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Liebe im Chatroom

Sie steht im Mittelpunkt - er immer daneben. Sie wohnt in der Großstadt - er in einem Nest. Sie tanzt immer aus der Reihe - er leidenschaftlich gern. Sie hat keine Lust mehr auf Sex - er ist noch unschuldig. Sie wird Schlampe genannt - er Schwuli. Sie hasst ihr Leben - er hasst sein Leben. Sie heißt Ida - er Sandor.

Von Siggi Seuß | 19.06.2004
    Der Covertext auf der Rückseite von Sandor slash Ida, dem ersten Jugendbuch der schwedischen Drehbuchautorin Sara Kadefors. - Eine spannende Konfrontation unterschiedlicher Jugend-Welten? Oder einfach noch ein Liebesroman in einer unendlichen Reihe von Liebesromanen? E-Mail-Romanzen sind auch nicht unbedingt die Entdeckung der Saison. Aber der Covertext macht neugierig. Geht es da etwa wieder einmal dialektisch nach oben, bis sich die Liebenden in den Armen liegen? Oder lässt der skandinavische Realismus eher ein schlimmes Ende erwarten?

    Sehr bald spürt man die innere Dramatik der Geschichte und staunt über den dynamischen Erzählrhythmus: kurze Kapitelchen in Kontrastmontage. Der Erzähler wechselt ständig die Perspektive. Sandor. Ida. Sandor. Ida. Göteborg. Stockholm. Er schildert die Gemütsverfassung zweier 15-Jähriger, die sich über einen Chatroom im Internet kennen lernen. Zur auktorialen Erzählung kommt also noch der moderne Briefroman: E-Mails wandern hin und her.

    Ida: Hallo, Sandor, du von gestern, bist du da? Der Einsame, der niemanden hat, den er anrufen kann? Der wissen wollte, ob es jemanden gibt, der sich auch so einsam fühlt wie er. Ich fühle mich genauso. Ganz genauso.

    Er starrt auf den Bildschirm. Damit kann nur er gemeint sein. Er wird aufgeregt. Jemand hat seine Nachricht gelesen! Sich an ihn erinnert!

    Sandor: Ida! Ja, ich bin hier. Weiß zwar nicht genau, warum, weil ich eigentlich auf dieses schwachsinnige Gelaber keinen Bock habe.

    Er wartet. Gespannt. Ist sie noch da? Oder war er nicht schnell genug? Hat sie in der Zwischenzeit den Computer ausgeschaltet und sich schlafen gelegt?

    Sandor slash Ida ist ein rasanter Roman über zwei Außenseiter, die auf verschiedenen Planeten leben, aber eine gemeinsame und - weit mühsamer - eine ehrliche Sprache finden: Sandor, der Junge aus bürgerlichem Haus - ein begabter Ballett-Eleve, den seine Mitschüler für schwul halten. Die bildhübsche Ida, die ihre depressive Mutter hassliebt, für sie sorgt und in jeder freien Minute mit den Freundinnen aufgebrezelt durch die Szene irrt. Beide - Sandor und Ida - fühlen sich in ihren Rollen gefangen. Er leidet vor allem unter dem furchtbaren Erwartungsdruck seiner Mutter, einer ehemaligen Primaballerina, die den Sohn zur Projektionsgestalt ihrer eigenen Ideale gemacht hat. Das Mädchen hingegen möchte dem häuslichen Chaos entrinnen und flüchtet sich in die Welt des schönen Scheins, in der Gruppennorm alles und Eigenart nichts ist. Beide hassen sich selbst, weil sie sich zu feige fühlen, aus ihren Gefängnissen auszubrechen.

    Sandor: Ich hasse, hasse mich! Dass ich einfach nur dumm dastehe! Nicht protestiere oder herausschreie. Dass ich gar nicht so bin, wie alle glauben! Ich stehe einfach nur da. ... Der Waschlappen der Nation. Das Weichei aller Weicheier. Mein Kopf platzt fast vor lauter Gedanken und Vorstellungen, wie alles sein sollte, aber nichts davon setze ich in die Realität um, ich lasse alles beim Alten.

    Die schönste erzählerische Dynamik verliefe im Sande, wenn die Figuren an den Haaren in die Geschichte gezogen und sich ihre täglichen Katastrophen sukzessive in Wohlgefallen auflösen würden. Zwar ist am Ende das Wesentliche - das Selbstbewusstsein der jungen Leute - ein anderes als am Anfang, aber nicht einmal einen Trampelpfad der Erleuchtung zeichnet das Leben vor. Was die beiden Jugendlichen tun, kommt eher einem Querfeldein-Waten durch sumpfiges Gelände gleich. Sie tasten den Boden um sich herum ab, laufen los, straucheln, fallen, sinken ein, ziehen sich hoch, laufen wieder los - und werden beileibe nicht durch jeden Fehltritt klüger.

    In mir schreit alles. Verdammte Scheiße! Wie konntest du nur? Aber vielleicht hat es auch sein Gutes, dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie du wirklich bist. Dass du eine falsche und gemeine Schlange bist, dass du hinter meinem Rücken über mich herziehst und mich vor deinen Freundinnen bloßstellst. Verstehst du? Ich habe mich noch nie so beschissen gefühlt. Du hast schon Recht, dein Leben ist tatsächlich verkorkst. Du bist ein hoffnungsloser Fall. Dies ist meine letzte mail.

    Zwei Schritte vor, drei zurück, drei vor, zwei zurück, in nicht planbarer Reihenfolge, Zufälle nicht ausgeschlossen, aber willentliche Erfolge eben auch nicht.

    Wie sich Sandors und Idas Planet näher rücken, das liest sich ungeheuer spannend. Die schnellen Perspektivwechsel und eine (auch dank Übersetzerin Maike Dörries) authentisch wirkende Sprache, forcieren die Dramatik. Die Geschichte wirkt zudem glaubwürdig, weil sie - obwohl nicht ohne Hoffnung - keinem zwangsläufigen Muster der "Höherentwicklung" folgt. Wer auf die Nase fällt oder mit anderen Welten konfrontiert wird, ist noch lange kein neuer Mensch. - Also doch noch einen Liebesroman? Wenn er so geschrieben ist, wie der von Sara Kadefors (die dafür den schwedischen Augustpreis erhielt), dann, bitteschön, allemal.

    Sara Kadefors:
    Sandor slash Ida
    Carlsen Verlag, 320 S., EUR 13,50