Dienstag, 23. April 2024

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Letzter "Mauersplitter" im DLF
"Mir war es ein bisschen zu viel Gejubel"

Die ostdeutsche Schriftstellerin und Journalistin Marion Brasch hält die zurückliegenden Feierlichkeiten zur friedlichen Revolution in der DDR und zum Fall der Mauer für legitim. Es habe aber an einer differenzierten Berichterstattung gefehlt, sagte Brasch im Deutschlandfunk.

Marion Brasch im Gespräch mit Sandra Schulz | 23.01.2015
    Marion Brasch während der 18. Erfurter Herbstlese
    Marion Brasch, geboren 1961 in Berlin, entstammt einer Familie deutsch-österreichischer Kommunisten mit jüdischen Wurzeln. (imago / VIADATA)
    Sandra Schulz: "Mauersplitter", so haben wir sie genannt, und in der Reihe haben wir in den vergangenen Monaten an die friedliche Revolution erinnert mit Original Tondokumenten von vor 25 Jahren.
    Begonnen haben wir damit am Jahrestag des Mauerbaus, am 13. August, und das letzte Dokument dieser Reihe, das läuft heute. Und um das schon mal zu sagen: Heute vor 25 Jahren genau, da haben die DDR-Grenztruppen offiziell mit dem Abriss der Berliner Mauer begonnen und diese durch einen Zaun ersetzt ohne Stacheldraht. Den Schlusspunkt wollen wir jetzt noch mal zum Anlass nehmen, zurückzuschauen. Hier bei mir im Studio ist jetzt die Schriftstellerin und "Radio 1"-Hörfunkkollegin Marion Brasch. Guten Morgen.
    Marion Brasch: Guten Morgen.
    Schulz: Für unsere Hörer möchte ich eins noch für Ihre Biografie vorwegstellen. Ihr Vater Horst Brasch war SED-Funktionär, stellvertretender Kulturminister zeitweise. Einer Ihrer drei Brüder, der oppositionelle Schriftsteller Thomas Brasch, ist 1976 in die Bundesrepublik gegangen. Sie waren Ende 20, als die Mauer fiel. Sie waren in der SED, Sie waren keine Oppositionelle. In Ihrer Familiengeschichte, in dem Buch "Ab jetzt ist Ruhe", da haben Sie vor ein paar Jahren diese Geschichte aufgeschrieben und haben damit den Erzählungen über die DDR ein Mosaiksteinchen hinzugefügt. Deswegen nehme ich an, dass Sie mit der Mosaiksteinhaftigkeit unserer "Mauersplitter" einiges anfangen können?
    Brasch: Ja doch. Ich habe mir das angehört und dachte, aha, ist ja interessant, weil man ja die Termine vergisst, an denen was passiert ist, weil es ist ja so viel passiert in der Zeit und jeden Tag war was anderes. Insofern war das schon ganz interessant, sich das noch mal so zurückzuholen.
    "Erinnerung ist ja was sehr Subjektives"
    Schulz: Ist das so, dass Erinnerung überhaupt am besten über Mosaiksteine funktionieren kann, über Einzeleindrücke?
    Brasch: Ja! Das ging mir zum Beispiel so, als ich meine Familiengeschichte aufgeschrieben habe. Das ist ja ein Roman im Prinzip. Aber ich habe mich da entlanggehangelt natürlich auch an Terminen.
    Ich habe alle meine Kalender damals aufgehoben. Ich habe nicht Tagebuch geführt, sondern Kalender. Die habe ich alle noch gehabt und anhand derer habe ich mich einfach orientieren können: Wann war was, mit welchen Leuten habe ich damals abgehangen und so. Das war mein Mosaik, meine Serie, die ich da verfolgt habe.
    Schulz: Zusammensetzen muss es dann aber trotzdem jeder selbst, oder müssen oder können wir das als Journalisten auch?
    Brasch: Ja, das muss, ich glaube, schon jeder auf seine Weise tun. Erinnerung ist ja was sehr Subjektives. Ich glaube, es gibt zwar kollektive Erinnerungen und es gibt Geschichtsbücher, aber jeder muss ja sein eigenes Bild von Geschichte zusammensetzen, das immer auf einer eigenen Biografie und Erfahrung beruht.
