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Liebe zur Nacht

Mit ihrem Buch "Tiefer als der Tag gedacht" wagt die Zürcher Literaturprofessorin Elisabeth Bronfen einen "weiblichen Blick" auf die Nacht und knüpft so an ihre früheren Arbeiten an. Bronfen beweist erneut, wie sich mit einer interdisziplinären Betrachtungsweise überraschend neue Zusammenhänge herstellen lassen. Wie immer besticht die Unerschrockenheit, mit der sie subjektive Thesen aufstellt, ohne einen wissenschaftlichen Anspruch zu erheben.

Von Marli Feldvoss | 20.10.2008
    Elisabeth Bronfen bekennt sich gleich zu Anfang zu ihrer Liebe zur Nacht, die eng mit ihrer Mutter, der das Buch gewidmet ist, verknüpft ist. Der Idee, wie es wäre, wenn sie dieser Frau, einer wahren Nachtschwärmerin, nachgeeifert hätte, gibt sie jedoch schnell wieder den Laufpass. So führt dieses Buch nur im Prolog einen Lebensstil vor Augen, der sich schwerlich mit den Ambitionen einer ehrgeizigen Schreiberin und Wissenschaftlerin verbinden ließe, die es - nehmen wir es zumindest einmal an - eher gewohnt ist, ihre Nächte am Schreibtisch zu verbringen.

    Von meiner Mutter habe ich den Charme dieser bewusst gelebten Nacht zuerst gelernt. Morgens wurden wir nie mit einem gütigen, aber bestimmten Blick von ihr auf den Schulweg geschickt. Sie schlief weit in den Vormittag hinein und lebte erst in den Nachtstunden wirklich auf. Sie war meine erste Königin der Nacht. Wenn sie auf ein Fest, ins Theater oder in die Oper aufbrach, pflegte sie noch kurz bei uns im Kinderzimmer vorbeizuschauen, wenn meine Geschwister und ich schon längst im Bett lagen. Die Zeit reichte nie, um uns eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Stattdessen saß sie bei uns und redete sanft auf uns ein, um uns den Übergang in den Schlaf zu erleichtern.
    So tritt die geliebte Königin Mutter dem Leser doch nur wie eine elegante Überleitung zu Mozarts "Zauberflöte" entgegen. 1791, zwei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille, uraufgeführt, war "Die Zauberflöte" ein echtes Kind der Aufklärung und fügt sich hervorragend in ein Buchkonzept, das seinen Schwerpunkt auf den Zeitraum von der Französischen Revolution bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gelegt hat, um auch noch das Lieblingskind der Autorin, das Kino, unterzubringen. "Die Königin der Nacht läßt sich als das Unheimliche der Aufklärung lesen", schreibt Bronfen, weshalb Sonnenpriester Sarastro seine Ex schleunigst zurück ins ewige Dunkel bannte.
    Für diese Sehweise steht nicht nur "Die Dialektik der Aufklärung" von Adorno/Horkheimer Pate, auf ihrer "Karte des aufklärerischen Denkens" verzeichnet Elisabeth Bronfen auch noch Vorläufer wie Descartes, Leibniz, Kant, Hegel und nicht zuletzt Sigmund Freud.

    Das märchenhafte Libretto von Emanuel Schikaneder bildet also nur den Auftakt zu einer unendlichen Sammlung von Geschichten, die auch Zarathustras Reise ans Ende der Nacht nicht ausgelassen hat. Auch Nietzsche, der das titelgebende Zitat geliefert hat, das eigentlich: "Die Welt ist tief - und tiefer als je der Tag gedacht hat" lautet, hat sich stets mit dem Verhältnis zwischen einer dunklen und einer hellen Seite der Vernunft beschäftigt. Nun steht er neben "Romantischen Nachtwächtern", "Nachtstücken der Schauerliteratur" und "Nachtgeweihten", alles Wiedergänger einer nur scheinbar überwundenen dunklen Vorzeit. Worauf aber zielt diese "Kulturgeschichte der Nacht", wie sich das opulente Werk im Untertitel nennt, das auf jeden Fall mehr als eine Motivsammlung sein soll. Was dann?

    "Ich bin von dem Gedanken ausgegangen, dass man über die Nacht meint, nicht sprechen zu müssen, weil sie so vertraut ist. Mir ist dann aufgefallen, dass es zwar unglaublich viele Nachtbilder, Nachtgedichte, Nachtszenen in sehr vielen literarischen Texten und natürlich im Medium Kino sehr viele Nächte gibt, die die zentralen Schauplätze und auch die Zustände der Figuren in diesen Filmen widerspiegeln. Dass es aber bislang keinen Versuch gegeben hat, auf die Nacht einzugehen, und zwar nicht die alltäglich erlebte Nacht, sondern die Nacht als etwas, was von der Literatur und von der Philosophie produziert wird. Was mich aber interessiert hat, ist eben über eine Motivgeschichte von nächtlichen Schauplätzen oder Mondlandschaften oder Nachtwanderungen hinaus nachzufragen: was genau ist das spezifische Verhältnis von Nacht und sag ich jetzt einfach mal so: "Kunst"."
    "Man muss die Nacht gesehen haben, bevor man den Tag begreift." Die Verbeugung vor der Lyrikerin Anne Sexton führt zu den literarischen Streifzügen, somit zum Herzstück des Buches, das den Einstieg in seine fünf großen Kapitel mit den Kosmogonien, den Welterklärungslehren, bestreitet. In Hesiods "Theogonie" entsteht zuerst das finstere Chaos, dann erst zeugen die Geschwister Nyx und Erebos den Tag.

