Lenin, Liebe, Lust und Leidenschaft

Von Elke Suhr · 30.12.2008
"Die Forderung (der Frau) nach der Freiheit der Liebe rate ich überhaupt zu streichen", schreibt Lenin an seine einstige Geliebte Inès Armand, als sie ihm 1915 den Entwurf einer Broschüre über die "neue Ehe" unterbreitet. Kurz zuvor hat er der elegant-sinnlichen Schönheit aus revolutionstaktischen Gründen den Laufpass gegeben und ihrer beider intime Korrespondenz vernichtet.
Der Revolutionär will als treuer Ehekamerad seiner fürsorglich spröden Gattin Nadeshda Krupskaja in die Sowjetgeschichte eingehen. Der kleine Despot mit dem überdimensionalen Kahlkopf erotisierte Menschen und machte sie hörig. Alexandra Kollontai verließ für ihn ihre Familie und nahm unter seinem Druck Abstand von ihrem radikal-feministischen Standpunkt.

In einem Zwiegespräch mit Lenin über die Gefahr der "Hypertropie des Sexuellen" in der Revolution offenbart Clara Zetkin sich in der Rolle einer verliebten Papageiin. Männer wie Maxim Gorki, Leo Trotzki und Anatol Lunatscharski waren ihm in Liebe zugetan.

Lenin Ich kenne nichts Besseres als die Apassionata, ich könnte sie jeden Tag hören. Eine erstaunliche, nicht mehr menschliche Musik. Ich denke immer voller Stolz, der vielleicht naiv ist: Was für Wunder können Menschen vollbringen. Doch kann ich die Musik nicht oft hören, sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln, die in einer so widerwärtigen Hölle leben und so etwas Schönes schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln – die Hand wird einem abgebissen, man muss die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen.

Lenin, Liebe, Lust und Leidenschaft
Eine Erotik der Macht
Ein Feature von Elke Suhr


Kapitel I: Der Zetkin Zähmung

Zetkin Es war Frühherbst 1920, als ich Lenin wiedersah. Ich hätte Eide schwören können, dass er den gleichen bescheidenen, sauber gebürsteten Rock trug, in dem ich ihn 1907 zusammen mit Rosa Luxemburg auf dem Weltkongress der Zweiten Internationale gesehen hatte.

Luxemburg
Schau den da gut an, Clara. Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen, hartnäckigen Schädel. Ein echt russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, dass er daran zerschmettert.
Zetkin
Ich fand die Genossin Krupskaja und die Schwester Lenins beim Abendbrot, das zu teilen ich sofort herzlichst eingeladen wurde. Es war einfach, wie das Schwere der Zeit es forderte: Tee, Schwarzbrot, Butter, Käse. Mit ihrem glatt zurückgekämmten Haar, am Hinterkopf zu einem Knoten aufgesteckt, in ihrem schmucklosen Kleid konnte man die Genossin Krupskaja für eine abgehetzte Arbeiterfrau halten, deren ewige Sorge ist, Zeit zu sparen, Zeit zu gewinnen. Als Lenin kam und etwas später eine große Katze erschien, die dem "Schreckensführer" auf die Schulter sprang und es sich dann auf seinem Schoß bequem machte, hätte ich wirklich wähnen können, daheim zu sein oder bei Rosa Luxemburg und ihrer für die Freunde geschichtlich gewordenen Katze "Mimi". Ich äußerte gerade meine enthusiastische Bewunderung für die titanengleiche Kulturarbeit der Bolschewiki, als Lenin mich unterbrach.
Lenin
Erzählen Sie mir, wie es mit der kommunistischen Arbeit draußen steht, Clara.

Zetkin
Ich berichtete darüber, so gut ich konnte.

Lenin
Nicht übel, gar nicht übel!

Zetkin
Lenin hörte aufmerksam zu, den Oberkörper etwas vorgebeugt.

Lenin
Mir wurde erzählt, dass eine begabte Kommunistin in Hamburg Prostituierte für den revolutionären Kampf organisieren will. Ihr Sündenregister, Clara, ist noch größer. Es wurde mir erzählt, dass in den Lese- und Diskussionsabenden der Genossinnen besonders die sexuelle Frage behandelt wird. Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als ich das hörte. Der erste Staat der proletarischen Diktatur ringt mit den Gegenrevolutionären der ganzen Welt. Die tätigen Genossinnen aber erörtern die sexuelle Frage.

Zetkin
Ich warf ein, dass die sexuelle Frage und die Ehefrage unter der Herrschaft der bürgerlichen Ordnung vielgestaltige Probleme, Konflikte, Leiden für die Frauen aller sozialen Klassen zeitigte.

Lenin
Schon der weise Salomon sagte, das alles seine Zeit hat. Ich bitte Sie, ist jetzt die Zeit, monatelang die Proletarierinnen damit zu unterhalten, wie man liebt und sich lieben lässt, wie man freit und sich freien lässt?

Zetkin
Noch ehe ich antworten konnte, fuhr Lenin fort:

Lenin
Auch die Jugendbewegung krankt an der "Modernität" der Einstellung zur sexuellen Frage und an der überwuchernden Beschäftigung mit ihr.

Zetkin
Lenin betonte das Wort Modernität ironisch und schnitt eine ablehnende Grimasse.

Lenin
Obwohl ich nichts weniger als ein finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte "neue sexuelle Leben" der Jugend - manchmal auch des Alters - oft genug als eine Erweiterung des bürgerlichen Bordells.

