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Lesen, Schreiben, Rechnen

Ich nehme an: Sie besitzen im Büro oder zuhause einen Computer. Und ich unterstelle einmal, Sie wissen, was ein Scanner ist: Eine Art Fotokopierer, der Vorlagen in den Computer einliest. Und schon ist das Problem zu fassen, um das es im folgenden geht: Dem Scanner wie dem Fotokopierer ist es leidlich egal, ob die Vorlage eine Graphik, ein Text oder ein Bild ist. Er wandelt das Ganze in Zahlen um, er berechnet die Vorlage. Der Unterschied ist ein kultureller, aber kein technischer mehr.

Von Thorsten Lorenz | 06.08.2004
    Erst seitdem sich Kultur und Technik seit dem 18. Jahrhundert auseinander dividiert haben, glauben wir an die selbstverständliche kulturelle Unterscheidung von Bildern, Texten und Zahlen. Genau diese Trennung wird seit einigen Jahren in Frage gestellt. Ausgelöst wurde diese Sichtweise durch Forschungen in der historischen Medienwissenschaft und Medientheorie. Sie erhält jetzt Schützenhilfe durch eine neue Strömung namens Bildwissenschaft oder auch iconic turn. Vor 10 Jahren bewegte sie sich noch im Zentrum kunstwissenschaftlicher Fakultäten lag, sammelt nun aber durch aufregende interdiszplinäre Forschungsprojekte Früchte. Eines der neuesten Produkte trägt den schlichten, aber wie mit dem Messer geschnittenen Titel: Bild – Schrift – Zahl. Herausgeber sind die Kulturwissenschaftlerin und Philosophin Sybille Krämer sowie der Berliner Kunstwissenschaftler Horst Bredekamp. Zusammen mit 6 weiteren Kollegen des neu gegründeten Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik in Berlin haben sie zu einer interdisziplinären Forschergruppe zusammen gefunden. Ihr Ziel: Technik- wie Kulturgeschichte zusammenzudenken. Ihre Frage lautet: Wer oder was bestimmt darüber, was Bilder und Texte unterscheidet oder verbindet? Ihr Vorgehen: strikt historisch. Der Herausgeber Horst Bredekamp:

    Die Trennung der Kulturwissenschaften – ein neuerer Begriff für Geisteswissenschaften – und den Naturwissenschaften. inkl. der Mathematik erzeugt hegemoniale Ansprüche, erzeugt Abschottung, die uns zuwider sind. Wir möchten gegen 2 Seiten argumentieren: Die Welterklärung allein der Naturwissenschaften und gegen den Hochmut mancher Geisteswissenschaften begreiflich zu machen, dass in dem, was unsere Kultur bestimmt, begründet in der Geschichtlichkeit, vorwärts treibt, beide Komponenten zusammen kommen: Technisches /Materielles und Symbolisches/Gedachtes.

    Gleich mit dem ersten Satz der Einleitung, der sich wie eine spätromantische Klage liest, treffen die Herausgeber ins Herz des Lesers. Er lautet: "Lange, vielleicht allzu lange galt Kultur als Text." Das soll heißen: Die Welt und ihre Erscheinungen wurde bisher gelesen wie eine Grammatik. Aber diese Textdiktatur, das begreifen wir langsam, hatte einen blinden Fleck. Und in dieser Blindheit lag ihre Macht: Die Text- und Sprachgläubigkeit war blind gegenüber dem, was ein Bild ist oder macht. Einfacher gesagt: Was das Unsprachliche, das Unaussprechbare am Bild ist. Genau in diesem neuen Machtzentrum ist der Band Bild-Schrift-Zahl zu verorten. Er spricht über das Entstehen von Bild-lichkeit. Und damit von Techniken, Techniken von Ingenieuren, Mathematikern, Architekten. Sie sind die eigentlichen Unruhestifter, denn sie erzeugen die Voraussetzungen und die Überproduktion moderner Bildhaftigkeit. Denn Bilder sind seitdem alles mögliche: Graphiken, Piktogramme, Wissenschaftszeichnungen, Kurvendiagramme, Filme, Vektorgraphiken in Simulationsprogrammen, Radarbilder. Alles dies sind Bilder, aber auch Bilderschriften und Visualisierungen von Zahlen und Daten. Bilder-Schriften-Zahlen: was einstmals die Begriffe trennte, wollen die Autoren wieder zusammenfügen:

    Man kann es vielleicht hat mit einem Satz zusammenfassen: Wir bekämpfen den Begriff Illustration. Im landläufigen Sinn gelten Bilder noch als Wiedergaben von Etwas. In Bezug auf den Krieg, auf Kriege wird ununterbrochen gefragt: was geben Bilder wieder? Man kann diese Frage stellen. Aber diese Frage ist von Beginn an falsch eingefädelt, weil Bilder nie etwas vollständig wiedergeben können, sondern aus ihrer eigenen Geschichte und in ihrem eigenen Rahmen etwas Autonomes hinzubringen. Und aus diesem Grund – im Bereich der Naturwissenschaften vor allem wird es besonders deutlich – bilden Bilder nicht ab, nicht allein ab, sondern erzeugen das, was sie abbilden.