    Noch ehe die Autorin so richtig in ihr Thema einsteigt, schleudert sie der Genesis und dem biblischen Gottesauftrag: "Es werde Licht!" ganz deutlich ihr: "Es werde dunke!l" entgegen. Hier haben die nächtlichen Denkfiguren das Sagen, der gefallene Engel Luzifer, Adam und Eva auf ihrem leidvollen Erkenntnisweg wie ihn John Milton in "Paradise Lost" nachgezeichnet hat. Deshalb führen die Nachtgöttin Nyx zusammen mit der Königin der Nacht wie ein roter Faden durch das Buch. Sie begleiten die rites-de-passages durch die europäische Kulturgeschichte, unzählige Nachtreisen durch Renaissance, Aufklärung und Romantik, zuletzt das "Aufwachen" im zwanzigsten Jahrhundert.

    Doch auch der Erzähler in Celines "Reise ans Ende der Nacht" räsoniert über das Leben als "ein bisschen Licht, das in der Nacht verlischt". Immer erscheint die Nacht als Entstellung oder Abweichung von der Norm, als die bemerkenswertere, von Theater und Literatur bevorzugte Tageszeit. Zuletzt im Epilog wird Virginia Woolf als "moderne Königin der Nacht" aufgerufen, die in den Abgrund der eigenen Krankheit schaue und mit ihrer Schriftstellerei immer wieder aus der Nacht hinaus in den Tag führe. Dominierende Frauenfiguren treten als Garanten für den "weiblichen Blick" des Buches auf, eine Blickrichtung, die Elisabeth Bronfen keineswegs von Anfang an verfolgte.

    "Mir wurde das erst klar - das war nämlich überhaupt nicht meine Intention, ich wollte eine wissenschaftliche Arbeit darüber schreiben, wie die Nacht überall auftaucht - als ich für das große Filmkapitel mich entschlossen hatte, mich auf eine einzige Gattung zu konzentrieren, nämlich den film noir. Und dann, weil ich es ausführlich machen wollte, an die neunzig film noir angesehen habe. Wenn man also 90 film noir hintereinander anschaut, obwohl die alle nur 1 1/2 Stunden lang sind, ist man tatsächlich in einem anderen geistigen Zustand. Dann guckt man nicht mehr auf die Handlungen, das ist ja immer dieselbe Handlung, man guckt auch nicht auf die spezifischen Figuren, man fängt an, Muster zu sehen. Und was mich wirklich beeindruckte, weil es ein bisschen gegen die Forschung zum film noir geht, ist: dass die Frauen, unabhängig davon, ob sie jetzt verruchte femme fatale sind oder unschuldige träumende Mädchen, sie sind alle mit einer Selbstverständlichkeit in der Nacht, die ganz entgegengesetzt ist zu der Art wie die Männer in diese Nächte eindringen. Und beim film noir ist es ja so: Lässt man sich auf irgendeine Wette ein, ist es dann auch tagsüber Nacht. Und das hat mich dann interessiert, weil man dann sagen konnte: Für die weiblichen Gestalten ist die Nacht eine Art vertrauter Ort."
    Mit ihrem "weiblichen Blick" auf die Nacht knüpft die Zürcher Literaturprofessorin Elisabeth Bronfen an ihre früheren Arbeiten "Nur über ihre Leiche", "Das verknotete Subjekt an, Unbehagen in der Hysterie" oder auch "Liebestod und Femme fatale" an und beweist erneut, wie sich mit einer interdisziplinären Betrachtungsweise überraschend neue Zusammenhänge herstellen lassen. Wie immer besticht die Unerschrockenheit, mit der sie subjektive Thesen aufstellt, ohne einen wissenschaftlichen Anspruch zu erheben. Bei einer solchen Materialfülle tut man sich mit dem Mäkeln schwer, die eindeutig unterrepräsentierte Malerei hätte noch ein Jahr Arbeit und weitere hundert Seiten gekostet. "Tiefer als der Tag gedacht" ist in großen Teilen ein lehrreiches Lesevergnügen, das allerdings die große Linie vermissen und dem selbstverliebten Palavern allzu freien Lauf lässt. Dennoch ist zu loben, dass Bronfen hier erneut dem Film seinen verdienten Platz als Kulturgut zuweist. Ebenso ihr Verweis auf Aby Warburg, der das Nachleben der Antike in den unterschiedlichsten Bereichen der abendländischen Kultur untersucht hat und als einer der ersten Kulturwissenschaftler gilt.

    "Einer der nicht ganz verschwiegenen Theoretiker, die dieses Buch sehr stark beeinflußt haben, ist Aby Warburg und zwar Aby Warburgs "Atlas von Pathosformeln" Was mich interessiert hat: er war ja einer der ersten, der in den zwanziger, dreißiger Jahren wirklich diese Brücke zwischen Unterhaltungs- und ernster Kultur geschlossen hat, weil er von dem permanenten Wiederaufflackern und in dem Sinne Nachleben dessen ausgegangen ist, was er "Pathosformeln" nennt oder was man Bildformeln nennen kann oder einfach gewisse Gesten. Und die Frage, die mich daran interessiert, zu welchem historischen Zeitpunkt wird etwas wieder brisant, und in welchem Medium ist das jetzt. Man kann sehr schön das Wandern von so Pathosformeln von Shakespeare über die Opernbühne ins Kino verfolgen. Und jedes Mal, wenn das wieder aufflackert, ist die Betonung leicht anders. Also das heißt: Mein Verständnis von Kultur ist tatsächlich ein immer wieder Zurückkehren auf oder: Es kehrt zu uns zurück. Von Bildern und Fragen und Intensitäten, die die ganzen Fragen immer wieder neu wenden."

    Elisabeth Bronfen, Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, Carl Hanser Verlag München 2008, 639 Seiten, gebunden, 29.90 Euro