Zetkin
Eine energische Handbewegung unterstrich seine Gedanken.

Lenin
Sie kennen gewiss die famose Theorie der Genossin Kollontai, dass in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses, so einfach und belanglos sei wie "das Trinken eines Glases Wasser". Diese Theorie hat einen Teil unserer Jugend toll gemacht, ganz toll. Gewiss! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist?

Zetkin
Ich fühlte an jedem Wort, dass es ihm aus der Seele kam, der Ausdruck seiner Züge bekräftigte es. "Genosse Lenin", rief ich aus. "Sie wissen ja, mich brauchen Sie nicht zu bekehren. Aber wie wichtig wäre es, dass Freund und Feind Ihre Meinung hörten."

Lenin
Meiner Ansicht nach gibt die jetzt häufig beobachtete Hypertropie des Sexuellen nicht Lebensfreude und Lebenskraft, sie nimmt nur davon. Im Zeitalter der Revolution ist das schlimm, ganz schlimm. Turnen, Schwimmen, Wandern, Leibesübungen jeder Art, Vielseitigkeit der geistigen Interessen. Das alles wird der Jugend mehr geben. Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte. Sie duldet keine orgiastischen Zustände, wie sie für D'Annunzios dekadente Helden und Heldinnen das Normale sind.

Zetkin
Lenin sprang auf, schlug mit der Hand auf den Tisch und machte einige Schritte im Zimmer.

Lenin
In der Partei, beim klassenbewussten, kämpfenden Proletariat, ist kein Platz dafür. Das Proletariat ist eine aufsteigende Klasse. Es braucht nicht den Rausch. Gesunder Körper, gesunder Geist!

Zetkin
Lenin blickte auf die Uhr.

Lenin
Sie sollten Richtlinien ausarbeiten, die scharf zum Ausdruck bringen, dass wahre Frauenbefreiung nur möglich ist durch den Kommunismus.

Zetkin
Sowjetrussland beweist es. Das wird unser großes Schulbeispiel sein.

Lenin
Wir gründen Gemeinschaftsküchen und öffentliche Speisehäuser, Erziehungsinstitute. Dadurch wird die Frau von der Abhängigkeit vom Mann erlöst.

Zetkin
Während der letzten zehn Minuten hatte es zweimal geklopft. Jetzt öffnete er die Tür und rief hinaus:

Lenin
Ich komme sofort!

Zetkin
Zu mir gewandt setzte er lachend hinzu:

Lenin
Wissen Sie, Clara, ich nutze es aus, dass ich mit einer Frau zusammen war. Ich erkläre natürlich meine Verspätung mit der bekannten weiblichen Beredsamkeit.
(Entfernt sich, brabbelt berühmte Zitatfragmente vor sich hin) Die Partei säubert sich von kleinbürgerlichem Unrat. Massenterror einführen, Hunderte von Prostituierten erschießen und deportieren! ...

Intermezzo auf dem Boulevard-Bolschewismus (1)

Tourist
Keine Huren streichen. Auch in der Nacht sind die Straßen Moskaus dirnenfrei. In keiner Stadt der Welt sah ich die Frauen so sittsam. Ich beobachte eine Stunde lang fünf Mädels, wunderhübsche, knallbackige darunter. Sie schieben pustend einen müllgefüllten Waggon. Mir kamen Gedanken an den parfümverpesteten Kurfürstendamm. An diese Sodomstraße, diesen Drecksasphalt, auf dem die Weibsen jede Lebensmöglichkeit versauen. Ich sah ideale Hosenlöcher, ideale Rockfransen und Schuhe, aus denen die Hühneraugen trotzig in die Luft blickten. Viele Frauen tragen weiße Socken, die nur wenig über den Schuhrand herausragen. Sonst sind die Beine nackt. Diese Nacktheit stört keinen Menschen in Moskau, gibt nicht den geringsten Anlass zu erotischem Zynismus und wirkt auch keineswegs indezent. So viel elegantes Schuhwerk wie in Moskau, elegante Männerstiefel bis zur Dickwade und besonders elegante Frauenschuhe, nicht ganz bis zur Dickwade, habe ich noch in kaum einer anderen Stadt gesehen. Die Moskauer Frauen können sich über Schuhnot nicht beklagen. Es herrscht, offiziell gesprochen, schwerer Schuhmangel, aber die inoffizielle Beschuhung ist ausreichend. Auch Schiefabsätze und sonstige Schuhunmöglichkeiten habe ich erblickt. Aber eine Schuhverlumpung sah ich so wenig wie eine Kleiderverlumpung.

Kapitel II: Lenins Lachen

Lenin
Wir schreiten als eng geschlossenes kleInes Häufchen, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und abgründigem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen stets unter ihrem Feuer marschieren.

Krupskaja
Lenin war ein kämpferischer Mensch. Er reagierte sehr stark und wurde blass, wenn er erregt war. Er pflegte im Zimmer auf und ab zu gehen und sich einen Artikel leise vorzusprechen, bevor er ihn schrieb. Wenn er nach einer Auseinandersetzung nach Hause kam, war er oft düster, schweigsam und verärgert. Musikhören erschöpfte ihn. Er konnte Blumen im Zimmer nicht leiden.

Lenin (Gebrabbel)
Wir haben uns nach frei gefasstem Beschluss, eben zu diesem Zweck zusammengetan, um gegen die Feinde zu kämpfen und nicht in den benachbarten Sumpf zu geraten, dessen Bewohner uns von Anfang an dafür schalten, dass wir uns zu einer besonderen Gruppe vereinigt und den Weg des Kampfes und nicht den der Versöhnung gewählt haben.

