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Liebe und Landgut

Der frühe Roman Lev Tolstojs Familienglück aus dem Jahr 1859 stand immer im Schatten seiner großen späteren Werke. Erschienen in einer Zeit tiefreichender sozialer Umbrüche kurz vor der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland, wurde er schon von der zeitgenössischen Kritik wegen des völligen Fehlens politisch-gesellschaftlicher Fragestellungen kaum beachtet. Hier geht es nämlich allein um die für den Schriftsteller existentielle Thematik: Liebe-Ehe-Familie, die er ja auch in "Krieg und Frieden" wieder aufgreift und die zum Kernproblem von Anna Karenina wird.

Von Karla Hielscher | 11.11.2004
    Der 30jährige Schriftsteller verarbeitete in dem Buch eine autobiographische Lebenssituation, seine Beziehung zu der adeligen Gutsnachbarin Valerija Arsenjewa, mit der er offiziell verlobt war, und die er sich - das beweisen eine ganze Reihe von belehrenden, Moral predigenden Briefen an sie - für ein einfaches, tugendhaftes Gutsbesitzerleben auf dem Land mit seinen Lebenseinstellungen und Ansichten zurechterziehen wollte. Das Vorhaben misslang, es kam zur Trennung. In einem Brief an seine Tante und lebenslange Vertraute Aleksandra Tolstaja schreibt er:

    Es ist lächerlich sich daran zu erinnern, dass ich geglaubt habe,(...) man könne sich eine glückliche und rechtschaffene kleine Welt aufbauen, in der man ruhig, ohne Fehler, ohne Reue, ohne Gefühlswirrwarr still vor sich hin lebt und - ohne Hast - akkurat nur Gutes tut. Lächerlich!

    Das Spannende ist nun, wie Tolstoj, der ein erbitterter und boshafter Gegner der damals in Russland breit diskutierten "Frauenfrage" war und ein erzreaktionäres, patriarchalisches Frauenbild vertrat, nichtsdestoweniger mit diesem Buch durch seine literarische Gestaltung einen Markstein setzte. Es ist nämlich die psychologische Wahrhaftigkeit, die radikale, gnadenlose Analyse der seelischen Vorgänge in der Beziehung zwischen Mann und Frau, die das kleine Werk zeitlos machen und uns bis heute faszinieren.

    Was er in dem Roman darstellt, ist die Geschichte einer sterbenden Liebe, und in diesem Sinne ist der Titel "Familienglück" durchaus ironisch zu verstehen. Angelegt als Ich-Erzählung, erlebt der Leser die Entfaltung der Handlung aus der Perspektive der Hauptgestalt Mascha.

    Nach dem Tod der Mutter taucht auf dem abgelegenen Landgut Sergej Michajlitsch auf, ihr Vormund und Freund des verstorbenen Vaters. Und zwischen dem 17jährigen unerfahrenen jungen Mädchen und dem um vieles älteren, gütigen, ernsten, sozial engagierten Gutsbesitzer, dessen Weltsicht der Tolstojs entspricht, entwickelt sich schrittweise eine zarte, poetische Liebe. Mascha fühlt, wie sie sich unter dem Einfluss dieses Mannes verändert, ihre Umwelt mit anderen Augen zu sehen beginnt, zu einem besseren Menschen wird. Als Sergej seine erwachende Liebe zu der jungen Frau zunächst aus Verantwortungsbewusstsein und Angst vor dem Altersunterschied bekämpft, übernimmt sie die Initiative.

    "Ich glaubte, wir würden beide ein endloses ruhiges Glück zu zweit finden. Dabei schwebten mir weder Reisen ins Ausland noch die mondäne Welt oder Prunk und Glanz vor, sondern ein ganz anderes, beschauliches Familienleben auf dem Lande, in ewiger Selbstaufopferung, in ewiger Liebe zueinander..."

    Nach der Hochzeit jedoch dauert der Gleichklang ihrer Seelen in der Abgeschiedenheit der "glücklichen kleinen Welt" ihres Landguts nur wenige Monate. Sehr bald kommt ihre Liebe zum Stillstand. Mascha beginnt sehnsüchtige Unruhe und Langeweile zu empfinden, und beide leiden unter ihrer zunehmenden Entfremdung. Ein längerer Aufenthalt in Petersburg mit seinen Gesellschaften, Empfängen und Bällen, wo die schöne junge Frau es unschuldig genießt, begehrt zu werden, führt zu immer mehr Verstimmungen, Kränkungen, Missverständnissen. Dabei fühlen sich beide Seiten schuldlos, beide im Recht. Ein gähnender Abgrund tut sich zwischen den Eheleuten auf. Nicht einmal die Geburt des ersten Kindes ändert die Situation. Mascha fühlt sich unausgefüllt und lebt das übliche, von den Interessen des Mannes getrennte Leben einer russischen Aristokratin in Müßiggang und oberflächlicher Abwechslung. Erst als sie im deutschen Kurort Baden-Baden um ein Haar der Verführung eines schamlosen Don-Juan erliegt, kommt sie zur Besinnung und flüchtet sich zurück zum Ehemann ins heimische Gutshaus. Doch ihre Liebe zueinander ist vergangen. "Das alte Gefühl wurde zu einer teuren, unwiederbringlichen Erinnerung."

    Und obwohl die Ich-Erzählerin die Sicht ihres sich überlegen dünkenden Mannes übernimmt, sich ihm völlig unterordnet und resigniert einsieht, dass sie allein in der Mutterrolle ihre Bestimmung finden wird, ist für den heutigen Leser nicht dies die Botschaft des Buches. Tolstoj gestaltet den Prozess des Vergehens der Liebe in der Ehe mit so viel Ehrlichkeit und schmerzlicher Radikalität, dass der tiefe Realismus der literarischen Darstellung der seelischen Vorgänge mit der frauenfeindlichen Ideologie des Autors in deutlichen Widerspruch gerät. Da er das Geschehen aus der Perspektive Maschas erzählt, ist das Sehnen und Aufbegehren der jungen Frau, die darum ringt, gleichberechtigt mit ihrem Manne zu leben, mit soviel Einfühlung in ihre Psyche und ihr Denken gestaltet, dass der Text weit über die zeitgebundene ideologische Sicht hinauswächst. Tolstojs Buch behandelt bitter und illusionslos das ewig aktuelle Thema der Vergänglichkeit der Liebe, der unüberbrückbaren Kluft zwischen Mann und Frau.

    Der Roman ist von Dorothea Trottenberg, die kürzlich die Urfassung von "Krieg und Frieden" übersetzte und sich also in Tolstojs Sprache intensiv eingearbeitet hat, in ein klares und genaues Deutsch übertragen worden.

    Lev Tolstoj
    Familienglück
    Dörlemann Verlag, 192 S., EUR 16, 80