    Bild-Schrift-Zahl: Ob es also einen Unterschied zwischen ihnen gibt oder nicht, ist keine grundsätzliche Frage, sondern eine Frage der historischen Analyse. Der Mediävist Horst Wenzel bringt dies in seinem Aufsatz an einem einzigen, allzu menschlichen Attribut zum Leuchten: Der Hand. Die kann vieles sein: Die Hand des Zählens und Abzählens, also eine Rechenhand, die heute in der Mouse-Symbolik des Bildschirms zur Computerhand übergeht. Sie kann aber auch sein: Die Schreib-Hand, die sich noch im Begriff manu-script verbirgt; oder die Hand des Dirigenten, die im Mittelalter Notenhöhen ansteuert und sich so als anschlussfähig an die moderne Steuerungstechnologie des Computers erweist. Rechenhände, Schreibhände, Zeigehände: Was die Hand leisten kann, entscheiden Techniken und Metaphern.

    Die simpelste Frage lautet: Sind Texte bereits Bilder? Das sind sie immer schon, antwortet die Herausgeberin Sybille Krämer. In ihrem Beitrag entdeckt sie - neben der offensichtlichen Linearität des Textes - seine Flächigkeit und damit seine Bildlichkeit. Durch diesen Blick werden auch andere Sprachen, vor allem mathematische Kalkül(sprachen) bildhaft, gerade weil sie alles andere als Wiedergaben eines mündlichen Sprechens sind. Das ist auch sinnfällig: Denn Formeln spricht man bekanntermaßen nicht, man befolgt sie.

    Zur heimlichen und unheimlichen Königsdisziplin erklären alle Autoren die Mathematik. Aber auch sie hat ihre bildgebenden Risse und Abgründe, ihren iconic turn. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho nimmt die Geschichte der Zeitmessung zum Anlass, auf eine schlichte, aber brisante Tatsache hinzuweisen. Der, dass wir zwar fortwährend Zeit und Zeiten messen, aber nicht wissen, was wir messen. Zeit kennt kein Sein, sondern erscheint nur als Datenmenge. Die Metaphysik der Zeit wird geschluckt von Zeittabellen und –graphen, wie wir sie aus dem Physikunterricht der Mittelstufe kennen – also von Rechenbildern.

    Ohne der Güte der anderen Autoren Abbruch zu tun – der Aufsatz eines Autors leuchtet strahlend aus der Aufsatzsammlung hervor, denn er bündelt raffiniert die Ergebnisse. Der Informatiker Bernd Mahr schreibt über ein zunächst unverdächtiges Motiv: das der Modelle, d.h. Modelle der Architektur ebenso wie generell Denk- und Verfahrensmodelle. Dass und wie Modelle aber abgrundtief, d.h. in ihrem eigentlichen Kern durch mathematische Bilder, durch Module, d.h. durch graphische Normierungen wesenhaft bestimmt sind, das ist schon ein akademischer Geistesblitz besonderer Art.

    Bild-Schrift-Zahl: Es sind mitunter die bestürzend einfachen Fragestellungen, die den Ernst der geisteswissenschaftlichen Lage dokumentieren. Die Frage: Was ist der Mensch? tauchte im 18. Jahrhundert auf und wurde im 19. Jahrhundert seziert. Mit der Konsequenz, dass die Frage immer noch unbeantwortet ist. Ebenso wie die Universal-Frage: Was ist Sprache?, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ein neues Licht gerückt wurde. So einfach die Fragen anmuten, so bodenlos ist die Hölle, in die man blickt, wenn sie gestellt werden. Und die Hölle öffnete sich noch einmal, als vor genau 10 Jahren der Kunsthistoriker Gottfried Boehm die Frage stellte: Was ist ein Bild? Jetzt im vorliegenden Band wird diese Fragestellung endgültig der kunstwissenschaftlichen Herausforderung entrissen und interdisziplinär in brutaler Ontologie neu gestellt: Worin unterscheidet sich ein Bild von Texten und Zahlwerten? Und: Warum wird diese Frage erst jetzt gestellt? Die Antwort gibt die simple Alltagsempirie:

    Die Mathematik der neuen Medientechnologien, und das heißt: der Bildtechnologien überbieten sich gegenseitig in der Bearbeitung, im Speichern und im Senden von Bildern. Horst Bredekamp:

