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Liberalität und Multikulturalität in den Niederlanden

Der am Bard College in New York lehrende Ian Buruma fragt sich in seinem Buch "Die Grenzen der Toleranz", wie es in seiner holländischen Heimat zu den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh kommen konnte. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass sich die Niederlande in den letzten Jahren grundlegend verändert hat. Das Modell von Liberalität und Multikulturalität hat ausgedient, seitdem Holland von strenggläubigen marokkanischen Muslimen überschwemmt wird. Nur wenige hatten früh mit dem einmütigen Toleranzkonsens der Politiker gebrochen: Dazu gehörten die ermordeten van Gogh und Fortuyn, dazu gehört noch heute die emigrierte Ayaan Hirsi Ali und der weiter unter ständiger Bewachung lebende iranische Jurist Afshin Ellian. Buruma befragt in seinem reportagehaft geschriebenen Buch holländische Wissenschaftler, Politiker und Schriftsteller, er interviewt arabische Intellektuelle, die die europäische Aufklärung verteidigen und er versucht sich ein Bild von dem van-Gogh-Mörder Mohammed Bouyeri zu machen.

Von Klaus Englert | 15.08.2007
    Mohammed Bouyeri, der Attentäter von Theo van Gogh, trug vor Gericht einen traditionellen nordafrikanischen Dschellabah, doch seine Füße steckten in Turnschuhen von Nike. Er spricht holländisch mit Amsterdamer Tonfall. Berberisch, die Sprache seiner Eltern, beherrscht er nur bruchstückhaft. Eigentlich ist Bouyeri vollends westlich sozialisiert: Er ging auf die Mondrian-Sekundarschule, engagierte sich in der Jugendarbeit, hatte holländische Freunde, er gehörte zur linksalternativen Szene, rauchte Haschisch und war nicht sonderlich religiös. Doch binnen kurzer Zeit änderte sich das radikal: Bouyeri konvertierte zum fundamentalistischen Islam. Nach der Ermordung Theo van Goghs erklärte er vor Gericht, er habe die Pflicht "allen den Kopf abzuschneiden, die Allah und seinen Propheten beleidigen."

    Ian Buruma, Autor von "Die Grenzen der Toleranz", beschreibt Bouyeri als einen Menschen, der weder in der Kultur der Eltern noch in der holländischen Zivilisation seine Heimat fand. Anders sein Vater Hamid Bouyeri: Obwohl er bereits über 40 Jahre in Holland lebt, wo er als Tellerwäscher zu bescheidenem Wohlstand gekommen ist, fühlt er sich noch immer voll und ganz zum ärmlichen marokkanischen Rif-Gebirge hingezogen. Für Menschen wie Mohammed Bouyeri hat der britische Autor Timothy Garton Ash den Ausdruck "Inbetween People" geprägt. Es sind "gespaltene Persönlichkeiten", Menschen, die sich weder in der Heimat ihrer Eltern noch in dem Land, in dem sie aufwuchsen, aufgehoben fühlen.

    In seiner mustergültigen Reportage berichtet Buruma von einem Treffen mit dem marokkanischen Psychiater Bellari Said in Amersfoort, einer mittelgroßen holländischen Stadt mit hohem Immigrantenanteil. In dieser Stadt, so behauptet die Polizei, seien 40% der marokkanischen Jugendlichen kriminell "verdächtig". Buruma berichtet, dass in Saids Praxis viele Immigranten mit auffallenden Symptomen kommen:


    "Die Hauptbeschwerden seiner Patienten seien, so sagte Said, Depressionen und Schizophrenie; Depressionen seien besonders unter Frauen verbreitet und Schizophrenie unter Männern. Schizophrenie schien aber nicht die Immigranten der ersten Generation zu befallen. Die Gastarbeiter neigten eher zu Depressionen, nicht zur Schizophrenie. Erst die zweite Generation der Marokkaner, die in den Niederlanden geboren und aufgewachsen war, litt an Schizophrenie. Ein junger männlicher Marokkaner der zweiten Generation war mit zehnmal so großer Wahrscheinlichkeit schizophren wie ein Holländer mit einem vergleichbaren wirtschaftlichen Hintergrund.

