Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Liebe und Leben, Gott und Europa

Zwiegespräche, in denen letzte Wahrheiten triumphieren, sind ein Markenzeichen des ungarischen Schriftstellers Sándor Márai. Sein berühmtestes Buch "Die Glut" gipfelt in einem langen nächtlichen Gespräch am Kamin. Zwei alte Männer legen Rechenschaft ab, erzählen, wie es wirklich gewesen ist, das Leben und die Liebe.Im geschützten Raum des Kammerspiels opfern sie alte Geheimnisse neuen Gewissheiten.

Von Shirin Sojitrawalla | 15.04.2009
    Im Zentrum von Márais Romanen stehen meist tragische und großartig individuelle Liebesgeschichten, denen der Autor mit ernsthafter Anteilnahme und zerbrechlichem Pathos begegnet. Auch in seinem jetzt in neuer deutscher Übersetzung erschienenen Roman "Die Möwe" aus dem Jahr 1943 scheint zuerst alles nach bewährtem Muster abzulaufen.

    Wiederum steht eine denkwürdige Begegnung zweier Menschen im Mittelpunkt. Ein 45 Jahre alter namenloser ungarischer Minister erhält unangemeldet Besuch von einer fremdartigen Finnin. Aino Lainen ist aus ihrem Heimatland geflohen und bittet den Minister nun um seine Hilfe. Wie aus dem Nichts schneit die junge Frau eines Tages in sein Budapester Büro. Bezeichnenderweise bedeutet ihr Name übersetzt Einzige Welle. Wie ein ins Wasser geworfener Stein, der seine Kreise zieht, bringt auch die Frau das Innenleben des Ministers zum Rotieren.

    Der ist ein auf Pflichterfüllung geeichter Bürokrat, der vornehmlich daran leidet, dass sich sein Leben nicht so fein ausrechnen lässt wie eine Gleichung mit einer Unbekannten. Die geheimnisvolle Finnin erinnert ihn an seine große Liebe Ilona, die sich vor Jahren aus unerwiderter Liebe zu einem schäbigen Chemieprofessor das Leben nahm. Die Finnin erinnert ihn nicht nur an sie, sie scheint ihm gar wie ein Duplikat, eine Verdoppelung seines Schicksals. Nach dem Tod seiner Geliebten, tauchen Briefe von ihr auf, doch der Minister nimmt sich ihrer nicht an und auch der neugierige Leser wird enttäuscht, denn er wird nie erfahren, warum Ilona Blausäure schluckte. Was aber dann möchte Márai uns erzählen? Nur einen einzigen Tag stellt er in den Mittelpunkt seines Romans. Der Minister lädt die unbekannte Finnin ein, ihn in die Oper zu begleiten und bittet sie danach zu sich nach Hause. Ihr Gespräch macht mehr als die Hälfte des Buches aus, doch diejenigen Leser, die auf sich lüftende Geheimnisse spekulieren, haben sich getäuscht. Márai unterläuft die Erwartungen, indem er das Gespräch, das im Grunde genommen eher ein ausufernder Monolog des Ministers ist, einfach ausplätschern lässt. Vielmehr benutzt er den Minister als Sprachrohr, legt ihm trockene Sätze in den Mund, die seiner Zivilisationskritik in Zeiten des Krieges Ausdruck verleihen. Merkwürdig plotlos bahnt sich dieser Roman seinen Weg. Dabei versteht es der Autor ohne Zweifel auch diesmal, elegant zu erzählen, indem er sich Zeit lässt, um seine Figuren genau in Augenschein zu nehmen. Schöne Einsichten, wie die, dass es unsere Erinnerungen sind, die uns am Fliegen hindern, stehen neben Nun-ja-Weisheiten wie "Man ist immer auf dem Weg zu dem anderen, der einen küssen wird."

    Wie meist spielt er auch in diesem Roman gekonnt mit Verzögerungstaktiken, retardierenden Momenten, die die Spannung steigern. Doch während sich in seinen Romanen "Die Glut", "Die Nacht vor der Scheidung" oder "Das Vermächtnis der Esther" die Spannung in überraschenden Einsichten und Wendungen entladen durfte, gebiert sich "Die Möwe" geheimniskrämerisch, verrätselt, sehr diskret und darüber hinaus salbungsvoll und vergrübelt.

    Die Gedankengänge des Ministers formen sich zu einer enervierenden Grundsatzrede, in der alles auf den Prüfstand kommt: die Liebe, das Leben, der Krieg, Gott und Europa. Es sind die Reflexionen eines Mannes, der schon qua seines Amtes mehr weiß als die anderen. Am Morgen hat er eine folgenschwere Entscheidung getroffen, die das Land verändern wird. Márai deutet das nur an, wahrscheinlich ist, dass es sich um den Kriegseintritt Ungarns handelt.

    Im Laufe des Gesprächs fährt der Beamte alles auf, was ihm in den alternden Sinn kommt: Sokrates, Platon, Religion, Philosophie, Völkerwanderung und vieles mehr reißt er an und sinniert über die Vergeblichkeit allen Lebens wie Liebens. Márais eigene Empörung und Wut über den Zustand der Welt sind in der Rede des Ministers deutlich herauszuhören. Unterbrochen wird der Mann nur manchmal von der Frau, die sich das alles anhören soll. An einer Stelle seiner uferlosen Rede sieht sie ihn aufmerksam an und fragt ihn dumpf: "Wovon redest Du?" Und das fragt sich zuweilen leider auch der Leser.

    Sándor Márai: Die Möwe. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Piper Verlag, 186 Seiten, 16,90 Euro.