Krupskaja
Ich wurde 1898 zu drei Jahren Verbannung im Gouvernement Ufa verurteilt. Ich bat, mich in das Dorf Schuschenskoje zu schicken, wohin Wladimir Iljitsch verbannt war. Ich reiste auf eigene Kosten, und meine Mutter begleitete mich.

Lenin (Gebrabbel)
Und nun beginnen einige von uns zu rufen: "Gehen wir in diesen Sumpf!" Will man ihnen ins Gewissen reden, so erwidern sie: "Was seid ihr doch für rückständige Leute! Und ihr schämt euch nicht, uns das freie Recht abzusprechen, euch auf einen besseren Weg zu rufen!"

Krupskaja
Wladimir Iljitisch strotzte geradezu vor Gesundheit. Er schaffte sich Lederhosen an und stapfte durch alle Sümpfe. Was gab es da für Wild!

Lenin (Gebrabbel)
Lasst unsere Hände los, klammert euch nicht an uns und besudelt nicht das große Wort "Freiheit".

Krupskaja
Mama und ich kämpften vereint mit dem russischen Ofen. Im Gemüsegarten zogen wir allerlei Grünzeug: Gurken, Möhren, Rüben, Kürbis. Wir schafften uns auch noch ein Kätzchen an.

Lenin (Gebrabbel)
Wir haben die "Freiheit" zu gehen, wohin wir wollen, die Freiheit, nicht nur gegen den Sumpf anzukämpfen, sondern auch gegen diejenigen, die sich dem Sumpf zuwenden!

Krupskaja
In Schuschenskoje gab es unter den Verbannten den polnischen Hutmacher Prominski. Er sang sehr schön die polnischen revolutionären Lieder. Die Kinder sangen mit, auch Wiadimir Iljitisch, der in Sibirien sehr gern und viel sang, gesellte sich zu dem Chor.

Lenin (Gebrabbel)
Keine Polizeischikanen können verhindern, dass einhellig das proletarische Lied von der nahen Befreiung der Menschheit aus der Lohnsklaverei erklingt.

Krupskaja
Er erzählte einmal lachend, wie die kleinen Mädchen ihn nachahmten. Die Arme auf dem Rücken verschränkt gingen sie nebeneinander im Zimmer auf und ab, wobei eine immer "Bernstein" sagte und die andere "Kautsky" antwortete.

Lenin (Gebrabbel)
O ja, meine Herren, ihr habt die Freiheit, nicht nur zu rufen, sondern auch zu gehen, wohin ihr wollt, selbst in den Sumpf hinein; wir sind sogar der Meinung, dass euer wahrer Platz gerade im Sumpfe ist, und wir sind bereit, euch nach Kräften bei eurer Übersiedlung dorthin zu helfen.

Krupskaja
Wladimir Iljitsch spielte Schach per Brief. Eine Zeitlang war er davon so hingerissen, dass er manchmal sogar aus dem Schlaf hochfuhr.

Lenin
Geht er mit dem Springer dahin, so gehe ich mit dem Turm dorthin!

Krupskaja
Nach seiner Rückkehr nach Russland gab er das Schachspiel wieder auf.

Lenin
Das Schachspiel nimmt einem zuviel Zeit weg, das beeinträchtigt die Arbeit.

Krupskaja
Wladimir Iljitisch hat schon in früher Jugend verstanden, auf alles zu verzichten, was ihn ablenkte.

Lenin
Als ich noch aufs Gymnasium ging, lief ich gern Schlittschuh, wurde aber müde davon und konnte schlecht lernen. Deshalb unterließ ich es.

Krupskaja
Man steht am Waldessaum. Das Flüsschen rauscht. Die Auerhähne balzen. Wie man sich hingerissen fühlt von dem brausenden Erwachen der Natur! Wladimir Iljitsch war ein leidenschaftlicher Jäger, nur etwas zu hitzig.

Lenin
Kennen Sie den? Marx, Engels und ich werden gefragt, ob wir lieber eine Ehefrau hätten oder eine Geliebte. Marx entscheidet sich für seine Jenni, Engels zieht die Geliebte vor und Lenin will beide. Dann kann er der Geliebten erzählen, er sei bei der Krupskaja und der könne er erzählen, er besuche die Geliebte. In Wahrheit aber täte er nur immer das eine: "Lernen, lernen, lernen."

Krupskaja
Oh, wie er lachen konnte! 1900 reiste er mit legalem Pass ins Ausland. Als ich nach München kam, lebte er dort wie ein Junggeselle. Zu Mittag aß er bei einer Frau, die ihm dauernd Mehlspeisen vorsetzte. Den Tee trank er morgens und abends aus einem Blechbecher, den er selbst sorgfältig säuberte und an einem Nagel über dem Aufguss aufhängte. Ich beschloss, ihn mit häuslicher Kost zu versorgen, und begann selber zu kochen. Dabei bemühte ich mich, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen, denn Wladimir Iljitsch schrieb damals schon an seiner Broschüre "Was tun?" Später, beim Spazierengehen, erzählte er, worüber er gerade schrieb und nachdachte. Das wurde ihm ebenso zum Bedürfnis, wie seine Reden vor dem Spiegel einzustudieren.
Lenin spielt Tonband ab und versucht, Lenin nachzusprechen.

Lunatscharski
Ich muss von einer schweren Sünde beichten: Mitunter war es für mich ein unendliches Vergnügen, die Musik von Iljitschs Gesichtsausdruck zu genießen: jenes Stählerne, Geschmiedete, was seine Rednergabe kennzeichnete. Das Gesicht des geliebten Menschen.

Krupskaja
Oh, Anatoli Lunatscharski!
Sein ganzes Leben lang maß Wladimir Iljitsch den Kongressen der Partei außerordentliche Bedeutung bei. Einmal war er so überreizt, dass er an einer schweren Nervenkrankheit erkrankte, dem "heiligen Feuer", einer Entzündung der Nervenenden an Brust und Rücken. Eine Art Gürtelrose.

Lunatscharski
In dieser Hinsicht war ich sündig.

Krupskaja
Man fing an, Lenin wegen der Broschüre "Was tun?" anzugreifen, man stellte ihn als ehrgeizigen Streber hin. Wir packten unsere Rucksäcke und gingen ins Gebirge. Abends fielen wir todmüde ins Bett und schliefen sofort ein. Wir hatten wenig Geld und ernährten uns meist von Käse und Eiern. Dazu tranken wir Wein oder Quellwasser. Nach einem Monat, den wir auf diese Weise zugebracht hatten, kamen Wladimirs Nerven wieder ins Gleichgewicht. Als hätte er sich mit dem Wasser aus einem Bergquell gewaschen und das ganze Spinngewebe kleinlichen Gezänks von sich abgestreift.

Lunatscharski
Iljitsch hatte mich in einem nachdrücklichen Brief her beordert. Nadeshda Konstantinowa spielte die Rolle unserer Parteimutter. Sie war immer ruhig und zurückhaltend. Sie wusste alles.

Krupskaja
Als die Meldungen über die Revolution von 1905 in Genf eintrafen, war es, als ob sich die ganze Umwelt mit einem Schlag verändert hätte. Viele reisten ab, viele bereiteten die Abreise vor. Iljitsch war mit allen seinen Gedanken in Russland.

Lunatscharski
Er kochte, politisch gesehen. Er trieb an, die Nachrichten aus Russland schneller zu entziffern, und stürzte sich gierig auf sie. Und sofort gab ihm eine kurze Nachricht Anlass zu ausgezeichneten Verallgemeinerungen.

Krupskaja
Er wurde ganz vergnügt und abends, wenn er nach Hause kam, ertönte ein ungestümes Bellen - Iljitsch weckte im Vorbeigehen den Kettenhund.

Lunatscharski
Ich erinnere mich an eine Nacht richtigen Fröhlichkeitstaumels in Genf. Wladimir Iljitsch hatte seine Mütze in den Nacken geschoben. Mit der Sorglosigkeit eines Kindes gab er sich dem fröhlichen Treiben hin. Er bog sich vor Lachen, und Funken der Lebensfreude blitzten in seinen verschmitzten Augen.

Intermezzo auf dem Boulevardbolschewismus (2)

Tourist
Kein Moskauer Bureau, kein Sowjetflur ohne ein Leninbild. Ohne ein Bild des halblächelnden Leninkopfes mit der etwas schiefen Haltung am Schreibtisch. Mit dem weichen Kragen (festgestärkte Kragen gibt es in Moskau nicht, denn es gibt keine Stärke). Lenin, Lenin überall. Läden, in denen, mit roten Puscheln behängt und mit roten Rahmen umgeben, die Bilder von Wladimir Iljitisch Lenin prangen. Es gibt ein Lenin-Museum in Moskau, in dem du hundertmal den Leninkopf siehst. Ich habe tausendmal den Leninkopf gesehen, aber zum ersten Male sah ich das Gesicht des Kindes Lenin. Wenn ihr Lenin ganz kennen wollt, müsst ihr das Bild des Kindes Lenin studieren. Das Kind Lenin ist der Mann Lenin. Wenn du das Bild des Kindes Lenin geradewegs auf dich wirken lässt, dann weißt du auch, dass Lenin nicht grausam war. Nur Kinder können die Welt beschleunigen.

Kapitel III: Genosse Drin Drin

Luxemburg
Gestern ist Lenin gekommen und war bis heute schon vier Mal hier. Ich rede mit ihm gern, er ist gescheit und gebildet und hat eine gar so hässliche Fratze, die ich gern sehe. Hier ist wieder warm und lind, ganz Frühling. Die arme Mimi macht "kuru!". Sie hat dem Lenin mächtig imponiert.

Lenin
Nie, niemals habe ich geschrieben, dass ich nur drei Frauen schätze.

Luxemburg
Sie kokettierte auch mit ihm, wälzte sich auf dem Rücken und lockte ihn, versuchte er sich aber zu nähern, dann haute sie ihn mit dem Pfötlein und fauchte wie ein Tiger. Er sagte, er hätte nur in Sibirien so stattliche Tiere gesehen, sie sei eine barskij kot – eine herrschaftliche Katze.

Lenin
Rosa Luxemburg war und bleibt ein Adler auf dem Hinterhof der Arbeiterbewegung, zwischen Misthaufen und Hühnern des Opportunismus.

Gorki
An seiner Haltung war etwas erstaunlich Liebenswertes und Komisches - etwas von einem sieghaften Hahn. Er wirft den Kopf nach hinten, legt ihn etwas zur Seite und klemmt die Finger hinter die Achseln, hinter den Ärmelausschnitt der Weste. In solchen Momenten strahlt er vor Freude, ein großes Kind dieser verdammten Welt.
Sein Lachen zog die Arbeiter an.

Lenin
Hmm, hmm....

Gorki
Dieser kahlköpfige, untersetzte, kräftige Mann, der das R. schnarrte, mit der einen Hand seine sokratische Stirn rieb, mit der anderen an meinem Arm zog, wobei die erstaunlich lebhaften Augen zärtlich glänzten, begann (auf dem Londoner Parteitag) sofort über mein Stück die ”Mutter” zu sprechen.
Lenin
Ein Buch sehr zur rechten Zeit, Genosse Gorki.

Gorki
An allem sah man, dass er sich selbst vernachlässigte, daher verblüffte mich seine bewundernswerte Sorge um die Arbeiter.

Lenin
Was meinen Sie: Leiden sie auch keinen Hunger? Nein? Hm, hm... Vielleicht sollte man doch mehr belegte Brote reichen?

Gorki
Er kam in das Hotel, in dem ich abgestiegen war, und ich sehe, er befühlt besorgt das Bett. – "Was machen Sie denn da?"

Lenin
Ich gucke, ob die Laken feucht sind.

Gorki
Lenin beobachtete sehr genau das Leben der Genossen. Seine Aufmerksamkeit für sie wurde zur Zärtlichkeit, wie sie nur einer Frau eigen ist.

Lenin
Sie müssen auf Ihre Gesundheit acht geben!

Gorki
Die freien Minuten und Stunden verbrachte Lenin unter den Arbeitern und erkundigte sich nach den unbedeutendsten Kleinigkeiten ihres Lebens.

Lenin
Wie steht es mit den Frauen? Geht die Wirtschaft über ihre Kräfte? Lernen sie trotzdem, lesen sie?

Gorki
Seinem kurzen, charakteristischen "Hm, hm” verstand er eine unendliche Skala von Klangfarben zu verleihen.

Lenin
Hol's der Teufel, es ist ungeheuer verlockend, zu Ihnen nach Capri zu kommen, Genosse Gorki. Weißen Capreser trinken, Neapel anschauen und mit Ihnen plaudern. Übrigens habe ich angefangen, Italienisch zu lernen. Hören Sie mal ...

Gorki
Er sprach nicht italienisch, doch er hatte das offenherzige Lachen eines Menschen, der ausgezeichnet die Schwerfälligkeit der menschlichen Dummheit sah. Niemals habe ich einen Menschen getroffen, der so ansteckend lachen konnte wie ein Kind. Dann spielte er voller Leidenschaft (Schach). Wenn Lenin verlor, ärgerte er sich und wurde sogar traurig wie ein Kind. Das ist bemerkenswert: Sogar dieses kindliche Traurigsein, ebenso wie sein erstaunliches Lachen, zerstörte nicht den Eindruck der Vollkommenheit. Im schwankenden Kahn, auf Wellen, blau und durchsichtig wie der Himmel, lernte Lenin "mit dem Finger" angeln, ohne Rute, nur mit der Schnur. Die Fischer erklärten ihm, dass man anziehen muss, wenn die Angelschnur am Finger zuckt: "Cosi: drin-drin, capisci?"
"Sofort zog er die Schnur an - ein Fisch hatte angebissen, er holte ihn heraus und schrie mit der Begeisterung eines Kindes und der Leidenschaft eines Jägers: "Aha! Drin-drin!" Die Fischer lachten ohrenbetäubend und ebenfalls voller Freude wie die Kinder und tauften den Angler "Signore Drin-drin".

Lenin
Humor ist eine herrliche, gesunde Eigenschaft. Komisches gibt es im Leben wahrscheinlich nicht weniger als Trauriges. Ich verstehe Humor sehr gut, aber ich besitze keinen.

Intermezzo auf dem Boulevard Bolschewismus (3)

Tourist
Ich sprach auswärtige Händler und Agenten, die kürzlich in Moskau waren, um dort an der Revolution zu verdienen. Die Moskauer Wurst, so herrlich sie ist, hat ihnen gar nicht so gut geschmeckt wie die Londoner Wurst oder die Pariser Wurst oder gar die Berliner Wurst, die ja eine kapitalistische Idealwurst ist, eine Schweinewurst sondergleichen. Mir hat die Moskauer Wurst sehr gut geschmeckt, für mich war es schon eine Anfangsgemeinschaftswurst. Ich schmecke nicht nur das Schweinefleisch oder das Rindfleisch heraus, sondern schon die Gemeinschaft der Menschen, die einen ganz eigenen Geschmack hat ...

Kapitel IV: Apassionata

Krupskaja
1910 traf Ines Armand aus Brüssel ein und wurde sofort zu einem aktiven Mitglied unserer Pariser Gruppe. Sie hatte drei ihrer fünf Kinder bei sich, zwei Töchter und einen kleinen Sohn. Sie war eine leidenschaftliche Bolschewikin.

Ines
Damals hatte ich schreckliche Angst vor Dir. Ich hatte den Wunsch, Dich zu sehen, aber es schien besser, auf der Stelle tot umzufallen, als in Deine Nähe zu kommen; als Du einmal aus irgendeinem Grund in Nadeshda Krupskajas Zimmer geplatzt kamst, verlor ich sofort den Kopf und benahm mich wie eine Närrin. Erst im Herbst danach bei den Übersetzungen usw. habe ich mich einigermaßen an Dich gewöhnt. Ich fand es herrlich, Dir nicht nur zuzuhören, sondern auch zuzusehen, wenn Du sprachst. Erstens ist Dein Gesicht dann so belebt, und zweitens war es eine gute Gelegenheit, Dich zu beobachten, weil Du damals noch nicht darauf geachtet hast, Damals war ich definitiv noch nicht in Dich verliebt, aber geliebt habe ich Dich schon sehr.

