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"Lesen erspart Überraschungen"

Erika Steinbach vom Bund der Vertriebenen steht wieder in der Kritik: Die Äußerungen zum "besonders kriegerischen" Polen eines Präsidiumsmitglieds verteidigte sie mit den Worten, dass Polen damals mobil gemacht habe. Peter Steinbach, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, bemängelt: "Diese Diskussion ist eigentlich nur ein Symptom für das ständige geschichtspolitische Herumrudern."

Peter Steinbach im Gespräch mit Gerwald Herter | 09.09.2010
    Gerwald Herter: Die größte Aufregung hatte sich gelegt. Die Regierungen Deutschlands und Polen sind auf dem besten Weg, zu einem guten, zu einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis zurückzufinden. Jetzt könnte jedoch eine heftige Diskussion in der CDU-Spitze für neue Irritationen sorgen. Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, hatte in der laufenden CDU-Klausur sehr umstrittene Äußerungen von zwei Funktionären verteidigt. Dabei geht es um die Frage, ob Polen seine Armee bereits vor dem deutschen Überfall 1939 mobilisiert hatte.

    Ich bin jetzt telefonisch mit dem Historiker Peter Steinbach verbunden, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Mannheim und Leiter der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Guten Tag, Herr Steinbach.

    Peter Steinbach: Guten Tag, Herr Herter.

    Herter: Herr Steinbach, zunächst sollten wir vielleicht über die historischen Fakten sprechen. Es geht um eine polnische Mobilmachung, die angeblich vor der deutschen Mobilmachung 1939 stattgefunden haben soll. Stimmt das historisch?

    Steinbach: Es handelt sich um eine Teilmobilmachung, die wir nur aus dem Zusammenhang erklären können. Im November 1937 hatte Hitler ganz klar gemacht, wir werden im Osten einen Krieg führen, wir werden ein Ost-Imperium erobern. 1938 ging es dann darum, erst gegen England, erst gegen den Westen, und dann gegen Polen. Das war die große Frage. Und in diesem Zusammenhang versuchte er dann, mit Polen zu einer gewissen Diskussion über Probleme zu kommen, die Polen lehnten an, etwa die Abtretung oder die Eingliederung Danzigs in das Gebiet, und erklärten dann im März 1939 eine Teilmobilmachung, ich betone Teilmobilmachung. Das ist ein Mittel, um deutlich zu machen, wir sind bereit, uns zu verteidigen.

    Herter: Das heißt, es war eine Teilmobilmachung, und es ist nun wichtig, dies auch in den Zusammenhang zu stellen. Man muss ja auch von einer militärischen Übermacht Deutschlands reden zu dieser Zeit. Es wäre ein Himmelfahrtsunternehmen gewesen, Deutschland anzugreifen von polnischer Seite.

    Steinbach: Sogar ein doppeltes Himmelfahrtsunternehmen, denn Polen stand zwischen der Sowjetunion und zwischen dem deutschen Reich. Und dass dieses Misstrauen, diese Erwartung berechtigt war, das zeigte sich ja am 23. August 1939, als die beiden Diktatoren, die großen europäischen Diktatoren, Hitler und Stalin, sich im deutsch-sowjetischen Vertrag im Grunde darauf einigten, Polen zu zerschlagen, anzugreifen und zu zerschlagen. Also an der deutschen Zerschlagungsansicht von Polen ist überhaupt nicht zu zweifeln.

    Herter: Frau Steinbach hat ausdrücklich betont, dass sie die Kriegsschuld Deutschlands nicht bestritten hat. Hilft uns das hier weiter?

    Steinbach: Ich denke, diese Diskussion ist eigentlich nur ein Symptom für das ständige geschichtspolitische Herumrudern. Und wie Sabine Adler in dem vorangegangenen Beitrag deutlich gemacht hat, handelt es sich ja wirklich um den Versuch, auf Kritik dann so zu reagieren, dass der Konflikt entschärft wird. Sie verweist auf Tölg, sie verweist auf Saenger, sie lehnt im Grunde auch jede inhaltliche Auseinandersetzung mit der wirklich hervorragenden Kriegsausbruchsforschung ab, und insofern kann ich das also wirklich nicht besonders ernst nehmen und sehe darin weiterhin eine Gefährdung des Anliegens, die Geschichte der Vertreibung in Europa in einem Kontext zu sehen.

