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Liebeserklärung und Selbstporträt

Mit feinstem Instrumentarium zerlegt Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk in einem beeindruckenden Buch das klebrige und mythenreiche Gespinst, zu dem wir gewöhnlich Sippe, Clan oder Großfamilie sagen. Zugleich gelingt es ihm, dem Leser die Stadt Istanbul sehr nahe zu bringen.

Von Thomas Palzer | 19.11.2006
    1987, im Alter von 35 Jahren, spielt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk mit dem Gedanken, seiner Geburtsstadt Istanbul ein literarisch ähnlich imposantes Denkmal zu setzen, wie es James Joyce für Dublin mit "Ulysses" gelungen ist. Es dauert indes noch 15 Jahre, bis der Autor seine Idee in die Tat umsetzt - und dann nicht als Roman, sondern als Stadtporträt, verfasst von einem inzwischen 50-Jährigen, der an dieser legendären Schnittstelle zweier Kontinente bis auf einen dreijährigen USA-Aufenthalt sein gesamtes Leben verbracht hat. 2003 jedenfalls erscheint das Werk in einem Istanbuler Verlag, und seit gestern liegt es im Hanser Verlag auch auf Deutsch vor.

    "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt" ist das mit zahlreichen Fotografien aus Pamuks Familienalbum und aus Archiven versehene Buch betitelt. Dass es sich dabei ausschließlich um Schwarz-Weiß-Fotografien handelt, hat nicht nur mit den Druckkosten zu tun, sondern mit einem ganz speziellen Gefühl, das der Autor mit seiner Stadt verbindet.

    Um es vorweg zu nehmen, nicht zu den geringsten Synergieeffekten, die die Lektüre des Buchs beschert, gehört die Erkenntnis, dass es ausgerechnet die Brille der Subjektivität ist, die für Klarheit sorgt. Persönlichkeit als maßgebende Gestaltungskraft scheint unverzichtbar, wenn es darum geht, von Humanoira - also von Sachen, die Menschen betreffen - einen adäquaten Eindruck zu bekommen. Wie Gefühle, Motive und Stimmungen immer eine konkrete Referenz besitzen, ist auch Istanbul als Produzent und Produkt solcher Empfindungen und Intentionen nur vermittelbar, wenn wir die Stadt auf einen konkreten Menschen beziehen; wenn wir uns in einen Menschen hineinversetzen, der die Stadt erlebt, erfühlt und erlitten hat; wenn wir sie mit fremden Augen sehen, mit fremder Seele fühlen; wenn wir sie ganz nah an uns heranlassen. Mit diesem Buch gelingt es Orhan Pamuk, dem Leser Istanbul sehr nah zu bringen. Die von den bejubelten Naturwissenschaften so geschätzte Objektivität, verkörpert etwa im Baedecker, entlarvt sich im Vergleich zur Subjektivität als das eigentliche Vorurteil - nämlich das einer Gruppe, dem Konsens entsprungen.

    "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt" ist das Porträt des Künstlers als junger Mann. Das Buch schildert die Metropole am Bosporus in den Jahren zwischen 1957 und 1974 - zwischen dem erwachenden Bewusstsein des 5-jährigen Pamuk und dem Entschluss des 22-Jährigen, seiner Biografie eine andere als die bislang geplante Richtung zu geben.

    "'Ist das der Aufzug?' fragte meine Mutter.
    Wir horchten beide, aber es war nicht der wimmernde Aufzugmotor: Mein Vater kam nicht nach Hause. Mit erstaunlicher Geduld widmete meine Mutter sich wieder ihrer Patience, und ich sah ihr eine Weile dabei zu. Ihre Hände, ihre Arme hatten etwas ganz Besonderes, das mich die ganze Kindheit über faszinierte, mich aber auch leiden ließ, wenn ich nicht genug Liebe darin spürte, doch vermochte ich nicht auszumachen, was genau an ihren Gesten und Bewegungen es war. Ich liebte sie wahnsinnig und war zugleich wahnsinnig wütend auf sie. Vier Monate zuvor hatte sie mit kriminalistischem Spürsinn herausbekommen, in welcher Wohnung in Mecidiyeköy mein Vater sich mit seiner heimlichen Geliebten traf. Sie hatte dem Pförtner den Schlüssel dazu abgeschwatzt und erzählte mir später kaltblütig, was sie darin gesehen hatte. Mein Vater hatte dort auf dem Kopfkissen des Bettes genau den gleichen Schlafanzug liegen, den er auch zu Hause trug, und auf dem Nachtkästchen türmten sich, wie bei uns, einige Bridgebücher, die er gerade las.

