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"Liebe schlimmer als ein Autounfall"

"Ich wollte über Liebe schreiben. Aber ich wollte keinen Roman schreiben, der die Liebe in irgendeiner Weise preist und überhöht", sagt der Istanbuler Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk über sein neuen Roman "Museum der Unschuld". Herausgekommen ist ein Geschichte über die Qualen der Liebe, über Istanbul und das Leben in der Türkei. Auf der Frankfurter Buchmesse, dessen Gastland dieses Jahr die Türkei ist, wird Orhan Pamuk seinen neuen Roman vorstellen und die Eröffnungsrede halten.

Orhan Pamuk im Gespräch mit Denis Scheck | 10.10.2008
    Denis Scheck: In ihrer Nobelpreisrede sagen Sie, Schriftsteller zu sein bedeute, in sich eine zweite verborgene Persönlichkeit zu entdecken. Entdeckt in der Liebe jeder so eine zweite Person in sich?

    Orhan Pamuk: Die Persönlichkeit, die man in der Liebe in sich entdeckt, ist so grauenhaft, dass man sie vergessen möchte. Ich habe fast 15 Jahre benötigt, um diesen Roman zu schreiben. Das Sujet hatte ich im Kopf, aber die Liebe mit all ihren sentimentalen, entsetzlichen und vor allem schmerzhaften Folgen zu beschreiben, war eine schwere Aufgabe.

    Einerseits wollte ich über Liebe schreiben und über einen Menschen, der schwer verliebt ist, und zwar aus guten Gründen. Andererseits wollte ich aber keinen Roman schreiben, der die Liebe in irgendeiner Weise preist, also überhöht und erklärt, was für eine wunderbare Sache doch die Liebe ist. Das stand keineswegs in meiner Absicht. Meine Absicht war, mich mit einem Verliebten zu identifizieren und herauszufinden, was eigentlich passiert, wenn wir uns verlieben - und zwar auf sehr rationale Weise. Ich wollte der ganzen Musik und Literatur zum Lobpreis der Liebe nicht einfach noch etwas Neues, Poppiges hinzufügen. Ich habe mich auf die Frage konzentriert: Was passiert mit uns, wenn wir uns verlieben. Darauf versuche ich eine Antwort zu geben.

    Scheck: Beim Lesen, Orhan Pamuk, hatte ich den Eindruck, Sie schildern Liebe wie eine Krankheit oder einen Fluch.

    Pamuk: Stimmt, aber nicht im ganzen Roman. Ich stimme manchmal meiner Figur Kemal zu, wenn er seine Liebe so behandelt wie etwas, das abgetötet werden muss. Er spricht über seine Liebe so, als wäre es eine Art Autounfall. Und da kann ich ihn verstehen. Tag um Tag, Schritt um Schritt versucht er sich von seiner Liebe zu heilen, erreicht aber das Gegenteil und liebt immer mehr.

    Scheck: Was ist der der größte Irrtum über die Liebe?

    Pamuk: Ich glaube, die Menschen leiden nicht unter Irrtümern über die Liebe, sondern unter der Liebe. Es gibt natürlich übertriebene Darstellungen von Liebe, in der Musik, in Popsongs, in der Popkultur. Da wird Liebe auf das Podest gestellt und glorifiziert. Natürlich ist Liebe etwas Schönes, vor allem, wenn man glücklich verliebt ist und wenn die Liebe ebenso intensiv erwidert wird.

    Aber meistens ist es so, dass die Qualen der Liebe die Freude der Liebe bei weitem übersteigen. Das höre ich jedenfalls oft. Mein Roman erzählt die Geschichte eines Mannes, der unglücklich verliebt ist, eine Art Chronik der Liebesqualen eines Mannes aus der Oberschicht Istanbuls, die im Jahr 1975 beginnt, ihren Schwerpunkt in den Jahren bis 1985 hat, sich aber dann bis fast in unsere Gegenwart fortsetzt.

    Scheck: Ihr Roman erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einem Mann, sondern auch eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen und einer Stadt, der Stadt Istanbul.

    Pamuk: Natürlich ist es nicht nur ein Liebesroman: Mein Buch hat durchaus die Ambition, einer umfassende Gesellschaftsstudie der Türkei, also meiner Kultur, meines Teils der Welt, auf Grundlage des Lebens in Istanbul. Hier gibt es die High Society, also die Reichen, hier gibt es einen Mittelstand, und hier gibt es die Menschen auf der Straße.

