Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Liebeserklärung an Franz Kafka

Gegen die eigene Ehrfurcht hat Alois Prinz die Lebensgeschichte Franz Kafkas aufgeschrieben. Sein Talent als Biograf hatte Prinz davor schon mit Darstellungen über die Philosophin Hannah Arendt und den Schriftsteller Hermann Hesse bewiesen. Im vergangenen Jahr bekam er für die Lebensgeschichte der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof den Jugendliteraturpreis. "Auf der Schwelle zum Glück" heißt seine Biografie über Kafka.

Von Nicole Strecker | 22.04.2006
    Er ist eine der mysteriösesten Figuren der Literaturgeschichte: Franz Kafka. Wer sich ihm nähert, hat es immer mit einem Phänomen zu tun: der Angst – nicht nur dem existenziellen Gefühl von Lebensangst, sondern auch ganz schlicht dem von der Angst des Lesers: Kann ich das verstehen? Kafka ist zum Modellfall für das Scheitern diverser Interpretationsmethoden geworden, egal ob psychologisierend und autobiografisch, strukturalistisch und ästhetisch oder sozialgeschichtlich - nichts greift so richtig. "Kafkaesk" lautet die Kapitulationsformel der Germanistik vor diesem Phänomen. Doch jetzt kommt einer daher, der so gar nicht mit Interpretationswut an Kafka herantritt. Alois Prinz, selbst von Hause aus Literaturwissenschaftler, doch hier vor allem – wie er selbst sagt - Liebhaber.

    "Ich habe nichts getan, was Kafka auch nie getan hätte, und das ist für mich eine Voraussetzung von Biografie, dass man denjenigen, den man biografiert, auch zum Maßstab bringt, wie der über Leute denkt, wie der darüber denkt, wie nahe man Leuten kommen kann. Und bei Kafka, der hatte auch ganz großen Respekt vor seinen Figuren, die er auftreten lässt, und da gibt es keine Innenansichten, sondern die werden immer nur beschrieben. Und ich habe etwas Ähnliches auch versucht: Kafka einfach nur zu zeigen, wie er ist, wie er sich kleidet, welche Schrullen er hat, welche Eigenheiten er hat, sozusagen auf die Bühne zu bringen."

    Im April des Jahres 1910 beginnt der von Prinz inszenierte erste Akt im Leben des Schriftstellers. Der Halleysche Komet sollte eigentlich die Welt vernichten, doch der prognostizierte Einschlag blieb aus, und so ist der 26-jährige Kafka an diesem Donnerstagmorgen unbehelligt von der Apokalypse auf dem Weg in eine persönliche Katastrophe: Sein Chef, der Präsident der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen, möchte Kafka besondere Ehre zuteil werden lassen und empfängt ihn anlässlich einer Beförderung. Und Kafka, der sonderbare Mensch, bekommt einen Lachanfall, den – so ist es nun einmal typisch für ihn - niemand, nicht einmal er selbst, wirklich versteht.

    "Natürlich lachte ich dann, da ich nun schon einmal im Gange war, nicht mehr bloß über die gegenwärtigen Späßchen, sondern auch über die vergangenen und die zukünftigen und über alle zusammen, und kein Mensch wusste mehr, worüber ich eigentlich lache."

    So reflektiert Kafka Jahre später diese Begebenheit in einem Brief und solche Selbstaussagen vor allem sind es, auf die sich Alois Prinz in seiner Lebensgeschichte stützt. 1910 beginnt Kafkas Tagebuch, was für seinen Biografen den Ausschlag gab, hier auch mit seiner Lebensgeschichte einzusetzen. Von diesem Fixpunkt aus skizziert Prinz knapp die Kindheit und Kafkas ungeliebtes Jurastudium. Vor allem aber nähert er sich von diesem Punkt rasch einem zentralen Ereignis: Kafkas Begegnung mit Felice Bauer.

    "Wie lange er um die Felice gekämpft hat, das waren ja viele Jahre lang, das hat ihn einfach am stärksten geprägt. Das waren seine produktivsten Jahre und es war sein härtester Kampf, den er geführt hat. Und wenn man bedenkt, dass er mit dieser Frau 500 oder mehr Briefe gewechselt hat, dann weiß man schon, was an Textmaterial ist und es sind nicht nur Liebesbriefe, sondern er erzählt viel von seinem Alltag, von seinen Eltern, seinem Leben, über seine Arbeit und das ist ein Kaleidoskop seines Lebens, so kann man natürlich als Leser sehr viel erfahren über seine Ansichten und Meinungen."