    Zuerst hatte meine Mutter über das Gesehene geschwiegen, doch einige Monate später, als sie wieder geduldig eine Patience legte und dazu rauchte und hin und wieder einen zerstreuten Blick zum Fernseher warf, hatte ich mich zu ihr gesetzt und mit ihr gesprochen, und da war sie damit herausgeplatzt. Sie merkte gleich, dass ich ihr nur widerwillig zuhörte, und machte es deshalb kurz, und immer, wenn mir diese Geschichte nun einfiel, ließ der Gedanke an die Wohnung, die mein Vater jeden Tag aufsuchte, mich regelrecht erschauern: Mir kam es manchmal so vor, als hätte mein Vater geschafft, was mir selbst nicht gelungen war; als hätte er nämlich in der Stadt seinen Zwilling gefunden und würde sich Tag für Tag mit diesem treffen und nicht mit seiner Geliebten. Diese seltsame Sinnestäuschung ließ mich fühlen, dass meinem Leben und meiner Seele etwas fehlte.

    'Irgendein Studium mußt du doch zu Ende kriegen', sagte meine Mutter und legte weiter ihre Karten aus. 'Vom Malen kannst du schließlich nicht leben, also mußt du arbeiten. Wir sind nun mal nicht mehr so wohlhabend wie früher.' 'Das stimmt gar nicht", erwiderte ich, denn klammheimlich hatte ich mir schon ausgerechnet, dass ich durch den Immobilienbesitz meiner Eltern auf eine geregelte Tätigkeit verzichten konnte. 'Du meinst also allen Ernstes, das Malen würde dir genug einbringen?'"

    Das Kapitel, aus dem zitiert wurde und das den Titel trägt "Ein Gespräch mit meiner Mutter: Geduld, Vorsicht, Kunst", ist das Schlusskapitel. Und dieses wiederum endet mit einem Satz, der verdeutlicht, dass der ganze vorangegangene Text, dass das Buch "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt" als Künstlerbiografie verstanden werden muss. Der spätere Literaturnobelpreisträger erklärt als 22-Jähriger der Mutter knapp und klar, dass er statt Maler doch lieber Schriftsteller werden will - aber nicht, wie die Mutter es nahelegt, aus ökonomischen Erwägungen. Vielmehr will er nicht stumm bleiben - wozu er den Maler verdammt sieht -, er will seine Stimme erheben - und dies wird der leibhaftige Pamuk, wie wir wissen, ja auch tun. Der Autor wird zu den Ersten in der muslimischen Welt gehören, die gegen die Fatwa des Ajatollah Chomeini protestieren - und er gehört ferner zu denen, die auch so sensible Themen wie die Kurdenpolitik oder den Völkermord an den Armeniern nicht aussparen - was ihm eine Anklage wegen öffentlicher Herabsetzung des Türkentums und anderen Ärger einbringt.

    Doch zurück ins Istanbul Mitte der 70er Jahre. Pamuks Mutter ist von dem Sinneswandel ihres Sohnes wenig beeindruckt, ist weder von dem einen Berufsziel noch vom anderen überzeugt. Ihrer Ansicht nach hat Istanbul keinerlei Sinn für Kunst - egal, ob es sich dabei um Malerei oder Schriftstellerei dreht. Damit stimmt sie in den allgegenwärtigen Chor ein, nach dem in Istanbul

    "sowieso alles für die Katz"

    sei. Für die Katz? er Zerfall des Osmanischen Reiches und das wegen innerer und äußerer Widerstände nur mühsame Voranschreiten der Europäisierung (in der von der Bevölkerung, wie Pamuk bemerkt, lediglich eine Befreiung von der Last religiöser Pflichten gesehen wird) setzen den Bewohnern der einst imperialen Kapitale zu - das glorreiche Konstantinopel ist in ihren Augen zu einem erbarmungswürdig rückständigen, ungebildeten und isolierten Vorort der Moderne heruntergekommen. Eben zu Istanbul. Eine Katastrophe.

    Eine Katastrophe auch, dass das Vermögen, das Orhan Pamuks Großvater mit dem Bau von Eisenbahnstrecken erwirtschaftet hat, in den unbegabten Händen seiner Söhne als von Orhans Vater und seinem Onkel dahinschmilzt. Vor den Augen der Großfamilie, die in einem fünfstöckigen Block nördlich des Bosporus wohnt - dem so genannten Pamuk Apartmani, in dem jeder Trieb eine eigene Etage für sich in Anspruch nimmt -, vor aller Augen zerrinnt es zwischen den Fingern und wiederholt so für die Familie, was der Türkei als Ganzes widerfahren ist: der Abstieg von der Bedeutung in die Bedeutungslosigkeit.

    Eine Parallele, die zeigt, dass die auf die prowestliche Linie Atatürks eingeschworene Pamuk-Familie ein für Istanbul prägendes Gefühl teilt - jene besondere Melancholie, die - dem schriftstellernden Spross Orhan zufolge - auf Türkisch hüzün heißt, was so viel wie Tristesse bedeutet. Tristesse verstanden als überindividuelles, kollektives Eingeständnis der Niederlage. Zeugnis dafür sind die verfallenen Monumente, denen man überall in Istanbul begegnet, weil diese an die einstige Größe es Osmanischen Reiches erinnern. Aber es gibt auch andere, lebende Zeugnisse:

