Freitag, 19. April 2024

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Lenins Revolution in der Schweiz

Allein die Vorstellung einer Schweiz als militärischer Großmacht vermag regelmäßig gedämpfte Heiterkeit zu erregen. Mehr noch die Frage, was gewesen wäre, wenn ... Wenn Lenin 1917 in der Schweiz hängen geblieben wäre und es statt der UdSSR eine SSR, eine Schweizer Sowjet Republik gegeben hätte? Sogar mit "Kolonien" in Afrika. Der Ex-Popliterat Christian Kracht ist diesem Denkspiel in seinem letzten Roman nachgegangen. Und Regisseur Armin Petras hat "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" für die Bühne bearbeitet und jetzt in Stuttgart uraufgeführt.

Von Cornelie Ueding | 03.07.2010
    Das, mit Verlaub, voraussehbare Ergebnis dieser Recherche: Wo auch immer er praktiziert wird, entfaltet politischer Totalitarismus dieselben Mechanismen, verwandelt Menschen in Nummern und Ideen in Waffen. Der Versuch, einen nach der Schweizer Revolution stattfindenden Hundertjährigen Krieg und dessen Folgen auf die Bühne zu bringen, versteht sich denn auch als Panoptikum des Immergleichen. Weder Befreiung noch Befriedung finden statt. Und der Verlierer heißt immer Afrika.

    Zum Exempel wird ein gutgläubiger schwarzer Kommissär in den anti-imperialistischen Kampf gegen einen etwas klischeehaft als jüdisch gekennzeichneten Abweichler geschickt. Der eine als ideologisch Ferngesteuerter, der andere als Zyniker zwischen den Systemen, sitzen sie sich im parabolisch verschneiten "Kreidekreis" gegenüber. Dahinter flimmert ein Video Schneetreiben, verwüstete, menschenleere Landschaften, Berghütten und Häuser herbei, Bilder, die anfangs so langsam nach rechts driften, dass der Eindruck entsteht, als würde sich, millimeterweise, der weiße Drehbühnenkreisel in Bewegung setzen – bis gleißend weiße Lichtrisse den Kälteraum durchzucken, ihn unbewohnbar machen, und Menschen zu Marionetten, zu gelenken und gelenkten Puppen schrumpfen. Szenische Projektionen, surreale Bildfindungen dieser Art sind die besten Momente der Aufführung. Im Schneestaub und Sturm verschwimmender Schattenrisse erscheinen die Figuren als Spukgestalten eines nicht enden wollenden politischen Albtraums.

    Klang – Dampf - wabernde Nebel – Feinstaub suggerieren die Auflösung alles Bestehenden, verwandeln Lebewesen in schemenhafte Figuren oder amöbenartig ihre Form wechselnde, dann plötzlich zerfließende Strichmännchen und groteske Puppen. Und Figuren, die, wie der gesuchte Doppelagent Brazhinsky, eben noch glaubten, Akteure zu sein, geraten, wenn sie versuchen, sich in Bergstollen zurückzuziehen, in rasende Zentrifugen. So in etwa stellt sich das Abblättern der Politfassade in diesem Bilderbuch aus dem Geiste der Popliteratur dar, in der man ja bekanntlich nicht nur spielen darf, sondern muss. Aber selbst wenn man die Frage nach dem Erkenntnisgewinn dieser Inszenierung, nach dem, was "hinten rauskommt", nicht stellt, ergeben sich Fragen: Die ganz einfache, welche Handlung genau diesen aufgeregten Stimmungsbildern zugrunde liegt. Die Transformation des Romantextes ins Szenische macht narrative Einschübe notwendig, doch sie retten den Zuschauer nicht vor Orientierungsverlust.

    Trotz Heavy Metal Gedröhn bleiben die Szenen erstaunlich spannungslos. Aggressionsausbrüche sollen unvorhersehbar sein. Hier sind sie nur unmotiviert. Das passt zwar ins Konzept unmenschlicher, lebensvernichtender Existenzbedingungen, wird aber zu einem dramaturgischen Problem. Denn wie soll man Leerlauf, wie rabiaten Stillstand darstellen, ohne selbst in Stillstand zu verfallen? Also wartet man, während die Augenblicke sich dehnen, auf deren Ende. Ein paar Bildeindrücke bleiben hängen. Zum Beispiel der des schwarzen Häschers, der, auf einer Mine stehend, in den verdichteten Minuten zwischen Erkenntnis und Gewissheit sein politisches Leben Revue passieren lässt. Eine Verdichtung, die man der ganzen Aufführung gewünscht hätte, die allzu oft den Pop durch Pathos ersetzt und ideologischen Sprachverlust durch Verlautbarungsgeleier und hilfloses Brüllen ersetzt.