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Licht und Zwielicht

Licht ist die zentrale Metapher im Roman "Kältere Schichten der Luft" von Antje Rávic-Strubel. Welches Licht von einem ausgeht und in welchem Licht man sich präsentiert, ist für die Geschichte ebenso wichtig wie der Gegensatz zwischen denen, die im Licht stehen, und jenen, die im Schatten verbleiben.

Von Michael Opitz | 12.09.2007
    Am Schluss des neuen Romans von Antje Rávic-Strubel stehen die Worte, die auf dem Titelcover zu lesen sind: "Kältere Schichten der Luft". Darin drückt sich der Wunsch der Ich-Erzählerin aus, in jene höheren Schichten der Atmosphäre vorzudringen, in denen die Luft kalt und klar ist.

    In solche Regionen hat sich die Autorin bereits in ihrem 2004 erschienenen Roman "Tupolew 134" begeben, der von einer Flugzeugentführung handelt. Der Gedanke, die Maschine nicht in Schönefeld landen zu lassen, sondern die Crew zu zwingen, Tempelhof anzufliegen, kommt den beiden Protagonisten erst, als sie sich weit oben befinden. Antje Rávic-Strubel erdet die Geschichte, indem sie erzählt, wie es zu der Flucht kam und wie zwei junge Leute aus Ludwigsfelde dadurch die deutsch-deutschen Beziehungen auf eine ernsthafte Probe stellen. Zwischen den Ebenen von oben und unten lotet die Autorin das erzählerische Material aus. Dabei greift sie auf einen Schacht als Bild zurück und bewegt sich erzählerisch auf den Ebenen "ganz unten", "unten" und "oben". Diese Erzählebenen ermöglichen es ihr, die Perspektiven zu wechseln. Der Roman "Tupolew 134" spielt in verschiedenen Schichten und Höhenlagen.

    Auslösendes Moment für die Flucht ist das Gefühl, nicht gern so zu leben, wie man lebt. Unzufrieden mit ihrem Leben sind auch die Protagonisten in "Kältere Schichten der Luft", die ebenfalls die Flucht ergreifen, ohne jedoch illegal eine Grenze überschreiten zu müssen. Anja, die Ich-Erzählerin, und Ralf, ein ehemaliger Grenzsoldat, haben ebenso wie der Maurer Marco, Svenja, die ihr Studium abgebrochen hat, und der Frührentner Wilfried einen sozialen Abstieg hinter sich. In Schweden treffen sie als Verantwortliche eines Abenteuercamps für Jugendliche zusammen.

    "Sie lebten wurzellos. Zeitenthoben. Sie waren in eine unbekannte Gegend gekommen, in eine anderes Land, in eine fremde Region, in der sie nur das waren, was sie den Sommer über hier jeden Tag machten; sie waren Kanu-Scouts, sie bauten Tipis, sammelten Beeren, sie brieten Lachse und schwammen im See. Für sie war es, als schlösse sich das jetzige Leben ihrem früheren nicht mehr an, ein paar Blessuren und abstrakte Betrachtungen ausgenommen. Retrokacke, wie jemand am Lagerfeuer sagte."

    Nur unzureichend werden sie aus Deutschland mit dem notwendigen Material versorgt und verwalten einen Zustand, den sie kennen, aber gern vergessen hätten. Es herrscht Mangel in der schwedischen Abgeschiedenheit, und so bewegen sich die Fliehenden im Kreis. Es gelingt ihnen auch nicht für eine kurze Zeit, ihre Geschichte abzustreifen, die ihnen lästig geworden ist wie eine zu eng gewordene Haut. Nichts ist in Ordnung, nur das Licht ist unbeeindruckt von den Lebenswirren, in denen sich die einzelnen Mitglieder der Gruppe befinden. Der Roman beginnt mit den Sätzen:

    "Vom Licht wußten sie alles. Sie kannten es in jeder Schattierung. Sie hatten gesehen, wie es den Himmel brüchig und zerrissen erscheinen ließ oder blauschwarz gewachst. Sie wußten, wie das Licht unter anschäumenden Wolken aussah, wie es schräg einfiel am Fjäll, wie es die Felsen, hoch oben den Wald und am Seeufer das dichte Unterholz traf. Erstrahlte der See eben noch türkis bis zum Grund, lag er im nächsten Moment schon stumpf und geschlossen da wie Asphalt. Sie hatten gesehen, wie das Licht bei Regen Kiefern und Brombeerbüsche matt erscheinen ließ, sie hatten gesehen, wie es morgens um vier auf vom Steinschlag verwüsteten Straßen und mittags auf dem kurzgeschnittenen Rasen schwedischer Vorgärten war. Sie kannten es in von Hitze flirrendem Gelb, im grünlichen Schimmer des Abends, sie konnten sagen, wie es über dem Dach des Geräteschuppens an verhangenen Tagen aussah. Sie wußten, wie sich Gesichter verändern, wenn grell das Licht auf sie fällt"

