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Liebe, Zufall und der Waisenjunge Pip

Der Romanklassiker "Große Erwartungen" von Charles Dickens wurde von dem Briten Mike Newell neu verfilmt. Seine Adaption ist ein Kostümfilm, der der Buchvorlage gerecht wird. Erzählt wird die Geschichte von dem Waisenjungen Pip, der durch einen Unbekannten zu Geld kommt.

Von Rüdiger Suchsland | 09.12.2012
    Wenn man Kind ist, ist die Welt voll großer Erwartungen, voller Abenteuer und voller Geheimnisse. Fremd, bedrohlich, verheißungsvoll. Das gilt für jeden, besonders aber für Pip, den Helden von Charles Dickens' wohl bestem Roman, und damit dem Helden dieses Films: Pip ist eine typische Dickens-Figur: Ein Junge, der als Waisenkind zu Verwandten kommt, dort arm aufwächst, als Schmied im Marschland des Themse-Deltas, und dann durch viele Wirren sein Glück findet.

    Wir befinden uns im 19. Jahrhundert, im frühen viktorianischen Zeitalter - britisches Empire auf seinem Höhepunkt - wovon die einfachen Leute allerdings wenig merken. Sozialfürsorge gibt es nicht, der Staat ist ein Zwangsapparat, wenn man Glück hat, haben die Menschen Moral, aber meistens hat man Pech.

    Wenn Pip mal nicht arbeiten muss, dann schleicht er sich auf dem Damm, am Galgen vorbei, zum Friedhof, wo das Grab seiner Eltern liegt. Eine Welt vom Tod umgeben. Und dort auf dem Friedhof passiert es eines Morgens: Sträflinge sind ausgebrochen, geflohen von einer der Galeeren auf der Themse. Einer hat sich auf dem Friedhof versteckt, er wirkt so gefährlich wie verzweifelt, und Pip hilft ihm, halb aus Angst, halb aus Mitleid.

    Bald ist der Flüchtling trotzdem wieder eingefangen, aber er wird Pip nicht vergessen, und Schicksal spielen in seinem Leben.

    "Große Erwartungen", "Great Expectations" handelt vom Schicksal, von Hoffnungen, die immer wieder enttäuscht werden, von Verzweiflung, die sich wenden wird, von Liebe und Zufall, davon, dass nichts sicher ist, und wir alle in der Hand sind der Lauben des Schicksals und derer der Mitmenschen, die Schicksal spielen.

    Denn das tun viele in dieser Geschichte: Zum Beispiel die reiche Miss Havisham. Sie lädt Pip ein in die dunklen Zimmer, in denen sie haust, um ihrer Adoptivtochter Estella ein Spielgefährte, zu sein, oder eigentlich mehr ein kostbares Spielzeug, wie Estella selbst ein Spielzeug für die alte Frau ist, ein Automat, gebaut, um Rache zu nehmen.

    "Sie müssen wissen, dass ich kein Herz habe."

    Im Haus von Miss Havisham, die dort wahnsinnig geworden in ihrem am Leib zerfallenden Hochzeitskleid wohnt, lernt Pip mehr kennen. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, die Liebe zu Estella, aber auch sich selbst:

    Denn Estella, so schön wie verzogen, hält Pip einen Spiegel vor, und plötzlich sieht er, wie grobschlächtig und gewöhnlich er ist. Doch dann verändert sich alles: Pip wird von einem Gönner besucht, bekommt Geld und Bildung soviel er will, zieht nach London, und will sich zum Gentleman wandeln. Denn dann, so hofft er, wird er gut genug sein für Estella.

    "Er ist in den Besitz eines ansehnlichen Vermögens gekommen und außerdem hat er große Erwartungen."

    Doch der Aufstieg, wird bald wieder zum Abstieg: Pip wird seine Moral verlieren, sich selbst verlieren, sein Geld verlieren. Und Estella sowieso.

    Vor 15 Jahren, 1997, verfilmte Alfonso Cuaron, den Roman zum letzten Mal, sehr zeitgemäß in die Jetztzeit versetzt, mit Ethan Hawke und Gwynneth Paltrow, den Stars der Stunde. Bald darauf drehte er einen von sieben Harry-Potter-Filmen.

    Mike Newell hat auch einen Harry-Potter-Film gedreht. Und wie der Zufall der Filmindustrie spielt, hat jetzt er die "Großen Erwartungen" für die Leinwand adaptiert: Mit Stars wie Helena Bonham Carter und Ralph Fiennes in den Nebenrollen, und unbekannten, frischen Gesichtern für die Hauptfiguren.

    Newell hält sich viel strenger an die Vorlage. Sein Film ist ein Kostümfilm, opulent aber die Pracht wird konterkariert mit Matsch und Dreck.

    Die Kamera ist ständig in Bewegung, es wird dramatisiert, gezoomt, virtuos geschwenkt und gedreht.

    Insgesamt ist das so intensiv, wie eingängig konsumierbar - "Große Erwartungen" ist kein Film, der irritieren möchte, der sich im Hirn des Betrachters so einfräst, wie David Leans Schwarzweiß-Verfilmung des Romans das noch heute vermag.

    Aber es ist ein guter Film, der den Betrachter nie langweilt, der dem Roman gerecht wird, seinen Bildern und Figuren wie seinem Geist.

    Dickens' Vorlage wird erkennbar als ungemein zeitgemäß: Sie erzählt von Liebe und Zufall, aber auch vom schönen Schein, von Träumen und davon, dass alles im Leben seinen Preis hat.