    DDR-Revolution hat "für mich viel mit Punk zu tun"
    Schulz: Sie sind, ich habe es gesagt, auch Radiofrau. Mit welchen Geräuschen erinnern Sie sich an die friedliche Revolution? Gibt es da den Sound oder Musik?
    Brasch: Ja. Das sind, glaube ich, ganz viele Geräusche. Das fängt ja an irgendwie mit dem Oktober für mich, wo es wirklich gravierend wurde. Da höre ich tatsächlich Polizeisirenen am 6., 7. Oktober. Ich habe ja in der Gegend gewohnt in Berlin um die Gethsemanekirche herum. Ich war auch dabei.
    Dann hat es für mich viel mit Punk zu tun gehabt, weil es war eine Punk-Zeit auch für mich, als ich damals beim Radio gearbeitet habe. Wir haben die ganzen nicht nur Punk-, sondern auch Giftschrank-Songs gespielt, die wir nicht spielen konnten. Wir haben ja ein anarchisches Radio gemacht in dieser Zeit. Ich habe damals bei "DT64" gearbeitet, das war das Jugendprogramm, und damit ist das ganz stark verbunden, mit so einer Rebellion in der Musik auch.
    Schulz: Als ich, als wir uns jetzt gemeldet haben, der Deutschlandfunk, schwingt das jetzt bei Ihnen noch mit, der Feindsender von früher, der er bei Ihnen sicherlich zuhause war?
    Brasch: Na ja, der Feindsender - es war ja nur in den Ohren derer ein Feindsender, die es nicht wollten, dass wir den hören. Wir haben damals viel "RIAS" gehört, weil da die coole Musik lief. Meine Eltern haben oder mein Vater hat mir natürlich nicht erlaubt, Westradio zu hören, oder Westfernsehen. Wir haben es natürlich trotzdem gemacht, sobald es ging. Das gehörte ja dazu. Feindsender ja, auch AFN oder BFBS oder so haben wir gehört.
    "Es ging mir ein bisschen auf die Nerven"
    Schulz: Jetzt schauen wir zurück auf dieses halbe Jahr mit Gedenken, mit dem Jubiläum, 25 Jahre friedliche Revolution, die große Feier auch am Brandenburger Tor. Mit welchem Eindruck gehen Sie aus diesem Halbjahr?
    Brasch: Na ja, das ist völlig legitim, dass das gefeiert wird und dass dieser Zeit gedacht wird und so. Das ist absolut wichtig, weil es ein historischer Moment war. Mir war es ein bisschen zu viel Gejubel und mich erinnerte das teilweise in der Berichterstattung an historische DDR-Ereignisse beziehungsweise so Standardtermine wie 1. Mai oder 7. Oktober oder so. Das hat mich wirklich sehr stark daran erinnert und es ging mir ein bisschen auf die Nerven. Und man müsste wirklich auch ein bisschen differenziert gucken.
    Dieser 9. Mai, Christoph Hein hat es eben gesagt: Es verschwand ja dann auch etwas. Eine Idee verschwand von einer Idee von einer anderen DDR, die verschwand dann irgendwann, einer besseren, einer demokratischen, und das fand ich ein bisschen unter den Tisch gekehrt bei allen Jubel- und Gedenkveranstaltungen.
    "Jeder hat das Recht auf seine eigene Geschichte"
    Schulz: Aber ist das, was Sie sagen, dass Sie genervt waren, ist das nicht ein Affront gegenüber den Menschen, die unter der DDR vielleicht mehr gelitten haben als Sie als Tochter von Horst Brasch ja auch mit Privilegien? Ist das ein Affront?
    Brasch: Ich weiß nicht. Das müssen die Leute beurteilen, die es hören und die sagen, das ist aber jetzt ein Affront, was Frau Brasch sagt.
    Ich empfinde das nicht so und ich glaube, jeder hat das Recht auf seine eigene Geschichte und auch das Recht, seine eigene Geschichte so zu reflektieren. Ich finde es ein bisschen problematisch, wenn es immer nur Schwarz oder Weiß heißt, entweder man war in der Opposition und hat gegen das System gearbeitet und unter dem System gelitten, oder man war dafür und hat alles dafür getan. Es gab ja Zwischentöne und ich finde, es ist wichtig, dass man auch diese Zwischentöne hört und auch immer wieder erzählt.
