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Liebe zu einer Zapfsäule

Die Novelle "Der Pfau" ist das Prosa-Debüt der Lyrikerin Sylvia Geist. Mit klarem Blick für das Katastrophische zeigt sie darin, wie Lebensträume jäh in ihr Gegenteil umschlagen können. Sylvia Geist ist mit "Der Pfau", angesiedelt im Schaustellermilieu, ein universelles Brevier der Sehnsüchte gelungen, ein Buch über das Begehren und das Versagen.

Von Katrin Hillgruber | 25.08.2008
    Seit Jahren erträumt sich der Schausteller Popp eine gewinnbringende Achterbahn mit dem himmelstürmenden Namen "Soul Lifter". Sie würde dem Schaustellerbetrieb des ruhelosen Königs ohne Land endlich den erhofften Aufschwung bringen. Popps Enkelin Judith, eine Jurastudentin, schließt sich dem Kleinunternehmen für eine Saison an. Jener Sommer, den Judith im Rückblick schildert, führt das ungleiche Gespann bis nach Spanien. "Muss doch schön sein. Immer auf Reisen. Und überall wird was gefeiert", meint die Zufallsbekanntschaft Lil. Die junge Frau, offenbar auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann, bezaubert Großvater und Enkelin gleichermaßen. Sylvia Geist ist bisher vor allem mit Gedichtbänden wie "Morgen Blaues Tier" bekannt geworden. Wie kam sie auf die Idee, ihr Prosadebüt im Schaustellermilieu anzusiedeln?

    "Wahrscheinlich auf einem ziemlich klassischen Wege: Über das Zusammentreffen unterschiedlicher Realitätssplitter aus ganz unterschiedlichen Zeiträumen. Der Ausgangspunkt war ein Ferienjob: Ich habe einige Sommer lang auf Rummelplätzen gearbeitet und bei der Gelegenheit natürlich jede Menge Menschen getroffen, denen ich sonst kaum begegnet wäre. Und das hat mich nicht mehr losgelassen: Das Leben oder der Alltag von Menschen, die tatsächlich im Wohnwagen zu Hause sind, und zwar zu jeder Jahreszeit. Und die sich über eine ganz harte körperliche Arbeit definieren, über ein Gemeinschafts- und Familiengefühl, das zumindest in den Zusammenhängen, die ich kenne, so nicht verbreitet ist. Das hat mich fasziniert und wurde zur Ausgangslage für den Plot."

    Rummelplätze und das fahrende Gewerbe sind ein literarisch ergiebiges Thema. Johann Wolfgang von Goethes sogenannte "Novelle" etwa kulminiert in einem Brand auf einem Rummelplatz. Ein im Trubel entlaufener Löwe wird durch Flötentöne gezähmt, alles endet in paradiesischem Frieden. Sylvia Geists titelgebender Prachtvogel jedoch geht an einer Mesaillance zugrunde. Was reizte die Lyrikerin an der episch strengen Form der Novelle?

    "Gerade die Strenge. Das ist vielleicht etwas, das aus der Lyrik kommt. Der Wunsch, sich in der Form zu bewegen, ähnlich vielleicht, wenn man das als poetologische Metapher deuten möchte, dem "Gefesselten" in Ilse Aichingers Erzählung. Innerhalb einer engen Fessel lernt da jemand, sich mit großer Geschmeidigkeit zu bewegen - ein Effekt, der in lyrischen Formen eintreten kann, und ich denke, das hat mich auch zur Novelle geführt."

    Die Parallelfigur des Pfaus ist Lil. Sie zieht Popp und die Erzählerin Judith in ihren erotischen Bann, verliebt sich selbst aber in den Tankstellenbesitzer Daniel. Als sie plötzlich verunglückt, lässt sie die anderen innerlich versehrt zurück. Lil wird mit besonderen Signalen assoziiert, wie dem allabendlichen Moment vor dem Versinken der Sonne oder transparenten Plastiktüten in einem bestimmten hellen Lilaton. Diese exakten Details stehen in reizvollem Kontrast zu dem Ungefähren der spanischen Landschaft. Gibt es den Ort "Callos" eigentlich?

    "Dieser Ort entspringt meiner Phantasie. Ich dachte: Hauptsache, er steht nicht auf der Landkarte. Er ist aber in einer Landschaft angesiedelt, die ich recht gut kenne, im Hinterland irgendwo zwischen Alicante und Almeria, wo das Land karg und trocken ist, aber über einmalige Lichtverhältnisse verfügt. Mit Spanien assoziiert man ja eher Meer und Tourismus, aber es gibt eben Stellen, die für europäische Verhältnisse sehr fremdartig, sehr urwüchsig und abgelegen sind, und das schien mir der richtige Ort zu sein."

    Was für Boccaccios Novellenreigen "Decamerone" der Falke bedeutet, das ist im staubigen Niemandsland ein strahlend blauer Pfau: Wie Lil taucht er aus dem Nichts auf. Mit klarem Blick fürs Katastrophische zeigt Sylvia Geist, wie Lebensträume jäh in ihr Gegenteil umschlagen können. Über den Pfau heißt es: "Ohnehin grenzte sein Dasein an ein Wunder". Doch er verliebt sich unglücklich in eine Zapfsäule und verendet schließlich. In seiner an der Tankstelle deplazierten Schönheit steht er für das behinderte Streben nach Glück. Denn es ist ein Trugschluss, dass den vermeintlich freien Protagonisten dieser flirrend leichten und doch gattungstypisch symbolträchtigen Novelle alles leichter fiele. Sylvia Geist ist mit "Der Pfau" ein universelles Brevier der Sehnsüchte gelungen.

    "In dieser Geschichte ist, meine ich, jeder ein Pfau. Jeder begehrt genau den Menschen oder den Zustand, der unerreichbar ist. Und das ist vielleicht eine grundlegende Erfahrung, die vermutlich jeder mal gemacht hat: einer Attraktion hilflos ausgeliefert zu sein. Das hat mich fasziniert, zumal es einen Pfau, der eine Tanksäule liebte, tatsächlich einmal gab, allerdings nicht in Spanien und unter vollkommen anderen Umständen. Aber es gab mal eine kurze Zeitungsnotiz dazu, die ich mir vor Jahren ausgeschnitten habe. Das ist so einer der Wirklichkeitssplitter, die in diese Geschichte gemündet und darin aufgegangen sind."

    Sylvia Geist: Der Pfau. Novelle.
    Luftschacht Verlag, Wien 2008. 136 Seiten, 16,90 Euro.