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Leitkultur-Debatte
"Wir sind nicht Lederhose"

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat zehn Thesen zu einer deutschen Leitkultur veröffentlicht und damit eine heftige Debatte ausgelöst. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wies die Vorschläge zurück. Die Grüne Jugend findet deutliche Worte. Unterstützung erhält de Maizière vom Wirtschaftsflügel der Union.

01.05.2017
    dpa-picture-alliance/Markus C. Hurek
    Leitkultur im Souvenirshop (picture alliance / dpa / Markus C. Hurek)
    Auf den Satz des Innenministers "Wir sind nicht Burka" antworten die jungen Grünen: "Wir sind nicht Lederhose." In der Zeitung Die Welt haben sie eine ausführliche Replik auf die Thesen des CDU-Politikers veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: "Vaterlandsstolz ist gefährlich." In einer offenen Gesellschaft gehe es nicht darum, gemeinsam so "deutsch" zu sein wie möglich, sondern ein respektvolles Miteinander zu schaffen.
    Die Grünen-Politiker wehren sich zudem gegen den Akzent, den de Maizière auf Leistung legt. Der Minister hatte formuliert: "Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne stolz sein kann. Darauf antwortet ihm die Grüne Jugend: "Das Leistungsprinzip macht krank und verdient keinen Stolz. Ein gutes Zusammenleben kommt ohne Burn-out, Leistungsdruck und Ellenbogenmentalität aus."
    Leitkultur als "Richtschnur"
    De Maizière hatte in einem zweiseitigen Gastbeitrag für die "Bild am Sonntag" dargestellt, worin für ihn die deutsche Leitkultur besteht. Viele, so schreibt de Maizière, störten sich bereits an dem Begriff. Er finde ihn aber gut, weil "Kultur" für ungeschriebene Regeln des Zusammenlebens stehe und "leiten" etwas anderes sei als vorschreiben oder verpflichten - eine Richtschnur.
    Eben dieses Ziel, eine Anleitung zum Zusammenleben vorzugeben, stößt in der Tat auf breite Kritik. Der Kulturjournalist Nils Minkmar bezeichnet Leitkultur als einen "Kampfbegriff" - auch gegen die Kultur.
    Auch die niederländische Presse greift die Debatte auf. Aus Sicht der Zeitung De Volkskrant aus Amsterdam gibt de Maizières Leitkultur Einblick in die bisher noch weitgehend verborgene Wahlkampfstrategie der CDU: Sie werde etwas weiter rechts angesiedelt sein als vor vier Jahren.
    "Wir sind nicht Burka"
    Der Innenminister hatte in seinen 10 Thesen unter anderem "soziale Gewohnheiten" wie diese benannt: "Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand." Gesicht zu zeigen, sei Ausdruck des demokratischen Miteinanders. Im Alltag sei es wichtig, "ob wir bei unseren Gesprächspartnern in ein freundliches oder in ein trauriges Gesicht blicken. Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka."
    Besonders der letzte Satz, formuliert wie eine Bildzeitungs-Überschrift, rief viel Kritik und Spott hervor.
    FDP-Chef Christian Lindner kritisierte, in der Debatte gehe es letztlich wieder um Religion. "Ich finde, unsere Leitkultur sollte das Grundgesetz sein. Das ist offen für alle", betonte Lindner im ARD-Fernsehen. Auch der SPD-Vorsitzende Schulz berief sich auf das Grundgesetz. Er sagte der "Süddeutschen Zeitung", die deutsche Leitkultur sei Freiheit, Gerechtigkeit und ein gutes Miteinander, so wie es im Grundgesetz stehe.
    "Das kleine Einmaleins des Zusammenlebens"
    Unterstützung erhielt de Maizière unter anderem von der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Julia Klöckner. Sie erklärte, nicht die Thesen des Ministers, sondern die Reaktionen darauf seien ein Skandal: "Wo sind wir denn hingekommen, wenn ein Bundesminister nicht mehr ohne grenzenlose Empörungswelle des politischen Mitbewerbers aussprechen darf, was die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger denkt?" Die Forderungen de Maizières seien schlicht "das kleine Einmaleins unseres Zusammenlebens".
    Ähnlich sieht es der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach. Gerade vor dem Hintergrund der anhaltend starken Zuwanderung und der großen Bedeutung einer gelungenen Integration sei es "richtig und wichtig", über Regeln zu sprechen, sagte Bosbach dem Kölner Stadt-Anzeiger.
    Auch die Mittelstandsvereinigung der Union stellt sich an die Seite de Maizières.
    Sein Anstoß sei überfällig gewesen, sagte der Vorsitzende Linnemann der Deutschen Presse-Agentur. Jeder, der sich reflexartig dagegenstelle, müsse sich fragen lassen, wie er die Integration vorantreiben wolle. Der CDU-Wirtschaftsexperte fügte hinzu, jetzt müssten auch gesetzgeberische Schritte erfolgen. Appelle allein reichten nicht aus. Ähnlich äußerte sich Bayerns Innenminister Herrmann. Wer sich als Zuwanderer nicht integrieren wolle, müsse Deutschland in letzter Konsequenz verlassen, sagte der CSU-Politiker der Welt.
    "Ein politisch verbrannter Begriff"
    Der Deutsche Kulturrat begrüßte es, dass der Minister das Thema Kultur in den Fokus rücke. Doch der Begriff Leitkultur sei nicht nur politisch verbrannt, sondern auch missverständlich. Deshalb würden viele die Thesen reflexhaft ablehnen, obwohl es sinnvoll wäre, sich mit ihnen inhaltlich auseinanderzusetzen.
    Im Deutschlandfunk kommentierte Christine Habermalz: "Die Frage, wer wir sind und was wir sein wollen, als Land und als Gesellschaft, ist alles andere als obsolet. Diese Debatte müssen wir führen, schon allein, um sie nicht allein den Rechten zu überlassen."
    Die AfD, die selbst eine Leitkultur einfordert, wirft de Maizière vor, unglaubwürdig zu sein. Parteichefin Frauke Petry warf dem Minister vor, sich nur aus wahltaktischen Überlegungen so zu äußern.
    De Maizières Thesen zur Leitkultur im Überblick:
    • "Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka."
    • "Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert und nicht allein als Instrument."
    • "Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne stolz sein kann."
    • "Wir sind Erben unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen."
    • "Wir sind Kulturnation."
    • "In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft."
    • "Wir haben in unserem Land eine Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten."
    • "Wir sind aufgeklärte Patrioten. Ein aufgeklärter Patriot liebt sein Land und hasst nicht andere."
    • "Wie sind Teil des Westens. Kulturell, geistig und politisch."
    • "Wir haben ein gemeinsames kollektives Gedächtnis für Orte und Erinnerungen."
    (riv/vic/jcs/mw/tep)