    Ich bin, glaube ich, ein Zwischenton. Ich bin zwar ein Kind einer privilegierten Familie gewesen, aber die Privilegien spielten bei uns nicht so eine große Rolle. Ich hatte drei rebellische Brüder. Ich bin in diesem Spannungsfeld zwischen Zustimmung und Rebellion aufgewachsen und das ist, glaube ich, ganz spannend und solche Geschichten sollte man sich, glaube ich, anhören, bevor man sofort in den Affront-Ton fällt.
    "Opportunismus gibt es auch heute in jeglicher Form"
    Schulz: Deswegen möchte ich das von Ihnen auch noch mal wissen, warum Sie sich - Sie haben es ja beschrieben - dann doch auf die Seite Ihres Vaters geschlagen haben, in die SED eingetreten sind, Ihrem Vater zu liebe. Warum diese Entscheidung, die heute vielleicht viele nicht verstehen?
    Brasch: Ja! Das ist bei mir wie gesagt speziell, weil meine Brüder haben sich gegen meinen Vater gestellt. Ich war die kleine Schwester und ich war dann so irgendwie zwischen den Fronten. Ich wollte meinem Vater das Gefühl geben, bei mir hat er alles richtig gemacht und ich folge seinem Weg. Mir war es eigentlich völlig egal, ob ich jetzt in die SED eintrete. Das hat mich nicht interessiert.
    Ich bin nicht aus Überzeugung, sondern um meinem Vater einen Gefallen zu tun.
    Auf der anderen Seite habe ich natürlich meine Brüder bewundert für ihre Rebellion und für ihr Aufstehen und Einstehen für ihre Idee vom Sozialismus. Sie waren ja auch nicht gegen den Sozialismus, sondern sie wollten einen besseren, einen anderen machen.
    Ich brauchte eine Weile, um aus dieser opportunistischen Position, in der ich mich damals befand innerhalb der Familie, rauszuwachsen, erwachsen zu werden und mit aufrechtem Gang da rauszugehen, und das habe ich ja dann auch getan. Ich bin auch ausgetreten aus der SED, relativ spät, aber ich habe es gemacht.
    Ja, ja, jeder muss irgendwie vor sich selbst dann auch die Verantwortung ziehen, was habe ich gemacht, hätte ich früher aufstehen müssen und Nein sagen. Natürlich hätte ich das machen können und auch machen müssen. Aber ich halte immer nichts davon, wenn so Leute im Nachhinein sagen, ja, aber ich habe doch schon immer gesagt. Es haben sehr viele, sie haben schon immer gesagt, und sie tun es nicht.
    Was ich auch interessant finde ist: Opportunismus gibt es auch heute in jeglicher Form. Das sollte man nicht vergessen. Und würde der Wind anders wehen? - ich weiß nicht. Das muss jeder für sich entscheiden.
    Schulz: Was ist für Sie denn eine plausible Form, jetzt zurückzuschauen?
    Brasch: Eine plausible Form zurückzuschauen? - Na ja, ich weiß nicht. Ich gucke ja nicht so gern zurück. Ich denke, man sollte nach vorne gucken und sagen, okay, jetzt ist das so und lasst uns das Beste daraus machen. Die Idee, eine andere, bessere DDR zu machen, ist verspielt, und jetzt muss man mit dem arbeiten, was man hat. Das heißt, diese Bundesrepublik, wie sie jetzt da ist.
    "Ich halte diese Menschen für dumm"
    Schulz: Und in dieser Bundesrepublik rufen jetzt wieder Menschen in Dresden "Wir sind das Volk". Welchen Reim machen Sie sich darauf, auf Pegida, auf die Bewegung, die sich jetzt möglicherweise schon wieder zerlegt?
    Brasch: Ja, ich finde das ganz, ganz schwierig, weil ich halte diese Menschen wirklich - das klingt furchtbar arrogant -, ich halte diese Menschen für dumm, die hinter einem solchen Slogan Pegida, Patriotische Europäer gegen die Islamisierung und so, das kennen wir ja alles. Ich finde das dumm und wenn sie sich dagegen wehren, dass sie das nicht vertreten, dann sage ich, ihr vertretet es aber, weil ihr marschiert hinter diesen rechten Parolen hinterher.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.