    Der Computer als verallgemeinernde Maschine ist seit Jahrzehnten nicht nur in der Lage, texte in seinen Geltungsbereich zu bringen, sondern auch Bilder. Die Kunstgeschichte, die Bildwissenschaft allgemein, ist in ungeheurem Maße digitalisiert worden. Und dies allein, also Bilder in nicht vorhersehbaren Massen zusammenzubringen über die Rechner, ist ein tägliches Geschäft des Kunsthistorikers. Der zweite große Bereich sind die technischen Bilder, die in einem bislang nicht gekannten Maße in den Naturwissenschaften und in den technischen Wissenschaften durch die Digitalisierungsmöglichkeiten und Zwänge die Erkenntnis und die Ergebnisse fördern. Und hier ist urplötzlich ein Verständnis in den Naturwissenschaften. Gefordert, das bisher in den Sektoren der Geisteswissenschaften – also der Kunstgeschichte – verkapselt war....

    Die Datenbilder und Bilderdaten – etwa in der Computertomographie - sind nicht nur Repräsentationen des Körperinneren. Sie sind auch und vor allem rätselhafte Zeugnisse einer Kulturtechnik, die Messdaten in Kunstbilder überträgt. Wie sie das tun, ist einerseits Programm. Es ist aber auch Kulturgeschichte. Insofern übersetzen Bilder nicht einfach nur Texte und Daten, sondern sie schaffen sie nach ihren eigenen Bedingungen. Man kann zwar fragen, ob Bilder lügen. Aber gleichzeitig ist diese Frage obsolet:

    Meines Erachtens muss man die Frage stellen, ob Bilder lügen – in dem Moment, in dem Bilder für Realität genommen werden. Aber Bilder (lacht) lügen immer. Sie können gar nicht anders als lügen, weil sie in einer Sphäre erscheinen, die von dem, was sie scheinbar illustrieren, unterschieden ist. Es gibt eine Differenz, die unüberbrückbar ist und die die Kraft von Bildern – gerade im Kontrast zu anderen Äußerungsformen – definiert. Und diese Kraft findet sich nicht nur im Bereich der bildenden Kunst, sondern in allen Bereichen der Kultur: In der Schrift, in den Instrumenten, in den Maschinen, in den Mikroskopen, in den Visualisierungen von mikroskopischen Ergebnissen, in den Visualisierungen von Weltraumbildern: Kein Mensch weiß, wie die Farben auf dem Mars wirklich aussehen oder auf der Venus. Die Hubble-Teleskope sind alle ohne Farbe, sie werden aber auf grandiose Weise an die Erfahrung der psychedelischen Kultur der 60er und 70er Jahre angepasst und sind grandios. Aber es weiß kein Mensch, wie die Farben wirklich aussehen.

    Text – Bild – Zahl: Ein wenig steckt hier wie im ganzen Band ein ganzer Mythos: Dem der Ähnlichkeit von Schriftzeichen, die man nicht zuletzt im mathematischen Calculus, der Sprache der Berechnungen und Berechenbarkeiten wieder einzuholen sucht. Dies wäre eine Ähnlichkeit der Sprachen vor aller Medientechnik und nach aller Medientechnik zugleich.

    Der Titel des Sammelbandes ist ein halbes Zitat. Denn der Berliner Medientheoretiker Friedrich Kittler, ebenfalls Autor des Bandes, hatte schon vor Jahren auf die mindestens dreifache Ausdifferenzierung aufmerksam gemacht: Zahlen Bilder Codes hieß sein Vortrag aus dem Jahre 1998 ebenso wie seine programmatische Schrift Grammophon–Film-Typewriter über 10 Jahre zuvor.

    Friedrich Kittler entlockt am Ende des Bandes den griechischen Philosophen ein wunderbares Geheimnis: Dass und wie sie Schrift, Zahl und Musik zusammenfallen ließen, als das Alpha und das Omega sozusagen unterschiedslos Schriftzeichen, mathematische Indizes und Noten bezeichneten. Kittler öffnet das Thema Bildwissenschaft zur – ja wie soll man es nennen – Tonwissenschaft, Klangwissenschaft? Das wäre denn das Megaprogramm der Berliner Humboldt-Gruppe: Eine Theorie der Sinnentechnik. Das Gebälk der Alma Mater und ihrer ordentlich segmentierten Disziplinen beginnt schon zu ächzen. Nicht nur die Ohren der Techniker vernehmen es mit stillem Triumph.

    Sybille Krämer, Horst Bredekamp (Hrsg.)
    Bild – Schrift –Zahl
    Fink Verlag, 201 S., EUR 19,90