    Das Licht zeigt sich in seinen schönsten Varianten und hält in Form des Nordlichts so etwas wie ein Wunder bereit. Allerdings braucht es ein wenig Glück, um dieses sich in großen Höhen der Atmosphäre ereignende Lichterspiel sehen zu können. Während das Polarlicht ein Versprechen bleibt, erscheint im Lager eine schöne Unbekannte namens Siri, von der sich die Ich-Erzählerin magisch angezogen fühlt. Anja ist fasziniert von dieser Fremden, die wie eine Lichterscheinung plötzlich da ist. Anders als das Licht ist Siri, die vielleicht doch Ines heißt, nicht flüchtig. Zwischen ihr und Anja entwickelt sich eine Liebesbeziehung, in der beide Halt finden. Ausgelöst durch die Begegnung mit der rätselhaften Schönen, die in Anja einen verschwundenen Schiffsjungen wiedererkennen will und sie deshalb Schmoll nennt, wird von der Erzählerin eine Tür geöffnet, hinter der nur schemenhaft Spuren zu erkennen sind, die zu einer dunklen Geschichte führen. Siri nimmt Anja zu einem verlassenen Haus mit, das voller Geheimnisse steckt

    Ein Lichtstrahl fällt auf die vergessenen Lebensborn-Kinder. Es handelt sich um ein geheimnisvolles Licht, dass sich unter die geschlossenen Lider legen kann und dann die Kraft besitzt, "seine Klingen in den Kopf" zu zwingen. Dieses Licht schmerzt wie manche Erinnerungen. Für Anja, die nach der Wende aus Halberstadt geflohen ist, wurde es dunkel, als man das dortige Theater schloss. Seitdem muss sie mit einer Miniaturerleuchtung auskommen:

    "Es war ein Feuerzeug, in Form einer Glühbirne, die mir die Schauspieler geschenkt hatten, als das Theater geschlossen worden war. Wenn man das Rädchen betätigte, blinkte ein Schriftzug auf: Weiterleuchten!"

    Das Weiterleuchten als Lebensmaxime wird von Antje Rávic-Strubel in verschiedene Spektren der Lichtmetaphorik überführt. Welches Licht von einem ausgeht und in welchem Licht man sich präsentiert, ist für die Geschichte ebenso wichtig wie der Gegensatz zwischen denen, die im Licht stehen, und jenen, die im Schatten verbleiben. Die Beleuchterin Anja weiß um die Bedeutung des Lichts. Mit diesem Medium, das Illusionen erzeugen kann, ist auch die Autorin vertraut, die ebenso wie ihre Protagonistin als Beleuchterin an einem Theater gearbeitet hat.

    Licht ist nicht nur die zentrale Metapher in "Kältere Schichten der Luft", sondern würde man die Texte von Antje Rávic-Strubel nebeneinander platzieren, ginge von ihnen ein Leuchten wie von einer Lichterkette aus. In allen Texten der in Potsdam lebenden Autorin ist das Licht von zentraler Bedeutung. So spielt der Titel ihres Romandebüts "Offene Blende" auf einen Terminus aus der Fotografie an. Mit offener Blende wird bei schwachem Licht gearbeitet. Ihr Stück "Fremd Gehen" heißt im Untertitel ein Nachtstück, der Titel des Romans "Unter Schnee" arbeitet mit dem Gegensatz von schwarz und weiß und in "Tupolew 13"4 muss man sich von unten durch einen Schacht nach oben bewegen, um schließlich dahin zu kommen, wo es hell ist. Anja wird in "Kältere Schichten der Luft" verschiedenen Lichtspiegelungen ausgesetzt. Ihr Weiterleuchten wird sehr verschieden wahrgenommen. Ralf, der am Schluss umkommt, projiziert es auf sich und versteht es falsch. Das Licht, in dem Anja erscheint, ist wechselvoll und manchmal äußerst verführerisch.

    Antje Rávic-Strubel hat alles andere als eine leichte Sommergeschichte geschrieben, in der mit den Klischees von der unberührten schwedischen Landschaft gearbeitet wird. Ihre Geschichte muss immer wieder gegen das Licht gehalten werden und aufmerksam muss man gerade dorthin schauen, wo scheinbar nur Schatten zu sehen sind. Es hat den Anschein, als würde sie gerade diese dunklen Seiten in einem besonderen Licht präsentieren wollen.


    Antje Rávic-Strubel: Kältere Schichten der Luft
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
    185 Seiten, 17,90 Euro