    Es war eine tragische Liebe, deren anstrengendes Hin und Her Prinz detailreich aufschlüsselt: Heiratsanträge und Entlobungen, Liebesschwüre und Liebesverrat, Lavieren, Zurückweisen, Anziehen und letztlich Scheitern. Aber parallel zu den Herzenswirren geschieht noch etwas: Kafka schreibt einige seine bedeutsamsten Texte: Erzählungen wie "Das Urteil" oder "In der Strafkolonie", den "Amerika"-Roman, den "Prozess".

    "Kafka ist für mich einer der unglaublich tief gesehen hat, was dem entgegensteht zu ändern. Er hat sich ja fast nicht geändert in seinem Leben. Er wollte immer von Prag weg, hat das nicht geschafft, er wollte immer heiraten, hat das nicht geschafft, er konnte nicht über das hinweg, was ihn daran gehindert hat, nämlich seine eigene Verfasstheit. Und das ist für mich eine ganz tiefe Einsicht, die er bis zum letzten radikal ausgelebt und ausformuliert hat. Und auch in seinen Büchern: Diese Vergeblichkeit, dieses Etwas-machen-wollen-und-doch-nicht-können – und das ist für mich eine ganz große Wahrheit."

    "Warum Menschen ändern wollen, Felice? Ändern kann man sie nicht, höchstens in ihrem Wesen stören. Der Mensch besteht doch nicht aus Einzelheiten, so dass man jede für sich herausnehmen und durch etwas anderes ersetzen könnte. Vielmehr ist alles ein Ganzes, und ziehst du an einem Ende, zuckt auch gegen deinen Willen das andere."

    Wie schon in seinen früheren Biografien geht es Alois Prinz auch bei Kafka darum, eine Lebensphilosophie darzustellen. Fragen, die andere Biografen so quälen, – ob Kafka wirklich sein gesamtes Schaffen vernichtet haben wollte, wie authentisch seine Selbstzeugnisse überhaupt sind, ob er nicht übertrieb und ob er literarisch formte, welche Ursachen seine Ängste, sein Leiden am Vater, an den Frauen hatte, inwiefern sein Judentum ihn prägte – all diese unlösbaren Rätsel beschweren Alois Prinz nicht wirklich. Für ihn besteht eine klare Korrespondenz zwischen Leben und Schreiben, das Werk gibt Aufschlüsse über den Autor – und von dieser Prämisse aus vermittelt er vor allem die Atmosphäre im Kafka-Kosmos: das Weltempfinden dieses sonderbaren Prager Versicherungsbeamten – der nachts schreibend sein Leben zu bewältigen versuchte, sich nie wirklich von seiner Familie und einem übermächtigen Vater lösen konnte und der schließlich im Alter von nur 40 Jahren an Kehlkopftuberkulose starb. So wächst, wer diese Biografie liest, mit jeder Seite mehr hinein in den unbenennbaren Schmerz, das Fremdsein, die Schuldgefühle – in ein Dasein auf der Schattenseite des Lebens. Aber zugleich zeigt Prinz mit seinem Kafkaporträt auch das Licht - dass im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeiten auch das Potenzial zu Toleranz und Humanismus stecken kann.

    "Gerade Kafka zeichnet sich aus, dass er überhaupt nicht moralisch an die Dinge herangeht, sondern alles, was da ist, was Wirklichkeit ist, was Unwirklichkeit ist, und das sind oft ganz gewalttätige Träume und Gefühle, dass er die einfach ausbreiten will und an die Luft kommen lassen will. Und da gibt es keine moralischen Vorsätze. Und so ist es auch wenn ich jetzt über Kafka schreibe."

    Wie immer ist Alois Prinz' Sprache luzide, manchmal vielleicht ein wenig zu betulich, aber offen genug, um wie selbstverständlich Zitatfetzen von Kafka in seine Sätze einfließen zu lassen. Am Ende dieser Biografie bleibt vor allem eine Erkenntnis: Dass es gar nicht immer um das Begreifen gehen muss. Manchmal reicht auch das Erfühlen. So werden die Kafka-Experten noch weiter nach der Dechiffrierbarkeit der Texte und den intellektuellen Letztbegründungen forschen. Alois Prinz dagegen gestattet sich in seiner Biografie eine Liebeserklärung an Franz Kafka ohne den Zwang zur Interpretation und begnügt sich ganz im Sinne seines Autors mit einem Verstehen jenseits der Begriffe: mit der emotionalen Wahrheit.

    "Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle."