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Leningrad
Erschreckende Details der Blockade

Von Karla Hielscher | 30.10.2014
    Lidia Ginsburgs Aufzeichnungen über das Leben in Leningrad während dieser Jahre des Grauens, die 1997 in der edition suhrkamp schon einmal vorgelegt wurden, sind geprägt von ihrer Grundhaltung als Wissenschaftlerin.
    In einer fast unmenschlichen Anstrengung versucht sie in diesem Text, der auf Notizen aus der Blockadezeit basiert, das eigene, subjektiv Erlebte von außen, mit Distanz zu sehen, es analytisch zu erfassen. Deshalb sind all diese Beobachtungen und Selbstbetrachtungen nicht in Ich-Form, sondern im eher neutralen Ton eines Verhaltensforschers gehalten, der das Handeln und Denken des "Blockademenschen", des Menschen in einer unvorstellbaren Extremsituation, objektiv beschreibt.
    Sie hält das Blockadedasein mit all seinen erschreckenden Details fest: Die Entfremdung vom eigenen Körper mit der fleckigen Haut, der Krätze und dem angeschwollenen Zahnfleisch; die unerträgliche Kälte, in der sich nur die Allerlebenstüchtigsten manchmal noch waschen; die quälenden Warteschlangen bei den Essensausgaben; das Verstummen aller Gespräche, wenn das Brot abgewogen wird und der Kampf um jedes Gramm beginnt; die Angst, auf der vereisten Straße mit dem Essensgeschirr voller Suppe hinzufallen usw.
    Schon während der Blockade hatte sie es, "als ein Mensch, der schreiben kann", als ihre Pflicht empfunden, das Erlebte in Worte zu fassen. Wie wichtig das war, konnte sie einige Zeit später an sich selbst beobachten:
    "Was sich dem Menschen in Grenzsituationen erschließt - es verschließt sich auch wieder. Sonst wären etwa die Menschen unserer Generation längst außerstande weiterzuleben. (...) So befolgen wir also das Gesetz des Vergessens, das zu den Grundpfeilern des sozialen Lebens gehört, gemeinsam mit dem Gesetz des Erinnerns - dem Gesetz von Geschichte und Kunst, von Schuld und Reue."
    Die nun in der Bibliothek Suhrkamp erschienene, erweiterte und auch neu übersetzte Ausgabe dieser Aufzeichnungen enthält zusätzlich einen Text, der einen in seiner erbarmungslosen Radikalität - wie Karl Schlögel es in seinem informativen Nachwort ausdrückt – "sprachlos zurücklässt". Erst im Jahr 2006 wurde er in Lidia Ginsburgs Nachlass gefunden. Der mit Bleistift in Schulheften niedergeschriebene circa 80 Seiten lange Bericht stellt den eigentlichen Kern der gesamten Aufzeichnungen dar.
    In dieser "Erzählung von Mitleid und Grausamkeit", die kurz nach dem Erlebten entstanden sein muss, hat die Autorin den Hungertod ihrer Mutter literarisch verarbeitet, um mit dem Gefühl der eigenen Schuld, Scham und Reue fertig zu werden.
    "So schmerzhaft, so schrecklich waren die Berührungen unter den Menschen, dass es in der Nähe, in der Enge schwierig wurde, zwischen Liebe und Hass für diejenigen zu unterscheiden, vor denen man nicht fliehen konnte. Fliehen konnte man nicht, aber einander beleidigen, einander kränken konnte man. Die Bindungen lösten sich trotzdem nicht auf."
    Auch diese Erzählung ist in der dritten Person gehalten, als äußerst präzise, sachlich prüfende Beschreibung der komplizierten Beziehung eines sorgenden Menschen für seine an Dystrophie sterbende nahe Verwandte. Statt von Mutter und Tochter ist von Tante und Neffe die Rede. Nur diese Form erlaubt es der Verfasserin offenbar, rückhaltlos alles zu sagen, das furchtbare Geschehen objektiv zu analysieren, "mit allerstrengsten Maßstäben aber auch unter Berücksichtigung mildernder Umstände".
    Umso erschütternder für den Leser, wenn dann plötzlich doch im Text das Wort "Mutter" auftaucht, wo es "Tante" heißen müsste. Die Übersetzerin Christiane Körner weist in ihrer Nachbemerkung darauf hin, dass sie ganz bewusst ungelenke und unfertige Stellen stehen gelassen und nichts geglättet hat, da es sich - wie sie schreibt - "um die Merkmale eines fast unerträglichen sprachlichen Aneinungsprozesses von entsetzlichem Erlebten und qualvollen Schuldgefühlen" handelt. Bei Lidia Ginsburg heißt es:
    "Das Leben eines nahen Menschen hatte uns zu so permanenten und so fürchterlichen Leiden verurteilt, dass der erste Moment nach seinem Tod unweigerlich ein Gefühl von Erleichterung mit sich brachte, vor allem aber das Gefühl, alle Unlösbarkeiten im Dasein eben dieses Menschen seien nun gelöst."
    Das Gefühl einer unabweisbaren Schuld aber liegt nicht in dem, was für die Sterbende getan oder nicht getan wurde, was für Opfer für sie gebracht wurden, sondern – so bei Lidia Ginsburg - "darin, wie sich alles abgespielt hatte".
    Die detaillierte Beschreibung des Verlaufs des Hungertodes führt vor Augen, wie der Mensch sich verändert, wenn "Kälte und Finsternis keine Metaphern" sind, wenn "Redewendungen wie ´hilflose Alte seien unnütze Esser oder fräßen den Jungen die Haare vom Kopf´ eine ganz neue Wörtlichkeit bekommen." Und weiter:
    "Alles, was Menschen eines bestimmten zivilisatorischen Niveaus für sich behalten, unterdrücken und verarbeiten müssen - Gereiztheit, Vorwürfe - , alles konnte sich entladen. Eine besondere, außergewöhnliche Erleichterung verschaffen den Menschen Vorwürfe, denn von der eigenen Opferbereitschaft zu schweigen ist besonders schwer. So kam es, dass allmählich (und das wurde zur Gewohnheit) die furchtbarsten Worte gesagt wurden. Furchtbare Worte aller Art: Beschimpfungen, Vorwürfe, Drohungen, Forderungen und Verwünschungen"
    Es fallen Worte wie "Parasit" oder "Krüppel" oder "du bringst mich ins Grab", und wegen zerschlagenem Geschirr, auf den Boden gefallenem Essen oder verschüttetem Petroleum kommt es zu furchtbaren Szenen von Geschrei, rasender Wut und Grobheit. Die Suche nach Rechtfertigung dieses Verhaltens führt nicht nur zu Scham und Reue über das eigene Versagen, sondern auch zur harten Abrechnung mit dem egoistischen Verhalten der Sterbenden in ihrem Lebenswillen, ihrem Starrsinn, ihrer Leichtfertigkeit und ihrem positiven Selbstbild.
    Bei der Lektüre dieser ganz und gar außergewöhnlichen Aufzeichnungen fühlt man mit Erschrecken die tiefe innere Wahrheit dieser Worte und ahnt, dass man sich unter derart extremen Umständen wahrscheinlich genau so verhalten hätte. Lidia Ginsburg, die das bedrückende Geschehen nicht verdrängt, sondern schonungslos aufgeschrieben und analysiert hat, gebührt Achtung und Bewunderung.
    Die "Erzählung von Mitleid und Grausamkeit" ist viel mehr als eine detailgenaue historische Schilderung des Leidens während der Leningrader Blockade. Es ist ein einzigartiges Sprachdokument über das Wesen des Menschen in seiner Erbärmlichkeit wie auch in seiner Größe.
    Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Mit einem Nachwort von Karl Schlögel, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2014, 242 Seiten, 22,95 Euro