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Lessings "Nathan" in Potsdam
Versöhnung der Religionen?

Eines der berühmtesten Dramen der deutschen Aufklärung, Lessings "Nathan der Weise", wurde in Potsdam zur Erinnerung an das preußische Toleranzedikt von 1685 aufgeführt. Als Integrationsstück mit jugendlichen Flüchtlingen aus einer sogenannten Willkommensklasse. Die zentrale Frage dabei war: Wie leben mit dem Andersgläubigen, dem Anderen schlechthin?

Von Hartmut Krug | 30.10.2015
    Lehrstücke, seien sie von Brecht oder Lessing, finden heutzutage meist ihren Auftritt im Schulunterricht. Kommt es aber zum Bühneneinsatz von Lessings "Nathan der Weise", so erfolgt dieser vor allem als Reaktion auf aktuelle gesellschaftliche Verhaltensweisen. So wurde der Nathan sofort nach dem 2. Weltkrieg gespielt. Und er tauchte nach den ausländerfeindlichen Pogromen von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda wie nach dem Terroranschlag des 11. September auf zahlreichen Bühnen auf. Auch jetzt, in unserer von Terror, Gewalt und gewaltigen Flüchtlingsbewegungen bestimmten Gegenwart erscheint er in vielen deutschen Stadttheatern auf den Spielplänen.
    Mehr als sechzehn Inszenierungen sind für diese Spielzeit angekündigt, unter anderem in Plauen und Bonn, Dresden und Mainz, Ingolstadt und Görlitz, - während in Berlin, Marburg, Stendal, Erlangen und Rostock die Premieren schon stattgefunden haben.
    Nicht lange ist es her, dass Lessings Stück vor allem einem Charakterdarsteller in der Titelrolle die Möglichkeit gab, so virtuos wie folgenlos zu menscheln, ganz im falschen Verständnis von Goethes inniglichen Hoffnungen auf die Wirkung des Stückes, der meinte:
    "Möge das darin ausgesprochene göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl der Nation heilig und Wert bleiben."
    Lessings Stück ist heute auf dem deutschen Theater von allerlei Gefahren bedroht: Von der Unsitte, dem Nathan aktuelle Gewalt- und Leid-Erfahrungen direkt einzuschreiben, so wie vor Kurzem in einer Rostocker Inszenierung. Und vom Versuch, dem utopischen und scheinbar Märchenhaften des Stückes mit Ironie und Performance-Kunststücken des Regietheaters zu begegnen, wie von Andreas Kriegenburg zu Spielzeitbeginn am Deutschen Theater.
    In Potsdam ging man einen anderen Weg und entdeckte dabei ein altes Stück, das weder ein Märchen, noch eine brave Gutmenschen-Hoffnung, sondern ein Diskurs- und Mentalitätsstück ist.
    Der Regisseur Andreas Hueck schafft es mit seinen vorzüglichen Schauspielern auf einer nur mit wenigen Säulenresten ausgestatteten Bühne, aus Lessings Demonstrationsfiguren lebendige Menschen zu machen. Er führt Menschen in ungeklärten Beziehungen vor, in deren Köpfen stets auch ideologische Feindseligkeiten brausen, und er arbeitet mit Witz und psychologischer Genauigkeit die gedankliche Schärfe und Klarheit von Lessings Texten heraus. Man schaut den konzentrierten und zugleich spielerisch lockeren Schauspielern mit großer Spannung zu.
    Weil hier alle Figuren, gekleidet historisch zeitlos und heutig, stets zugleich in äußerer und innerer Bewegung sind. Der souveräne Nathan-Darsteller zeigt einen suchend selbstbewussten Menschen, der die Ringparabel natürlich erst im Augenblick der Not für sich findet, und die Darstellerin der Recha vermeidet mit aller Lebhaftigkeit jeden Jungmädchenkitsch. Der Tempelherr wiederum wird nicht nur in seinem Trotz und seiner Wut, sondern auch in seiner Gefährlichkeit verstehbar. So könnte man jeden Darsteller für seine klare Figurengestaltung und seine Sprachbehandlung loben. Wir erleben ein freies Theater, das "Theater Poetenpack", das einen "Nathan" von zugleich poetischer und politischer Klarheit präsentiert.
    Neben acht Schauspielern stehen 16 Jugendliche auf der Bühne in der Französischen Kirche, einem Mehrgotteshaus. Etliche von ihnen sind Flüchtlinge aus Syrien, Albanien, Afghanistan und dem Iran, die in einer Willkommensklasse Deutsch lernen. Sie sind in ihrer symbolhaften Positionierung, mit der sie Lieder oder Gebete aus ihren drei Religionen darbieten, so ein islamisches Morgengebet oder ein jüdisches "Halbes Kaddish", ein szenischer Beleg dafür, dass spirituelle Sinnsuche auch im praktizierenden Miteinander stattfinden kann.
    Wenn am offenen Schluss sich schließlich alle auf der Bühne drängen, ist klar: Es gibt keine Gewissheiten und jeder könnte auch ein anderer sein.