Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
Zusammen mit den Opfern den Ort zurückerobert

Nach 25 Jahren als Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen geht Günter Morsch in den Ruhestand. Gemeinsam mit ehemaligen Häftlingen hat er die Gedenkstätte nach der Wende verändert und die Forschung um das Lager und den Lageralltag vorangetrieben.

Von Vanja Budde | 31.05.2018
    Günter Morsch, von 1993 bis 2018 Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen
    Günter Morsch war 25 Jahre lang Leiter der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Nun geht er in den Ruhestand (imago stock&people)
    Günter Morsch, ein großer, kräftiger Typ mit gepflegtem weißen Kinnbart, schreitet rasch voran. Man muss sehen, dass man hinterher kommt, durch das lichte Foyer der Gedenkstätte Sachsenhausen, mit Gestellen für Audioguides und wandhohen Regalen voll mit Literatur. Draußen macht der 65-Jährige einen großen Schritt über eine niedrige Mauer, die heute die Besucher direkt ins Informationszentrum leitet. Als er 1993 hier ankam, war das anders: "Wenn man die Gedenkstätte betreten hat, fand man einen ganz schmalen Schlauch vor. Da konnten höchstens zwei Leute nebeneinander gehen, und der Wachmann beäugte kritisch, wer denn da die Gedenkstätte betreten hat. Und dann ging man einen Weg, der überhaupt kein historischer Weg gewesen ist."
    Blick auf das Eingangsgebäude zur Gedenkstätte im ehemaligen KZ Sachsenhausen
    Blick auf das Eingangsgebäude zur Gedenkstätte im ehemaligen KZ Sachsenhausen (imago stock&people / Jürgen Ritter)
    Heute laufen die jährlich 700.000 Besucher aus aller Welt die alte Lagerstraße entlang, vorbei an Informationstafeln und überlebensgroßen Fotos. Morsch war schon 1972 aus einem Dorf im Saarland nach Berlin gegangen, hatte dort Geschichte, Psychologie und Philosophie studiert; arbeitete nach der Promotion am Rheinischen Industriemuseum in Oberhausen. Er wusste also, wie man Besucherströme lenken muss. 1995 machte er die Lagerstraße wieder zugänglich: "Das ist ein Anblick, den ich nicht vergessen werde. Die etwa 1.700 Überlebenden, die damals am 50. Jahrestag der Befreiung teilnahmen, gingen erstmals seit 1945 wieder diesen Weg, vorneweg die Norweger, große Männer mit riesigen Fahnen vorweg. Und sie haben sich dieses wieder zurückerobert."
    Die Neugestaltung zusammen mit den Überlebenden
    Zu DDR-Zeiten dagegen gelangten die Besuchergruppen außen herum durch ein Waldstück zur Kommandantur im Zentrum des ehemaligen Lagers, und sie stießen dort auf ein Glasbild von Walter Womacka mit dem Titel "Befreiung": "Das ist ein absichtlicher Prozess des Umdrehens. So haben wir auch absichtlich die Achsen wieder zurückgedreht in die historischen Achsen, denn uns geht es ja nicht darum - wie den Architekten der Mahn- und Gedenkstätte -, die Überwindung des Nationalsozialismus zu zeigen, sondern uns geht es darum, den Besuchern den Nationalsozialismus zu erklären."
    Es sei ein großes Glück gewesen, dass er und seine Mitarbeiter diese Neugestaltung noch mit den Überlebenden zusammen machen konnten, betont Morsch, der auch dem Kuratorium der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas angehört. 2013 wurde er für sein Engagement zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt.
    "Die überformten Orte der DDR, die nationalen Mahn- und Gedenkstätten, basierten in der Hauptsache auf einem Gespräch, das zwischen den deutschen kommunistischen Häftlingen und der Politik sowie dem historischen Museum damals stattgefunden hat. Das heißt: Die internationalen Häftlinge wurden überhaupt nicht gefragt über die Gestaltung dieser Orte."