Krupskaja
Mit den Krakauer Bibliotheken konnte sich Lenin nur schwer anfreunden. Er begann Schlittschuh zu laufen, aber bald kamen Tauwetter und der Frühling. Es war herrlich im Walde, die Sträucher standen in voller Blüte, die Zweige der Bäume trugen pralle Knospen. Der Frühling machte uns ganz trunken. Ines Armand war im September 1912 verhaftet worden und hatte unter falschem Namen im Gefängnis gesessen, wo die schlechten Verhältnisse ihre Gesundheit untergruben. Als sie nach Kraukau kam, zeigte sie Anzeichen einer beginnenden Tuberkulose. Iljitsch und ich gingen viel mit ihr spazieren. Sie lebte Musik sehr und veranlasste uns, alle Beethovenkonzerte zu besuchen; sie spielte selbst gut Klavier. Es fand sich hier kein geeignetes Tätigkeitsfeld, wo Ines ihre Energie, die sie gerade in dieser Periode in besonderer Überfülle besaß, anwenden konnte. Deshalb beschloss sie, zuerst unsere Auslandsgruppen zu besuchen.

Ines
Du und ich, wir haben uns getrennt, mein Lieber, wir haben uns getrennt. Ich weiß es, ich fühle es; Du wirst nie mehr herkommen! Beim Anblick all der liebgewordenen Orte wurde mir so klar wie nie zuvor, welchen großen Platz Du in meinem Leben hier in Paris eingenommen hast, so dass fast alles, was ich hier in Paris tat, durch tausend Fäden mit Gedanken an Dich verknüpft war. Damals war ich definitiv noch nicht in Dich verliebt, aber geliebt habe ich Dich schon sehr. Im Augenblick könnte ich schon ohne die Küsse auskommen: Dich nur zu sehen und manchmal mit Dir zu sprechen wäre schon eine Freude - und könnte niemandem weh tun. Was war der Grund, mir das zu nehmen? Du fragst, ob ich böse auf Dich bin, weil Du den Bruch "durchgeführt" hast. Nein, ich bin nicht böse. Ich glaube, Du hast es nicht um Deinetwillen getan.

Lenin
Dear friend!
Paris ist ein günstiges Zentrum für Erkundigungen und "Diversion". Man muss publizieren. Aber wir haben weder Geld noch eine Druckerei, außer in Paris. Deshalb ist es für die Partei von aller größter Wichtigkeit, dass in Paris die Herausgabe organisiert wird. Ich bitte Dich sehr, und nicht nur "dienstlich", das zu tun.

Krupskaja
In Krakau gelang es uns (1914) ziemlich schnell, das Recht der Ausreise in die Schweiz - zu erhalten. Meine Mutter war kurz zuvor "Kapitalistin" geworden. Eine Schwester von ihr, eine Lehrerin, war gestorben und hatte ihr ihr ganzes Vermögen vermacht - unsere Hauptexistenzquelle. Es war ein wunderbar schöner Herbst. Wir wohnten in Bern auf dem Distelweg, einer kleinen, sauberen, stillen Straße, die zum Berner Wald führt, der sich einige Kilometer weit hinzieht. Gegenüber von uns wohnte Ines. Wir streiften stundenlang auf den mit raschelnden gelben Blättern bedeckten herbstlichen Waldwegen umher. Meist gingen wir zu dritt - Iljitsch, Ines und ich. Lenin entwickelte seine internationalen Kampfpläne. Ines ging das alles sehr nahe. Mitunter saßen wir stundenlang an einem buschbewachsenen, sonnigen Berghang. Lenin verfasste die Konzepte für seine Reden und Artikel, ich lernte Italienisch aus einem Toussaint-Langenscheidtschen Lehrbuch, Ines nähte irgendwas und ließ sich wohlig von der Herbstsonne bescheinen - sie hatte sich von ihrem Gefängnisaufenthalt immer noch nicht ganz erholt.

Ines
Ich habe niemanden mehr außer Wladimir Iljitisch, meine Kinder und einige persönliche Bekannte, aber nur in der Arbeit. Und die Menschen können diese Leblosigkeit in mir spüren, und sie zahlen es mir in der gleichen Münze der Gleichgültigkeit und sogar Abneigung heim (dabei haben die Menschen mich früher geliebt).


Krupskaja
Gleichzeitig waren die Vorbereitungen zu einer Internationalen Frauenkonferenz im Gang. Wichtig war es natürlich, dass sie keinen pazifistischen Charakter trug und sich auf einen konsequent revolutionären Standpunkt stellte. Es waren daher umfangreiche Vorbereitungsarbeiten notwendig, die hauptsächlich Ines zufielen. Ines eignete sich besser als alle anderen für diese Arbeiten. Außerdem beherrschte sie mehrere Sprachen. Und so begann sie eine Korrespondenz mit Clara Zetkin, Alexandra Kollontai und Angelika Balabanowa.

Balabanoff
Mich (begann) die Psychologie Lenins zu interessieren, als er noch nicht berühmt und mächtig war, ein von der Internationale als Störenfried betrachteter Sonderling. Mir (fiel) die primitive Art auf, wie er gewisse Probleme formulierte.

Krupskaja
Iljitsch fängt an, Ines zu überreden, sofort zu Clara Zetkin zu gehen und sie von der Richtigkeit unseres Standpunktes zu überzeugen; sie müsse doch verstehen, dass man in diesem Augenblick nicht zum Pazifismus herabsinken dürfe.

Balabanoff
Es war zum Lachen, wenn ein Mann wie Lenin den ganzen Tag in einem Café saß, wo die Delegierten seiner Fraktion ihm alles hinterbrachten, was in der Konferenz vorging und sich von ihm die Richtlinien ihres Verhaltens vorschreiben ließen. Es war ein dauerndes Kommen und Gehen.

Krupskaja
Alexandra Kollontai schrieb Lenin und mir einen Brief, zur Konferenz selbst konnte sie nicht kommen.

Kollontai
Mich erreicht Lenins Stimme über das gedruckte Wort. Dabei gibt es so glückliche Genossen, die ihn persönlich kennen. Ob ich Lenin wohl auch einmal zu Gesicht bekommen würde. Meinen kleinen Mischa könnte ich bei den Eltern lassen. Ich küsse seine schweißfeuchte Stirn, decke ihn ordentlich zu und gehe ins Nebenzimmer, um Lenin weiterzulesen.

Ines
Ich will auch eine Broschüre über die Familie schreiben.

Lenin
Über Ines muss ich meine Meinung schon jetzt sagen: Die "Forderung der (Frau) nach Freiheit der Liebe" rate ich überhaupt zu streichen. "Selbst eine flüchtige Leidenschaft und Verbindung" sei "poetischer und reiner" als "Küsse ohne Liebe" zwischen (spießigen und verspießerten) Eheleuten. So schreiben Sie. Und so wollen Sie in der Broschüre schreiben. Ausgezeichnet. Ist diese Gegenüberstellung logisch? Küsse ohne Liebe zwischen spießigen Eheleuten sind schmutzig? Einverstanden. Sie stellen ihnen eine "flüchtige" (/warum flüchtige?) "Leidenschaft (warum nicht Liebe?) gegenüber - es ergibt sich also logischerweise, dass flüchtige Küsse ohne Liebe ehelichen Küssen ohne Liebe gegenübergestellt werden. Hierbei kommt in Wirklichkeit keine proletarische, sondern eine bürgerliche Forderung heraus. Es geht nicht darum, was Sie subjektiv darunter verstehen wollen, es geht um die objektive Logik der Klassenbeziehungen in Liebesdingen. Wäre es für eine populäre Broschüre nicht besser, die kleinbürgerlich-intelligenzlerisch-bäuerliche spießige Ehe ohne Liebe der proletarischen Zivilehe mit Liebe gegenüberzustellen?

Kollontai
Die Ehe gleicht einer Wohnung. Ihre Schattenseiten bemerkt man erst, wenn man längere Zeit in ihr wohnt. Sie müssen schon entschuldigen... Dem natürlichen Trieb muss ein Ausgang verschafft werden.

Balabanoff
Lenin erfuhr, dass Alexandra Kollontai heimlich ein Pamphlet hatte drucken lassen, in dem weniger Bürokratie und mehr Demokratie gefordert wird. Lenins Wut kannte keine Grenzen, und er ging so weit, in einem ziemlich ordinären Wortspiel auf die persönlichen Beziehungen der Angeklagten zu einem Bolschewisten anzuspielen. Obwohl Alexandra Kollontai mit der Zeit eine orthodoxe Bolschewistin wurde, hat Lenin ihr niemals verziehen.

Ines
Es hat in meinem Leben und in der Vergangenheit oft genug Fälle gegeben, wo ich um der Sache willen mein Glück und meine Liebe geopfert habe. Aber früher sah es so aus, als hätte die Liebe eine Bedeutung, die der des öffentlichen Wirkens gleichkam. Jetzt ist es anders. Die Bedeutung der Liebe, verglichen mit dem öffentlichen Wirken, wird ganz klein und kann den Vergleich mit dem öffentlichen Wirken nicht aushalten.

Lenin
My dear & dearest friend!
Oh, I would like to kiss you thousand times. Bitte bringe, wenn Du kommst (am eigenen Leib!), alle unsere Briefe mit (sie per registered mail hierher zu schicken, ist nicht convenient: sie könnten sehr leicht von friends geöffnet werden.

Ines
Das Schlimmste ist, dass mich alles langweilt. Heiße Gefühle empfinde ich nur noch für meine Kinder und Wladimir Iljitisch.

Lenin
My dear friend!
Abgesehen von dem Geschäftsbrief, ist mir danach, Ihnen ein paar freundliche Worte zu sagen und ihnen fest die Hand zu drücken. Sie schreiben, dass ihre Hände und Füße von der Kälte geschwollen sind. Das ist schrecklich. Auch wenn ihre Hände nicht ständig kalt wären. Ich drücke Ihre Hand noch einmal fest und sende beste Grüße.

Ines
Teurer Wladimir Iljitsch!
Ich danke Ihnen für Ihr Briefchen, es hat mich sehr beruhigt und mir Mut eingeflößt. Die letzten zwei, drei Tage habe ich weiter nichts getan, als von einer Verabredung zur nächsten zu laufen. Allerdings bin ich ganz schön mitgenommen, es ist eben sehr anstrengend. Ich schicke Ihnen einen dicken Kuß.