    Im Grunde ist es der alte melodramatische Stoff einer Liebe zwischen einem reichen Jungen und einem Mädchen aus der Unterschicht sowie ihren Verwandten. Ich wollte in diesem Buch noch einmal neu über die Liebe nachdenken. Natürlich werden wir durch die Liebe erhoben, die Liebe macht uns glücklich, empfindlicher.

    Es gibt kein Leben ohne Liebe, wir haben von Natur aus den Liebesdrang:
    sexuell, aber auch, weil wir geborgen und akzeptiert sein wollen. Wir alle streben nach Liebe. Aber mein Buch will diese Klischeevorstellungen der Liebe nicht bestärken, sondern will etwas anderes: nämlich verstehen, was in unseren Gehirnen vor sich geht, wenn wir uns verlieben. Erst sind wir betört, wir können das ganze Bild nicht sehen, wir haben ein Ziel, wie ein besessener Jäger, wir schlagen einen Weg ein. Aber auf der anderen Seite handelt mein Roman von der Diplomatie der Liebe, von der Kommunikation. Was geschieht in meinem Teil der Welt, nachdem wir uns verliebt haben.

    Scheck: Ist Liebe wirklich etwas Natürliches oder eine Erfindung?

    Pamuk: Ich glaube, Liebe ist etwas zutiefst menschliches. Der Sexualtrieb und unser Wunsch, geliebt zu werden, ist überall gleich. Aber wie wir lieben, das ist von Kultur zu Kultur ganz unterschiedlich. Und mir geht es um diese Unterschiede. Ich will bekannt machen, wie in der Türkei geliebt wird.

    Ich habe über Liebe in einer unterdrückten Gesellschaft geschrieben. In gewisser Weise borge ich mir einen Begriff von Habermas, der über den Strukturwandel der Öffentlichkeit nachgedacht hat. Mein Roman handelt von der Liebe in einer Gesellschaft, wo die Öffentlichkeit für das Ausagieren von Liebesbeziehungen sehr beschränkt ist. Die Frauen werden unterdrückt.

    Meine Figuren betreiben die Diplomatie der Liebe mittels langer Blicke, mittels Schweigen und ungeheurer Kraftanstrengungen, um die Ernsthaftigkeit ihres Begehrens unter Beweis zu stellen. Dieses ganze menschliche Repertoire von Gesten, Blicken, Mimik, aber auch diese unglaublich vielfältigen Rituale, mit denen die Geduld und die Aufrichtigkeit des Geliebten auf die Probe gestellt werden, sind mein Thema. Seit den persischen und osmanischen Miniaturen aus dem 16. Jahrhundert gibt es in der türkischen Literatur diese Tradition der langen Blicke, des Schweigens, kleiner Geschenke, Gespräche mit doppeltem Boden: Das sind die Dinge, die ich in der modernen Türkei zeigen will.

    Modern mag diese Türkei ja sein, es ist aber immer noch eine geschlossene Gesellschaft. In der Türkei des Jahres 1975 konnte man nicht auf freie und unbehinderte Weise einfach Mädchen, Frauen kennenlernen und seine Liebesbeziehungen anknüpfen. Heute erhalten wir vielleicht ein paar dieser Freiheiten.

    Scheck: Ihr Roman enthält zwei Definitionen des Glücks. Die eine stammt von einem Psychiater in "Das Museum der Unschuld", der sagt, Glück sei, mit nur einem Menschen schlafen zu wollen, aber Gelegenheit zu Sex mit vielen zu haben.

    Die andere Definition von Glück lautet: In der Gesellschaft des Menschen sein zu dürfen, den man liebt, ohne ihn besitzen zu müssen. Lässt sich das lernen?

    Pamuk: Ersteres ist die internationale medizinische Definition einer glücklichen Liebe, dass nämlich die vorhandenen Optionen zum Beischlaf mit anderen Personen zugunsten einer einzigen ausgeschlagen werden. Die andere Definition besagt, in der Gesellschaft des geliebten Menschen zu sein, auch wenn man keinen Sex oder anderweitige Intimität genießt, sei die wahre Erfüllung. So definiert das Glück meine Hauptfigur, der acht Jahre lang eine junge Frau mit seiner Liebe verfolgt, die einen anderen geheiratet hat. Das lässt sich doch nachvollziehen.