    Herter: Diese Geschichte muss unvoreingenommen aufgearbeitet werden, das ist klar. Ist das schon geschehen vonseiten der historischen Wissenschaft?

    Steinbach: Eines der ganz frühen historischen Forschungsprojekte in den frühen 50er-Jahren konzentrierte sich bereits auf die Geschichte der Vertreibung. Wenn die Vertriebenen heute immer noch sagen, es handelte sich um ein unerforschtes Gebiet, dann kann ich nur sagen, Lesen erspart Überraschungen. Aber es kommt jetzt darauf an, dass wir die Vertreibung in den Kontext europäischer Vertreibungsgeschichten rücken. Da hat sie ihren Stellenwert, da hat sie ihre Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass sie relativiert wird, sondern das bedeutet nur, dass wir die Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten präzise und schärfer sehen und vor allen Dingen auch in Verursachung einordnen können.

    Herter: Herr Steinbach, erlauben Sie mir da einen Vergleich. Wenn man das Verhältnis zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik betrachtet, dort gibt es in der Tschechischen Republik eine unvoreingenommene Aufarbeitung von Verbrechen an Deutschen, die vertrieben oder ermordet worden sind. Dieses Verhältnis Berlin-Prag scheint derzeit sehr viel unproblematischer zu sein als das Verhältnis zwischen Berlin und Warschau. Woran liegt das?

    Steinbach: Ich glaube, es liegt einmal daran, dass es tschechische Historiker gibt, die wirklich zivilcouragiert sind. Und es ist ein Mut, auch in Tschechien, diese Themen anzusprechen, auf die Geschichte der Vertreibung zu verweisen und dabei auch die Verantwortung der Tschechen nicht auszuschließen. Das fehlt ja auch in anderen Ländern durchaus. Ich will jetzt nicht ein neues Fass aufmachen, aber auch zum Beispiel aus Österreich sind Reichsdeutsche deportiert worden, genau wie aus Tschechien. Das kennen wir so nicht genau.
    Das Interessante ist eigentlich, dass wir die beziehungsgeschichtliche Dimension dieser gemeinsamen Aufarbeitungen einer gemeinsamen Geschichte der Vertreibung ernst nehmen müssen, und ich befürchte einfach, dass sie durch leichtfertige Äußerungen, wie wir sie jetzt etwa von Frau Steinbach wieder hören, auch wenn sie sie ablehnt, wie wir sie lesen können, dass dieses Anliegen gefährdet wird. Das ist eigentlich die geschichtspolitische Dimension und das ist das, was, glaube ich, alle Historiker, die an diesem Thema interessiert sind, bedauern müssen.

    Herter: Sie haben angesprochen, dass in der Tschechischen Republik eine Aufarbeitung stattfindet. War die Voraussetzung dafür die deutsch-tschechische Erklärung, Mitte der 90er-Jahre unterzeichnet, und ist die Voraussetzung dafür, dass zum Beispiel auch die Boulevard-Presse hier in Deutschland und in Tschechien nicht ständig eine Debatte führt, die von Missverständnissen geprägt ist?

    Steinbach: Ich sehe in der Tat, dass in der öffentlichen Diskussion diese sterile Aufgeregtheit, die immer wieder erzeugt wird, unterlaufen wird. Wir haben inzwischen in unseren Medien wirklich einen Versuch einer sachlicheren Diskussion. Deshalb, wenn ich darauf noch zu sprechen kommen darf, ist es ja eigentlich so schade und so tragisch, dass sogar die beiden Vertreter des Zentralrats der Juden den Stiftungsbeirat verlassen haben.

    Sie sehen doch, dass hier wirklich die ernsthafte Bemühung ist, die Leidensgeschichten des 20. Jahrhunderts zu proportionieren und in der Gesamtheit zu sehen. Das ist übrigens in Polen ganz genauso. Ich habe mit dem Breslauer Oberbürgermeister gesprochen; er weiß, dass er der Oberbürgermeister einer Stadt ist, in der auch polnische Vertriebene, die aus den Ostgebieten kamen, unterkommen mussten. Insofern kann ich dem Bund der Vertriebenen nur raten, eine europäische Dimension der Geschichtsbetrachtung wirklich zu entwickeln, im Respekt auch vor allen anderen Deutungen der Vergangenheit.

    Herter: Professor Peter Steinbach war das, Historiker für neuere und neueste Geschichte in Mannheim. Herr Steinbach, vielen Dank.

    Steinbach: Danke auch.