    Bellari Said glaubt, dass das Problem der Schizophrenie in der Anpassung an eine Gesellschaftsform liegt, die freier und offener ist als die angestammte Gesellschaft mit ihren strengen Regeln. Das kann zu einem Zerfall der Persönlichkeit führen. Anpassungsdruck ist ein Risikofaktor für Schizophrenie. Männer leiden darunter stärker als Frauen, weil sie größere Freiheiten haben, mit der normalen westlichen Gesellschaft in Wechselbeziehung zu treten. Wenn der Integrationsprozess zu rasch verläuft, wenn der Sohn des marokkanischen Dorfbewohners sich zu schnell in den Mahlstrom westlicher Versuchungen stürzt, kann seine ‚kognitive Vernetzung' völlig fehlgehen. Der Wunsch nach strengen religiösen Regeln ist sozusagen eine Form von Nostalgie, eine Möglichkeit, um die Welt der Eltern - oder was man für die Welt der Eltern hält - für sich zu gewinnen."

    Mohammed Bouyeri gehört zweifellos zu den "Inbetween People", wahrscheinlich auch zu den von Bellari Said geschilderten Schizophrenen. Nachdem Bouyeri bemerkte, dass er sich nicht im Kulturkreis seiner Eltern verständigen kann, wandte er sich von der vertrauten westlichen Kultur ab, floh schließlich in ein psychotisches Wahnsystem, den islamistischen Fundamentalismus, der für ihn Wahrheit und Reinheit gleichermaßen verkörpert. Ian Buruma schildert in seinem Buch den Hintergrund dieser Wahrheitssuche: Einerseits Rückschläge bei der Arbeitssuche, Konflikte mit den Behörden, Ablehnung beim anderen Geschlecht; andererseits Probleme mit dem Vater, von dem sich der Sohn mehr Autorität erhoffte. Denn Mohammed erwartete von ihm, dass er die voreheliche Liebesbeziehung seiner siebzehnjährigen Schwester verbietet. Buruma deutet es als "mangelhafte kognitive Vernetzung", wenn Mohammed dagegen die eigene Beziehung als völlig selbstverständlich betrachtet. Buruma resümiert:

    " : "In einem Haushalt, in dem der Vater kaum Orientierung bieten konnte, und in einer Gesellschaft, in der ein junger Marokkaner leichter Subventionen als Respekt bekam, war die Frage der Autorität, des Gesicht-Wahrens, von viel größerer Bedeutung [als die Religion]." "

    Mohammed Bouyeri sah im islamistischen Fundamentalismus den Ausweg aus seinen Kränkungen. Durch die patriarchalische Kultur des Islam fühlte er sein Selbstwertgefühl gestärkt - als männlicher Marokkaner glaubte er sich überlegen gegenüber Frauen und "Ungläubigen". Gleiches gilt für seine "Glaubensbrüder", mit denen sich Bouyeri in den letzten Jahren in Wahnwelten zurückgezogen hatte, in denen kein Außenkontakt mehr möglich war. Berauscht sahen sie sich aus Arabien stammende Videos an, die demonstrieren, wie man Ungläubigen die Köpfe abschlägt. Selbst während einer Hochzeitsfeier schauten die Glaubensfanatiker gebannt den Köpfungsszenen aus dem Mittleren Osten zu.

    Ian Burumas "Die Grenzen der Toleranz" beschäftigt sich allerdings nicht nur mit der "gespaltenen Persönlichkeit" marokkanischer Immigranten und den psychotischen Wahnvorstellungen der Islamisten. Buruma fragt sich auch, wie das lange als liberal gepriesene Amsterdam in acht Jahren aussehen wird. Nämlich dann, wenn - laut Prognosen - in der holländischen Hauptstadt 52% Muslime leben werden. Buruma hütet sich davor, ein Szenario der Intoleranz auszumalen. Aber er erinnert an eine Epoche aus der holländischen Geschichte, die hierzulande leider vergessen scheint:

    "Holland, und ganz besonders Amsterdam, hat eine lange Tradition in der Aufnahme von Fremden. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert trafen sephardische Juden aus Antwerpen und von weiter südlich ein, viele von ihnen waren auf der Flucht vor der spanischen Inquisition. In ihrem Goldenen Zeitalter war die Holländische Republik reich und bot allen religiöse Freiheit. Das veranlasste viele Juden, (...) die man gezwungen hatte, zum Katholizismus zu konvertieren, ihren Glauben wieder neu zu beleben. (...) Holland erfreute sich der Früchte der Aufklärung früher als die meisten anderen europäischen Länder. dass die sogenannte Frühaufklärung der Holländischen Republik zu einem Teil durch die Ideen Baruch de Spinozas, eines Sohnes sephardischer Flüchtlinge aus Amsterdam, inspiriert worden war, ist sicherlich kein Zufall."

