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Liberaler als gedacht

Wer nach dem Schweizer Referendum für ein Minarett-Verbot ungestüme Reaktionen aus den islamischen Ländern erwartet hatte, wurde eines Besseren belehrt. Insbesondere in der Türkei blieben Massenproteste aus - ein Zeichen für die sinkende Europabegeisterung der Türken.

Von Gunnar Köhne | 02.12.2009
    Als das Osmanische Reich Ende des 19. Jahrhunderts am Abgrund stand, dichtete der türkische Schriftsteller Ziya Gökalp: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." Dabei war Gökalp gar nicht das, was man heute einen Islamisten nennen würde. Im Gegenteil: Gökalp und die anderen Jungtürken wollten das Kalifat abschaffen und den Sultan stürzen. Aber sie brauchten die Unterstützung der frommen Landbevölkerung – an sie waren diese Verse des späteren Freimaurers Gökalp gerichtet.

    Zu Berühmtheit gelangten diese Zeilen erst wieder durch Tayyip Erdogan, den heutigen türkischen Ministerpräsidenten. Erdogan, damals noch Istanbuler Bürgermeister der islamistischen Wohlfahrtspartei, zitierte Gökalps Vergleich von Moscheen und Kasernen 1998 auf einer Veranstaltung. Daraufhin wurde er wegen "Aufwiegelung" zu vier Monaten Haft verurteilt. Geläutert kehrte Erdogan aus dem Gefängnis auf die politische Bühne zurück, sagte sich von der religiösen Rechten los, gründete die Reformpartei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP, und führte sein Land in Beitrittsverhandlungen mit der EU.
    In den acht Jahren seiner Regierungszeit hat Erdogan auch die christlichen Minderheiten im Land bessergestellt – wenn auch deren Situation internationalen Menschenrechtsnormen noch immer nicht völlig genügt. Dennoch dient Erdogans Rezitation des düsteren Gökalp'schen Gedichts von den Minaretten als Bajonetten der europäischen Rechten wieder und wieder als Vorlage in ihrem Einsatz gegen die Türkei und den Islam – zuletzt in der Schweiz. Für Staatspräsident Abdullah Gül, einen Weggenossen Erdogans, fügt sich die Volksabstimmung über den Bau von Minaretten in der Schweiz in die allgemeine anti-islamische Stimmung im Westen:
    "So etwas überhaupt zur Abstimmung zu stellen, ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Aber die Entscheidung lenkt noch einmal den Blick auf die sich immer stärker ausbreitende Islamophobie. Die ganze Sache ist eine Schande für die Schweiz, anders kann man das nicht nennen."
    Ministerpräsident Erdogan sprach sogar von "Rassismus", dazu gab es noch paar bissige Zeitungskommentare zu der Schweizer Entscheidung – doch viel mehr Aufregung war nicht am Bosporus. Das liegt vermutlich auch daran, dass sich die Türken längst an Nachrichten aus Europa gewöhnt haben, die sie als abweisend empfinden: die Mohammed-Karikaturen aus Dänemark etwa, oder das ständige Nein der Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs zu einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Hinzu kommen die tagtäglichen Abweisungen an den Visastellen der Schengenstaaten.

    Umfragen zeigen, dass die Europabegeisterung der Türken auf einem Tiefpunkt angekommen ist. Diese Stimmung scheint auch die Regierung erreicht zu haben. Sie orientiert sich außenpolitisch zunehmend gen Osten, strebt nach einer machtvollen Rolle im Nahen Osten und Kaukasus.

    Ein Istanbuler Politologe beschrieb es kürzlich so: Die Türken hätten sich zwar noch nicht von Europa abgewendet, aber sie blickten auch nicht mehr dorthin. Auch das zeigte die kühle Reaktion Ankaras auf die Schweizer Volksabstimmung.