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"Les Misérables" am Berliner Ensemble
Castorf bleibt sich treu

Von Paris nach Panama: Frank Castorf verlegt Victors Hugos "Les Misérables" in seiner Inszenierung am Berliner Ensemble nach Kuba. Aus dem Stoff aus dem 19. Jahrhundert macht er ein siebeneinhalbstündiges assoziatives Ideentheater. Der Mensch mit seiner Schuld und seinem Leid steht dabei im Mittelpunkt.

Von Eberhard Spreng | 02.12.2017
    LES MISÉRABLES/Berliner Ensemble/Frank Castorf/Aleksandar Denić/Adriana Braga Peretzki/Ulrich Eh/Jens Crull, Andreas Deinert/Frank Raddatz/Sebastian Klink
    Patrick Güldenberg, Thelma Buabeng, Aljoscha Stadelmann, Sina Martens, Oliver Kraushaar (v.l.) in Frank Castorfs Inszenierung von "Les Misérables". (Matthias Horn/BE)
    Ein alter Mann schaut aus einem Bretterverschlag durch Maschendraht ins Publikum und erzählt von einer gigantischen Verschwendung. Eine Unsumme ginge der Stadt Paris verloren, weil sie die menschlichen Exkremente einfach in die Seine kippe statt sie zu nutzen, denn sie seien einer der besten Dünger, wie schon die alten Chinesen gewusst hätten.
    Hinterhältig, listig, aber irgendwie auch gütig blitzen die Augen von Jürgen Holtz, diesem greisen Kind, der wenig später, als Bischof von Digne einem verstörten Ex-Häftling Obhut gewähren, ihn an seine Tafel bitten und letztlich zum Diebstahl des Tafelsilbers verführen wird. Grandios wie der alte BE-Schauspieler diesen Mythos christlicher Fürsorge verkörpert, ohne jede Ironie, aber als stillen und doppelbödigen Appell an das Gute im Menschen. Denn, was ist in einer durch die schlechten Verhältnisse schlecht und kriminell gewordenen Welt anstrengender als ein mustergültiger Humanismus. Den solchermaßen durch das Gute in Bedrängnis gebrachte Jean Valjean spielt Andreas Döhler, der mit Beginn dieser Spielzeit vom Deutschen Theater ans BE gewechselt ist.
    Es gibt einige große spielerische Momente im ersten Teil von Castorfs Hugo-Bearbeitung, die das Geschehen aus dem Paris der Barrikadenkämpfe von 1832 ins vorrevolutionäre Cuba verlegt. Die Schauseite einer klitzekleinen Tabakfabrik im Kolonialstil ist auf einer Seite des Drehbühnendekors zu sehen, eine andere zeigt die Hofseite mit Holzverschlag, leeren Ölfässern, Jutesäcken und Kisten, eine weitere einen Marktstand mit einer Menge umherkollernden Kartoffeln. Über der mit schmalen Treppchen ausgerüsteten Konstruktion des Aleksandar Denić ragt ein Wachturm auf.
    Leinwände überragen die live gedrehten Videobilder
    Das Ganze erinnert in seiner für die kleine BE-Bühne reduzierten Form an die Bühnenwelten, in denen Castorf in der letzten umjubelten Volksbühnenspielzeit seinen Faust inszenierte. Leinwände sind auch hier ins Dekor integriert, sie übertragen wie nun schon seit langem bei Castorf üblich, die live gedrehten Videobilder der Akteure. Gewaltige Bilder entstehen so in einem Gesamtkunstwerk, den ein reichhaltiger Soundtrack begleitet.
    Nur einmal flammt der durch die Misere ausgelöste Bürgerkrieg wirklich auf, nicht als Barrikadenkampf, sondern als eine Schießerei mit altmodischen, automatischen Gewehren. Vom Paris des 19. Jahrhunderts schaffen es nur noch Bruchstücke der Geschichte ins Cuba des 20. Jahrhunderts, dessen Elend die mafiöse Herrschaft eines Fulgencio Batista verschärft. Castorf überschreibt so das romantische Epos Hugos mit dem Roman "Drei traurige Tiger" des Guillermo Cabrera Infante, collagiert die Figurenbezüge und schiebt literarisches Material ineinander, zu dem dann - man möchte sagen - wieder einmal, auch Heiner Müllers "Auftrag" gehört.
    Frage nach der Exportierbarkeit von Revolutionen
    Der ist nun mal Basismaterial bei der Frage nach der Exportierbarkeit von Revolutionen zwischen der weißen Welt Europas und ihrer schwarzen Kolonien. Das passt natürlich auch in ein Cuba, dessen Befreiungskampf gegen die Spanier Victor Hugo lange nach der Veröffentlichung der "Elenden" in einem Text Mut zuspricht. Wie auch in Castorfs "Faust", der sich mit dem französisch-algerischen Kolonialverhältnis auseinandersetzte, verkörpert auch hier der Burkinabe Adboul Kader Traoré die Figur des Schwarzen in einer bis heute unbewältigten Geschichte von Sklaverei und Ausbeutung.
    Die von Valery Tscheplanova gespielte Elendsmutter Fantine, die sich bei Hugo prostituieren muss, um ihre Tochter durchzubringen, trifft in einer Voodoo-Persiflage auf den schwarzen Traoré und mit ihm auf eine entschieden andere Kultur bei dem Kampf gegen das systemische Elend. Dessen Apologet ist Valjeans Gegenspieler, der Inspektor Javert, den Wolfgang Michael hier als abgehalfterten Zyniker verkörpert.
    Trotz der teilweise bezaubernden Spielleistungen, der meisterhaften Fügung von Licht, Ton, Bild und szenischer Energien, beginnt sich die Collage in unentwegter Überschreibung aufzulösen: Die Bühne wird zu einem Palimpsest, ständig beschrieben, ausgelöscht und wieder neu beschrieben. Aus Figurentheater wird Ideentheater und dessen Dramaturgie ist sprunghaft, assoziativ und verliert sich in den Untiefen einer siebeneinhalb-stündigen Vorstellung, die beim Zuschauer hauptsächlich zu Ermattung führt. Wie immer eine Überforderung.
    Erkennbar ist aber gleichwohl eine klare Gegenposition zur am Abend vorher gezeigten Premiere an der neuen Volksbühne. Während Susanne Kennedy den Menschen dort als periphere Restgröße in der Oberfläche seiner selbstgeschaffenen Kunstwelt verschwinden lässt, behauptet Castorf am BE den Menschen, seine Schuld, sein Leiden, sein Wollen unverändert als einzig relevanten Gegenstand des Theaters quer über die diversen Möblierungen der Welt. Politischer kann die Berliner Theaterkontroverse auf der Bühne wohl gar nicht geführt werden.