    Ian Burumas Buch ist von prominenten Kritikern rezensiert worden - vom peruanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa, vom britischen Kritiker Timothy Garton Ash und vom französischen Philosophen Pascal Bruckner. Dabei ging es stets um die Zukunft des holländischen Toleranzmodells. Burumas "Die Grenzen der Toleranz" ist zwar eher eine Bestandsaufnahme der heute in Holland vorherrschenden Stimmungslage, dennoch macht der Autor unmissverständlich klar, dass die multiethnische Toleranz gescheitert ist. Buruma meint, dass sich Holland nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh gewandelt hat:

    "Welcher Ort wäre besser geeignet, um die Entwicklung des Dramas zu beobachten, als die Niederlande, wo sich die Freiheit aus einer Revolte gegen das katholische Spanien entwickelte, wo die Ideale von Toleranz und Verschiedenheit zum Markenzeichen der nationalen Ehre wurden und wo der politische Islam seinen ersten Schlag gegen einen Mann führte, dessen tiefste Überzeugung es war, dass die Freiheit der Rede die Freiheit der Beleidigung mit einschloss."

    Ian Buruma erzählt von einer befreundeten kroatischen Schriftstellerin, die über ihre Landsleute unverblümt sagt: "Sie halten Holland für eine leichte Beute." Viele der von Buruma interviewten Gesprächspartner unterschrieben diese Aussage, mit Blick auf die islamischen Immigranten. Beispielsweise der homosexuelle Populist Pim Fortuyn, der den Islam als "zurückgebliebene Kultur" kritisierte und sich nach dem vergangenen, toleranten Holland sehnte. Oder der an der Universität Leiden lehrende iranische Jurist Afshin Ellian, der bekennt, die europäische Aufklärung müsse gegen den politischen Islamismus, wenn nötig, mit Gewalt verteidigt werden. Und schließlich die in Somalia gebürtige Ayaan Hirsi Ali, einst konservative Parlamentsabgeordnete in Den Haag, heute amerikanische Staatsbürgerin und begeisterte Leserin von Spinoza, Karl Popper und Norbert Elias. Hirsi Ali wurde in Holland ständig von einer Sicherheitsarmada beschützt, ähnliches gilt noch heute von Afshin Ellian. Buruma versteht beide, mit kritischer Distanz, als "fundamentalistische Aufklärer". Nichtsdestotrotz stimmt er Hirsi Ali zu, wenn sie von den Holländern behauptet, sie erwarteten von den Immigranten, dass sie sich wie die Einheimischen benehmen, weil man so freundlich zu ihnen gewesen ist.

    Auch Ian Buruma - der in Holland geboren wurde, in England aufwuchs und nach längerem Japan-Aufenthalt heute in New York lebt - sieht seine niederländische Heimat kritisch. In einem kürzlich erschienenen Artikel verrät er, warum es den Immigranten geradezu unmöglich ist, sich in die holländische Gesellschaft zu integrieren:

    "In einer kosmopolitischen Gesellschaft können sich Menschen verschiedener kultureller Herkunft wie gleiche Bürger mischen. In der holländischen Gesellschaft geschieht es kaum, dass ein Immigrant wie ein gleichwertiger Bürger aufgenommen wird. Nicht weil die Holländer intolerant sind, sondern weil die holländische Gesellschaft wie ein exklusiver Club erscheint, mit privaten Normen. Dazu gehört die Fußballbegeisterung, der sentimentale Monarchismus und der als Geselligkeit verstandene Familiensinn."

    Schließlich kommt Ian Buruma auf die fundamentale aufklärerische Toleranz zu sprechen. Ohne sie gebe es kein wirkliches Zusammenleben zwischen Christen und Muslims:

    "Die Immigranten müssen lernen, dass die selben Gesetze, die ihre Glaubensfreiheit schützen, auch die Freiheit der anderen schützen, ihren Glauben zu kritisieren, ja sogar, ihn lächerlich zu machen. (...) Es ist möglich, das Beste des Multikulturalismus zu retten, vorausgesetzt, wir gehen über die bloße Toleranz hinaus und verstehen uns als Kosmopoliten." (EL PAIS, 25.10.2006).

    Einige Kritiker haben es Ian Buruma angekreidet, er würde Afshin Ellian und Ayaan Hirsi Ali als "fundamentalistische Aufklärer" abtun. Das Gegenteil ist der Fall: Er kritisiert lediglich die Positionen, die dem Dialog der Kulturen im Weg stehen. Nämlich dem unabgeschlossenen Projekt der Aufklärung.

    Ian Buruma: "Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh", aus dem Englischen von Wiebke Meier. Hanser, München 2007, 254 S.