    Morsch und sein Team setzten dagegen einen internationalen Beirat ein, in dem alle Gruppen vertreten waren: Nicht nur die Nationen, sondern auch der Zentralrat der Juden mit Ignaz Bubis, Romani Rose für die ermordeten Sinti und Roma, Homosexuelle.
    "Was ja auch der Häftlingsgemeinschaft entsprochen hat."
    Neue Mitarbeiter habe er für das Umkrempeln in den 90er Jahren nicht gebraucht, betont Morsch: Zwar seien die Gedenkstätten in beiden Teilen Deutschlands Bastionen des Kalten Krieges gewesen. In der DDR waren sie Stätten des staatlich verordneten Antifaschismus. Doch das habe sich schon in den letzten Jahren vor der Wende geändert: "Hatte man davor vor allen Dingen Kommunisten, insbesondere deutsche Kommunisten hervorgehoben, so gab es jetzt doch eine größere Pluralisierung."
    Die Forschung um die KZ-Historie startete neu
    Mitarbeiter spezialisierten sich, berichtet Morsch. Einige kümmerten sich dezidiert um das Schicksal der Juden in Sachsenhausen: "Es hat auch Versuche gegeben, an Geistliche zu erinnern, sogar viele. Es hat die Erinnerung an Sozialdemokraten wieder gegeben. Also man muss schon sehen: Ende der 80er-Jahre brach auch in der DDR dieses Monument des Antifaschismus doch allmählich zusammen und man öffnete sich." Dennoch stieß Morsch in Sachsenhausen auf schlechte Voraussetzungen: "Die DDR oder die nationale Mahn- und Gedenkstätte hatte so gut wie überhaupt nicht geforscht über die Geschichte des Konzentrationslagers Sachsenhausen."
    Aber das galt damals auch für die westdeutschen KZ-Gedenkstätten: "Und diesen Prozess nachzuholen, war sehr, sehr schwierig. Es gibt, wie ich etwas scherzhaft immer sage, nur zwei Entwicklungen, die umgekehrt von Ost nach West verliefen: Das eine ist das Ampelmännchen, das sich inzwischen auch im Westen durchgesetzt hat, und das andere sind tatsächlich die Gedenkstätten. Also auch die westdeutschen KZ-Gedenkstätten kamen mit zehn-, fünfzehnjähriger Verspätung dann in die institutionelle Förderung des Bundes hinein und haben diesen Paradigmenwechsel zum zeithistorischen Museum mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben nachvollzogen."
    Insofern geht Günter Morsch zufrieden - zwar nicht mit den Zeitläuften, wohl aber mit seiner beruflichen Leistung - in den Ruhestand, der keiner sein wird, denn er verlässt Sachsenhausen, aber lehrt weiter an der Freien Universität Berlin.
    Ein Vierteljahrhundert am Ort der Gräuel: Wie schützt man da die eigene Seele: "Ich habe versucht, in den ganzen Jahren ein Stück weit eine Distanz aufzubauen. Es ist mir nicht gelungen. Das Gegenteil ist der Fall, nicht ein Professionalisierungs- und Abhärtungsprozess ist eingetreten, sondern je länger es ist, umso schmerzlicher tut es, umso emotionaler gehe ich mit den Themen um. Warum? Weil sich in diesen vielen Jahren wirklich enge Verbindungen, ja Freundschaften zu den Überlebenden ergeben haben. Und ich stehe jetzt immer wieder vor Gräbern. Und diese Menschen sind mir teilweise ans Herz gewachsen, so wie Väter oder Mütter. Ich habe meinen Vater nicht so gut gekannt, wie ich manche Überlebende gekannt habe. Alles, was ich mir an Schutzwällen eigentlich - professionellen Schutzwällen - aufgebaut habe, ist in Konfrontation oder mit den Gesichtern derjenigen, die ich jetzt 20, 25 Jahre ... die uns begleitet haben, zerbröckeln diese Mauern. Und es wird eher schlimmer, als dass es besser wird."