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Lesart des Korans
Freiheit als islamisches Primat?

Reform ist für viele Muslime mit dem Islam unvereinbar. Für sie ist ihre Religion vollkommen. Der syrische Ingenieur und Koranexeget Muhammad Shahrour versteht sich dennoch als Reformer seiner Religion - und das obwohl der Wortlaut des Korans im Zentrum seines Denkens steht.

Von Thomas B. Ibrahim | 23.01.2018
    Ingenieur und Theologe Muhammad Shahrour - seit 30 Jahren hält er den innerislamischen Reformdiskurs lebendig
    Ingenieur und Theologe Muhammad Shahrour - seit 30 Jahren hält er den innerislamischen Reformdiskurs lebendig (imago stock&people)
    Muhammad Shahrour ist ein Phänomen. Er ist eigentlich Ingenieur, wird bald 80 Jahre alt und lebt in Damaskus. International bekannt in Fachkreisen wurde er aber vor allem als Theologe. In europäischen Publikationen wird er oft als "islamischer Luther" betitelt. Ein Vergleich, dem Looay Mudhoon etwas abgewinnen kann.
    "Insofern als Shahrour in seinen Thesen an den Grundfesten des islamischen Glaubens rüttelt."
    Looay Mudhoon ist Islamwissenschaftler und Nahost-Experte der Deutschen Welle.
    "Also seine Thesen, seine reformatorischen Ideen, die er seit 30 Jahren verbreitet im islamischen Raum, haben so viel Sprengkraft, dass sie wirklich zum Beispiel die Grundlagen der islamischen Rechtsauffassung, wie etwa die zweite autoritative Quelle, die Hadithe, infrage stellt."
    Zwischen Moskau und Damaskus
    1938 in Damaskus geboren, ist Shahrours Kindheit und Jugend von den Wirren des endenden Kolonialismus geprägt. Ebenso wie die Landesgrenzen im Nahen Osten verändert sich auch die Gesellschaft in den jungen Staaten.
    Shahrour verlässt Syrien im Alter von 21 Jahren, um im sowjetischen Moskau Bauingenieurswesen zu studieren. Hier sieht er sich erstmals mit grundlegenden Fragen zur Existenz Gottes und mit der marxistischen Dialektik konfrontiert. Dass er sich bis heute mit der Religion auseinandersetzt, das geht aufs Jahr 1967 zurück:
    "Der Sechstagekrieg war für alle Araber auf unterschiedliche Weise prägend, aber er beeinflusste das Bewusstsein von uns allen. Ich war damals 29 Jahre alt."
    In nur wenigen Tagen erlitten die arabischen Staaten eine schwere Niederlage gegen Israel, eine Niederlage, die die Region bis heute prägt. Shahrour diagnostiziert den arabischen Gesellschaften damals ein grundlegendes Problem:
    "Ich gelangte zu der Überzeugung, dass unser Problem in der arabischen Sicht auf das logische Denken und in unserer Sicht auf die Gesellschaft lag. Wir selber waren das Problem, nicht Amerika oder der Westen."
    Modernes Koranverständnis
    Die Ursachen für dieses Problem sieht er in der Religion und der islamischen Geschichte. Daher beginnt er sich intensiv mit dem Islam und dem Koran auseinanderzusetzen.
    "Ich wollte die islamische Kultur umfassend verstehen, um zu sehen, was schief gelaufen ist, um diese Fehler in unserem Denken dann zu korrigieren."
    Ein Unterfangen, das erst mehr als 20 Jahre später Früchte trägt. 20 Jahre, in denen er vor allem als Bauingenieur arbeitete. Erst 1990 veröffentlicht er sein erstes und wohl wichtigstes Buch: "Die Schrift und der Koran – eine moderne Interpretation." Auf mehr als 800 Seiten legt Shahrour seine Lesart, sein Verständnis des Korans dar. Es ist der Versuch, die islamische Religion mit moderner Philosophie und mit dem rationalen Weltbild der Naturwissenschaften in Einklang zu bringen, so der Islamwissenschaftler Looay Mudhoon:
    "Deshalb entwickelt er auch konkrete Ansätze. Er hat eine Theorie entwickelt, eine sogenannte Theorie der Grenzen. Er sagt, die im Westen berühmt-berüchtigten Hadd-Strafen, also drakonische Strafen, müssen eigentlich in Realität gar nicht angewandt werden, was ja auch jahrhundertelang im islamischen Raum der Fall war. Islamische Gelehrte haben hohe Hürden für diese Strafen immer angesetzt und formuliert. Mit der Ideologisierung des Islams sind diese Hürden weggefallen."
    Den Grenzen Grenzen setzen
    Dieser Ideologisierung könne seine Theorie der Grenzen Grenzen setzen, schreibt der syrische Theologe:
    "Meines Erachtens setzt Gott uns im Koran unsere Grenzen. Beispielsweise ist laut Koran-Vers 5:38 die höchste Strafe für Diebstahl das Abhacken der Hand. Es ist die oberste Grenze der Strafe, aber nicht die Strafe an sich. Ebenso gut kann der Delinquent zu ehrenamtlicher Arbeit verurteilt werden. Alles was zwischen diesen beiden Entwürfen liegt, ist zulässig und eine Frage der Gesetzentwürfe, über die im Parlament abzustimmen ist."
    Shahrours Koranverständnis schafft Flexibilität, verlangt aber auch danach, die religiöse Botschaft im Lichte wissenschaftlicher, technischer und sozialer Veränderungen immer wieder neu zu interpretieren.
    "Er hat einmal gesagt, er begreift Freiheit als islamisches Primat. Und den Gedanken fand ich sehr interessant. Also er sieht die Religion des Islam nicht im islamistischen Sinne als Unterwerfung unter Gottes Herrschaft, sondern er sagt: Nein, das ist eine Freiheit - die ist geschenkt. Und der Islam letztendlich ist ein Diskurs, ein Diskurs über das Verhältnis des Einzelnen mit Gott und seiner Umwelt. Das ist eigentlich seine Grundbotschaft."
    Eine Botschaft, die einem Islamverständnis widerspricht, das auf blinden Gehorsam setzt.
    "Die islamische Theologie hat sich nie frei entwickeln können. Sie war und ist immer noch ein Mittel der Machtsicherung. Das heißt: All diese theologischen Auffassungen sind nie unschuldig. Da ist sehr viel auch menschliche Eigenleistung. Und Shahrour sagt: Nein, es gibt das Tor des Ijtihad, also der eigenständige Wissenserwerb, das die islamische Orthodoxie geschlossen hat. Er will das wieder fördern und sagt, nein, wir müssen die eigentliche Botschaft sauber trennen von dem, was über die Botschaft geschrieben oder in sie hineininterpretiert wurde. Und man muss bedenken natürlich für sehr konservative, salafistische, islamistische Kreise ist er natürlich eine Hassfigur."
    Zumal seine Detailkenntnisse es seinen Gegnern schwer machen, ihn als unwissenden Scharlatan abzutun. Muhammad Shahrour kennt den Koran und die islamische Jurisprudenz. Shahrour ist eine von vielen Stimmen aus der arabischen Welt, die in religiösen Reformen eine zwingende Voraussetzung für sozialen Wandel sehen. Zwar erreicht er mit seinen Texten nur ein begrenztes, überwiegend intellektuell versiertes Publikum, den innerislamischen Reformdiskurs belebt er aber dennoch.