Von seinem sechzigsten Geburtstag an, und speziell seit er das Schreiben bezüglich seiner Frühpensionierung erhalten hatte, das er bei sich "den Entlassungsbrief" nannte, führte sich Reuven zurückschauend immer häufiger sein Leben vor Augen, erzählte es sich Kapitel für Kapitel, so wie er es Ofer an jenem Nachmittag zu Beginn des Frühlings erzählt hatte, als sie in Ofer's Wohnung in der Jarkonstraße auf dem Balkon mit Blick zum Meer saßen und es ihm schwer fiel, die Videokamera zu ignorieren, so dass er mit einem Mahl das Gefühl hatte, sein Worte unnötig blumig auszuschmücken, und Ofer gesagt hatte, wenn es dich stört, kann ich sie ausmachen und den Recorder einschalten, das ist nur eine erste Bestandsaufnahme, es ist noch nicht sicher, ob wir dieses Material auch verwenden...
Melancholisch und präzis leuchtet die 1963 geborene Judith Katzir in ihren Erzählungen nicht nur das Scheitern des Gewerkschaftsanwalts Reuven aus, sondern das einer ganzen Generation. Ephraim Kishon, der erfolgreichste Satiriker des jüdischen Einwandererstaates hatte es einst auf den Punkt gebracht, als er noch in den Sechzigern festhielt, der Staat Israel sei ein integraler Bestandteil der Gewerkschaft. Seit der Kapitalisierung der israelischen Wirtschaft in den Siebzigern war das jedoch vorbei, die Wanderung von Reuven durch das Tel Aviv der Neunziger spiegelt auch dies, Legenden sind heute verbliche und verstaubt, und die gescheiterte Lebensgeschichte von Emil, dem Vorgesetzten von Reuven in den Sechzigern, der in Casablanca die israelischen Geheimdienstaktionen koordinierte, machen die Brüche deutlich, Brüche in der Generation derer, die sonst gefeiert wird. Bei Judith Katzir klingt das dann so: die Beichte vor der Kamera, der Sohn befragt den Vater.
Ganz beiläufig fragte er Reuven, weshalb Emil und Judith eigentlich keine Kinder gehabt hätten, und Reuven erwiderte, ich weiß es nicht, ich habe nie gefragt, und hätte es doch zu gerne getan, und du, was ist mit dir?, sagte es jedoch nicht, sondern richtete seinen Blick auf das alles verschlingende Zyklopenauge, rückte seine Brille zurecht, räusperte sich und erzählte, dass Emil ein Überlebender des Holocaust war, ein Partisan der zionistischen Jugend, der, seiner Eltern und seines kleinen Bruders beraubt, von Polen nach Ungarn geflohen, von der Gestapo gefasst, gefoltert und zum Tode verurteilt worden war, zwei Stunden vor der Urteilsvollstreckung jedoch von der Roten Armee, die die Stadt eroberte, befreit wurde und sich den Russen auf ihrem Siegesmarsch nach Wie anschloss, an Aktionen der Gruppe der "Rächer" teilnahm, die hochrangigen Nazis nachstellten, mit eigenen Händen brachte er ein paar von denen um - und Reuven hob seine großen Handteller vor die Kamera und presste sie mit aller Macht gegeneinander - so, wie Ratten hat er sie erwürgt, und danach schiffte er sich mit der Altalena ein und meldete sich freiwillig zum Mossad; spazierte einfach eines Tage in die Zentrale hinein und verkündete, er suche nach einer interessanten und gefährlichen Beschäftigung und der damalige Mossad-Chef, Schaul Avigur, schickte ihn auf eine Mission nach Europa.
Nicht nur in Israel gelten die Gründerväter der als das heilige Flagschiff der Nation, doch die Kunst der Demontage von Judith Katzir ist s ehr subtil. Judith Katzir:
Der Unterschied zwischen den Generationen liegt darin, dass Ruben Shafir sich in der Erzählung "Leuchttürme landeinwärts" mit dem sozialen Aufstieg des Staates Israel identifiziert. In den Erzählungen des Bandes befinden sich die Protagonisten auf einer Reise zu sich selbst, Ruben Shafir aber, der Rechtsanwalt wird viel stärker als die Ich-Erzählerin der folgenden Geschichte durch das öffentliche Leben in Israel geleitet, auch dadurch, dass er sich in seiner Arbeit als Rechtsanwalt für Arbeiter eingesetzt hat. Seine soziale Karriere ist dadurch geprägt, auch die Mißgeschicke die er erlebt. Im Vergleich dazu ist die Malerin in meiner Erzählung "Die Wolken, sie ziehen und ziehen", viel mehr auf ihrer eigenen Familie fixiert, sie ist viel eher eine individuelle Person.Und darin liegt auch meiner Meinung nach der Unterschied zwischen den beiden Personen. Wenn die Malerin sich allein auf ihren Schmerz besinnt, dem geht, folgt Ruben seinem sozialen Engagement und den Erfahrungen seiner Generation. Darin liegt der Unterschied zwischen den beiden Erzählungen und den zwei Perspektiven.
Auf seinem Irrweg durch Tel Aviv, von einem Busbahnhof zum anderen, der Sohn verschollen, Ofer holt den Vater nicht ab, spiegelt sich der normale Alltagswahnsinn der Neunziger, das Ende einer Dienstfahrt kündigt sich an, der Abstieg eines Handlungsreisenden in Sachen Gerechtigkeit, ein alt gewordenes Relikt aus einer Zeit, da man in Israel noch an die Utopie einer demokratischen Sozialismus glaubte, schlendert durch Tel Aviv. Kein Wunder, dass Lea Rabin Judith Katzir einen emphatischen Brief geschrieben hat, in dem sie den Verlust der Hoffnung und der "alten Tage" beklagt. Nicht umsonst endet die einhundert Seiten lange Erzählung mit der Ermordung von Jitzhak Rabin und der desillusionierten Abwendung Reuvens von der Politik und einem letzten Blick hinaus...
... und dann würde er die Genehmigung für ein Schwimmbecken im Hof beschaffen und den Bau vollenden, und er stellte sich schon die Überraschung auf Chajas Gesicht und Jonathans wilde Freudensprünge vor, lehnte seinen Stirn gegen das Fenster und blickte hinaus auf die beiden hohen Türme des Friedenszentrums, den runden und den dreieckigen, auf denen in ganzer Länge weiße Lichter erstrahlten, als wären sie Leuchttürme landeinwärts, und sein Kopf pendelte im Schaukeln des fahrenden Busses hin und her, bis er einschlief. Dazu Katzir:
Wie es sich schreibt nach dem Massaker am Strand von Tel Aviv ? Wie es sich nach dem 11. September schreibt ? Meine Tendenz ist alle Türen zu verriegeln, alle Fenster zuzumachen, mir die Ohren zuzuhalten, meine Augen zu verschließen und nicht zu beachten, was in Israel täglich passiert. Ich will mich dem normalen Leben zuwenden, so dass das normale Leben wenigstens in meinen Büchern existieren kann. Wenn man im wahrem Leben keine Normalität erleben kann, so kann es wenigstens in meinen Erzählungen eine Zuflucht finden. Auf die Dauer aber wird es viel zu anstrengend, so ein Leben zu führen, den blutigen Alltag auszublenden und ohne Blick nach Außen darüber auch noch zu schreiben.