    Scheck: Ihr Roman ist in meinen Augen ein brillantes Kunstwerk und zu den vielen Aspekten, die mich daran faszinieren, zählt, dass es der erste Roman ist, den ich kenne, der eine Eintrittskarte enthält. Eine Eintrittskarte in das Museum, das Sie gerade in Istanbul bauen.

    Pamuk: Das Museum der Unschuld ist nicht nur der Titel des Romans, sondern auch der Name des Museums, an dem ich seit zehn Jahren arbeite, und das ich hoffentlich bald hier ganz in der Nähe eröffnen kann. In dem Roman wird meine Hauptfigur von der Liebe schrecklich enttäuscht, es gibt einen Zeitpunkt, wo er seine Geliebte nicht mehr sehen darf und ihn die Erinnerungen an sie sehr stark quälen. Und da merkt er, dass ihn Dinge, die sie berührt hat, mitunter ein klein wenig zu trösten vermögen. Ein Trost durch die Erinnerung an ihre herrlichen gemeinsamen Erlebnisse früher.

    Am Anfang streichelt er eine kleine Teetasse, die sie in der Hand gehalten hat, als sie glücklich zusammen waren, dann den Salzstreuer, den sie berührte, als sie zusammen Spaß hatten. So wird ihm das zur Gewohnheit, und er verwandelt sich in einen Sammler. Diese Gegenstände schenken ihm Freude, sie werden für ihn zum Ausgangspunkt seiner Geschichte - so wie die Epiphanie bei James Joyce oder die Madeleine bei Proust. Dinge, die uns an die Schönheiten der Vergangenheit denken lassen.

    Im Roman argumentiere ich, dass Dingen eine starke Macht innewohnt, uns das Verlorene zurückzugeben. In unseren glücklichsten und traurigsten Momenten projizieren wir die Intensität unserer Gefühle auf Dinge, und wenn wir später diese Dinge besitzen, bewahren diese Dinge die Erinnerung an die Schönheiten oder die Intensität dieser Gefühle.

    Scheck: Ihr Held sammelt 4213 Zigarettenkippen von seiner Kette rauchenden Geliebten.

    Pamuk: Acht Jahre lang besucht er das Haus seiner Füsun, die nun mit einem anderen verheiratet ist. Während dieser Zeit sehen sie gemeinsam fern, und alle rauchen wie nur noch Türken rauchen. Also nimmt er heimlich ein oder zwei ihrer Kippen mit. Die meisten dieser Gegenstände, die er sammelt, werden im Buch beschrieben, ich weise ausdrücklich darauf hin.

    Manchmal schreibe ich direkt: diesen Gegenstand, den besitze ich wirklich. Manche Teile des Romans habe ich erst geschrieben, nachdem es mir gelungen war, das eine oder andere Objekt zu erwerben. Zum Beispiel Füsuns gelbe Schuhe, die habe ich tatsächlich in meiner Sammlung und werde sie eines Tages ausstellen.

    Scheck: Gab es denn in Ihrem Leben eine Füsun?

    Pamuk: Das ist die Lieblingsfrage aller meiner Leser. Dennoch danke für die Frage. So viele wollten das sogar schon vor der Veröffentlichung des Romans von mir wissen, dass ich die Frage selbst an das Ende des Romans gestellt habe.

    Denn ich trete ja unter meinem eigenen Namen als Orhan Pamuk in diesem Buch auf. Und seine Antwort möchte ich nicht weiter kommentieren. Ich kann höchstens sagen, dass meine Aufgabe nicht darin besteht, das auszuleben, was ich geschrieben habe. Meine Stärke liegt darin, mich mit den Menschen zu identifizieren, die solche Dinge tun. Ich mag mich nicht so stark verlieben können wie mein Held Kemal - Gott sei dank, denn das ist schlimmer als ein Autounfall! Aber ich mache es mir zur Aufgabe, mich mit aller Kraft mit ihm zu identifizieren.

    Scheck: Im Roman sagt eine Figur, Buch und Museum hätten dasselbe Ziel. Welches?

