der Versuch, die wachsende soziale Ungleichheit allein anonymen Risikomärkten anzulasten, die im übrigen nicht so anonym sind, wie hier behauptet wird. Damit wird deutlich, wie fremd der Politik der Gedanke zu sein scheint, dass Märkte politisch beeinflussbar sein könnten. Verhalten sich Politiker damit nicht ähnlich wie jene attackierten Manager, die auch bei jeder Massenentlassung beteuern, sie seien selbst nur ein Opfer des Marktes. Fast möchte man meinen, dass Politiker, die vor der Wirtschaft und dem Markt nur noch mit den Achseln zucken, ihrerseits Leistungsverweigerer sind, die nicht erbringen, wofür sie eigentlich bezahlt werden.