Lenin
Falls die Schweiz in den Krieg hineingezogen wird, werden die Franzosen sofort Genf besetzen. Deswegen gedenke ich, die Parteikasse Ihnen zu übergeben, damit Sie sie in einem eigens dafür genähten Beutel bei sich tragen.
Krupskaja
Vieles wollte Lenin bis zu Ende durchdenken, seine Gedanken schweifen lassen. Wir beschlossen deshalb, ins Gebirge zu fahren.

Lenin
Wir bleiben in Bern. Ein kleines langweiliges Städtchen, aber dennoch besser als Galizien, und etwas Besseres gibt es nicht! Macht nichts. Wir werden uns daran gewöhnen. Ich treibe mich in Bibliotheken herum: Habe mich nach Ihnen gesehnt.

Krupskaja
Im März (1915) starb meine Mutter. Nun wurde unser häusliches Leben noch mehr zu einem Bohèmeleben. Ich bekam einen Rückfall meiner Basedowschen Krankheit, und die Ärzte verordneten mir Gebirgsluft. Lenin fand in den Inseraten ein billiges Angebot des Hotels "Mariental" in dem altmodischen kleinen Ort Sörenburg am Fuße des Rothorn, und dort verbrachten wir den ganzen Sommer. Nach einiger Zeit kam Ines ebenfalls dorthin.

Lenin
Dear friend!
Wenn Sie um 2.05 Uhr von Bern abfahren, dann haben Sie den Postwagen nur bis Flühli; für die weitere Strecke muss man eine Droschke mieten (dazu müssen sie von Schüpfheim aus telefonieren - dort ist ein Restaurant gegenüber dem Bahnhof. Der Inhaber ruft uns für 10 Pf. hier an, Hotel Marienthal in Sörenberg; er soll sagen, dass man die Droschke schicken soll.
Mit der Post kostet es 1 fr 20 bis Flühli + 2 fr bis Sörenberg.
Die hiesige Droschke aber kostet 4 frs für eine Person ( 6 frs. Für 2) von Flühli bis Sörenberg. Ich drücke Ihnen die Hand. Bis zum baldigen Wiedersehen.
Ihr Lenin.

Kapitel V: La Traviata

Ines
Wird dieses Gefühl des inneren Todes jemals von mir weichen? Ich bin an einem Punkt angelangt, wo es mich sonderbar berührt, dass andere Menschen so leicht lachen und offenbar gerne reden.

Lenin
Liebe Freundin,
bitte schreiben Sie mir ganz kurz, was mit Ihnen los ist. Ich selbst bin gerade erst wieder dem Bett entstiegen und gehe nicht aus. Nadja hat 39 Grad Fieber und nach Ihnen gefragt.

Ines
Ich lache oder lächle jetzt nie, weil eine innere Freude mich dazu triebe, sondern weil man manchmal lächeln muss.

Lenin
Liebe Freundin!
... der Arzt sagt, Lungenentzündung. Man muss äußerst vorsichtig sein. Beauftragen Sie die Töchter, mich unbedingt täglich anzurufen. Schreiben Sie ehrlich, woran es fehlt! Haben Sie Holz? Wer heizt? Haben Sie zu essen? Wer bereitet es zu? Wer macht Umschläge?

Ines
Mich frappiert auch meine jetzige Gleichgültigkeit gegen die Natur. Dabei hat sie mich doch immer so sehr ergriffen.

Lenin
Sie geben keine Antwort, das ist nicht schön. Antworten Sie, und wenn es auf diesem Blatt ist, doch zu allen Punkten. Werden sie gesund!
Ihr Lenin.

Ines
Und wie wenig ich mir jetzt aus Menschen mache. Früher bin ich mit herzlichen Gefühlen auf jeden zugegangen. Heute bin ich gegen alle gleichgültig.

Lenin (zitiert Telegramm)
Es war nicht möglich, die an Cholera erkrankte Genossin Ines Armand zu retten. Sie starb am 24. September 1920. Wir überführen den Leichnam nach Moskau.

Ines
Es ist, als ob mein Herz in jeder anderen Hinsicht gestorben wäre. Als ob es, nachdem ich alle Kraft und Leidenschaft für V.I. und die Sache unserer Arbeit gegeben habe, alle seine Quellen der Liebe und Sympathie für die Menschen erschöpft hätte, an denen es einmal so reich war.

Krupskaja
In Moskau ging Wladimir Iljitsch in den letzten Jahren auch manchmal auf die Jagd... Einmal veranstaltete man eine Fuchsjagd mit Fähnchen... Die Jäger richteten es so ein, dass der Fuchs direkt auf WIadmir Iljitsch zulief, aber er griff erst zur Flinte, als der Fuchs, nachdem er für eine Minute gestanden und ihn angestarrt hatte, rasch in den Wald zurückgelaufen war.
"Warum hast du nicht geschossen?" -

Lenin
Weißt Du, er war zu schön.

Das war:
Lenin, Liebe, Lust und Leidenschaft
Eine Erotik der Macht
Von Elke Suhr


Mit:
Milan Peschel als Vladimir Iljitsch Lenin
Ursula Werner als Clara Zetkin
Marianne Rogée als Rosa Luxemburg
Christiane Bruhn als Nadeshda Krupskaja
Simon Roden als Anatoli Lunatscharski
Ernst August Schepmann als Maxim Gorki
Kathrin Angerer als Ines Armand
Susanne Barth als Angelika Balabanoff
Manuela Alphons als Alexandra Kollontai
und Hendrik Arnst als Tourist auf dem Boulevard Bolschewismus
Ton und Technik: Ingeborg Kiepert und Jutta Stein
Regie und Redaktion: Hermann Theißen