    Dass wir uns an die wundervollen Momente im Leben erinnern. Je älter ich werde, desto stärker bin ich davon überzeugt, dass, wenn es beim Bücherschreiben überhaupt so etwas wie eine ethische Pflicht gibt, dann die Pflicht, die Schönheiten des Lebens zu bejahen. Diese Schönheiten eine nach dem anderen zu beschreiben, den Leser auf sie aufmerksam zu machen, sie ihn verstehen zu lassen, das Leben zu genießen, ihn ein reicheres, komplexeres Leben führen zu lassen.

    In diesem Sinne mag ich Tolstoi und Nabokov - Autoren, die extreme Aufmerksamkeit darauf verwenden, in ihren Sätzen die Schönheiten von eigenartigen magischen Momenten im Leben zu beschreiben. Und diese Schönheiten existieren, findet man nur das Zauberwort für sie.

    Scheck: Wann wird das Museum seine Pforten öffnen?

    Pamuk: Ich hoffe, es 2010 zu eröffnen, wenn Istanbul Kulturhauptstadt Europas sein wird. Leider haben wir es nicht geschafft, die Ausstellung in der Schirn in Frankfurt im Oktober zu eröffnen, und nun visieren wir 2010 an. Das Sammeln und Organisieren ist eine Heidenarbeit. Allerdings ist der Roman nicht der Katalog des Museums, und das Museum wird auch keine Illustration des Romans. Das Museum wird dieselbe Erfahrung vermitteln, und zwar in drei Dimensionen, so wie der Roman auf andere Art die Erfahrung einer Geschichte vermittelt.

    Scheck: Zu meinen Lieblingsstellen aus Ihrem Roman zählt eine Szene mit einem Drehbuchautor, der erklärt, die türkische Filmindustrie sei völlig frei, man könne ganz ungehindert alles sagen, vorausgesetzt man mache keine Witze über oder Anspielungen auf den Islam, auf Atatürk, die Armenier, die Juden, die Türken.

    Pamuk: Das Militär.

    Scheck: Natürlich auf die Griechen, den Präsidenten. Die Aufzählung nimmt gar kein Ende. Ist das auch der Zustand der Literatur in der Türkei?

    Pamuk: Aber ja. Da hat sich nicht sehr viel verändert. Aber das ist kein Problem, wenn man Romane schreibt, da kann man sich darüber hinwegsetzen. Aber es ist natürlich ein ethisches Problem, und ein Problem in der Politik, ein Problem für echte Demokratie und eine offene Gesellschaft. Aber für einen Romancier? Dostojewski schrieb seine Romane unter den Bedingungen der Zensur durch den Zaren. Für einen Romancier ist es ehrlich gesagt kein Grund zum Haareraufen. Aber es gibt natürlich auch Autoren, die in ihren Büchern über diese Dinge schreiben wollen, die Ärger nach sich ziehen.

    Scheck: Ärger machen für Sie nicht Ihre Romane, sondern Ihre Interviews.

    Pamuk: Durch meine Romane bin ich nie in Schwierigkeiten geraten, aber ich muss Sie warnen: meine Interviews sorgen für Zoff. Wollen Sie mir noch mehr Ärger machen?

    Scheck: Sie könnten mir ja Ihren Lieblingswitz über Atatürk oder Mohammed erzählen.

    Pamuk: Nein.

    Scheck: Das ginge wohl doch zu weit. Die Türkei ist Gastland der Buchmesse. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?

    Pamuk: Dort die Eröffnungsrede halten zu dürfen, ist mir natürlich eine Freude. Es macht mich auch sehr glücklich, dass sehr viele Autoren auf dieser Messe anwesend sein werden, Autoren aus meiner Sprache werden zum ersten Mal auf der Tagesordnung stehen, wo Verlage und Medien aus aller Welt präsent sein werden.

    Als ich vor 30 Jahren mit dem Schreiben begann, beklagten sich alle, insbesondere die Angehörigen der älteren Generation: Wer kümmert sich um die türkische Literatur? Wer will einen türkischen Roman lesen? Wer schenkt uns Aufmerksamkeit? Alle ignorieren uns. Gott sei dank hat sich das verändert. Mich macht das glücklich.

    Zumindest in diesem Jahr in Frankfurt wird die Türkei auf das Podest gestellt. Also schauen Sie sich das bitte an. Vielleicht gefällt es Ihnen, vielleicht gefällt es Ihnen nicht, aber dieses Jahr stehen wir im Mittelpunkt.