    "Nun aber soll nicht von der Melancholie Istanbuls die Rede sein, sondern von jenem anderen Gefühl, das stolz verinnerlicht und Tag für Tag gemeinschaftlich erlebt wird: von hüzün. Wir lassen also die Momente und Orte Revue passieren, an denen dieses Gefühl sich am deutlichsten manifestiert. Das sind dann früh hereinbrechende Abende, Familienväter, die in einem Vorort mit einer Tüte in der Hand unter einer Straßenlaterne ihrem Heim entgegenstreben, alte Buchhändler, die während einer der zahlreichen Wirtschaftskrisen in ihrem Lädlein frieren und den lieben langen Tag vergeblich auf Kunden warten, Friseure, die darüber jammern, dass in solchen Krisen die Kunden sich immer seltener blicken lassen, an verwaisten Anlegestellen vertäute alte Bosporus-Dampfer, Schiffer, die beim Putzen auf einen kleinen Schwarzweißfernseher schielen und sich wohl bald auf dem Schiff zu einem Nickerchen zurückziehen werden, enge Pflasterstraßen, Kinder, die zwischen Autos Fußball spielen, Frauen mit Kopftuch, die mit einer Plastiktüte in der Hand an abgelegenen Haltestellen auf einen ewig nicht kommenden Bus warten, ohne miteinander ein Wort zu wechseln, leere Bootshäuser alter Bosporus-Villen, bis auf den letzten Platz mit Arbeitslosen gefüllte Teehäuser."

    Von dieser Nostalgie, die einer vergangenen Größe nachtrauert, werden angesichts der eigenen finanziellen Lage auch die Pamuks erfasst - ausgerechnet sie, die 1951 - ein Jahr vor Orhans Geburt - ein modernes Apartment bezogen, weil sie sich immer als Teil jener neuen Generation gesehen haben, die die Osmanen ablösen und eine neue Zivilisation vorbereiten.

    "Die Betrübnis, der Verlust und die Schwermut, die der Zerfall des Osmanischen Reiches über Istanbul gebracht hatte, war - wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit ein wenig Verzögerung - schließlich auch über uns hereingebrochen."

    17 Jahre liegen zwischen Beginn und Ende von "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt" - 17 Jahre, die Orhan Pamuk im Pamuk Apartmani im Stadtteil Sisli verbringt - jenem Apartmenthaus, das für den Schriftsteller das Herz Istanbuls darstellt und in dem er heute im übrigen wieder wohnt und arbeitet: in der Dachwohnung.

    In "Istanbul - Erinnerung an eine Stadt" erzählt Orhan Pamuk von seinem Leben als Kind, als Heranwachsender, als junger Mann; von seinem Leben an der Seite seines Bruders, seiner Mutter, seines freigeistigen und meist abwesenden Vaters - und er erzählt von seinem imaginären Leben an der Seite eines eingebildeten Zwillingsbruders - eines Zwillingsbruders, den seine Dhantasie gebiert, als ihm Verwandte ein Kalenderfoto zeigen, und an dessen ständig anwesendes Phantasma er sich gewöhnt, weil er sich gezwungen sieht, immer öfter vor den elterlichen Streitereien, die unweigerlich zu einer modernen, säkularen Ehe gehören, in dessen Zwillingswelt Zuflucht zu nehmen.

    Pamuk erzählt von seinem Leben zwischen Tanten, Onkeln und Großmüttern; von dem Leben am Mittagstisch, wo alles drunter und drüber geht, und in Wohnzimmern, die ausschließlich der Repräsentation dienen und nur geöffnet werden, wenn man Gäste erwartet; von seinem Dasein zwischen Klavieren, Spiegeln, Klatschzeitschriften und französischen Romanen - kurz: von seiner Existenz und ihren Kämpfen zwischen den Attrappen nachgemachter moderner Bürgerlichkeit.

    Atmosphärisch dicht und voller Humor beschreibt der Nobelpreisträger, wie er als kleiner Junge zunächst den familiären Kosmos erkundet - und später die Straße, zunächst an der Hand seiner Mutter, dann im Dogde seines Onkels, und endlich auf eigene Faust: das Kopfsteinpflaster mit dem abendlichen Schwarzweißgefühl, in dem sich für den jungen wie alten Pamuk fotografische Stadtansichten mit dem hüzün verbinden; die engen Gassen der Altstadt, gesäumt von Mietshäusern aus Beton und Häusern aus Holz mit vergitterten Fenstern, die von kümmerlichen Straßenfunzeln mehr schlecht als recht beleuchtet werden.

    Und während der Autor all das beschreibt und uns dicht vor Augen stellt, erzählt er nebenher von sich selbst, von seinen Ängsten, seinem Stolz, seinen Vorstellungen und Einbildungen und seinem amüsanten Aberglauben.

    "Als wir eines Abends beim Essen saßen und mich von dem kitschigen, weißgerahmten Bild an der Wand mein Doppelgänger ansah, sagte ich zu meiner Tante, meinem Onkel, dem Journalisten, Dichter und Verleger Sevket Rado ... und meinem Cousin Mehmet, der mit seinen zwölf Jahren fünf Jahre älter war als ich, in möglichst beiläufigem Ton, dass Ministerpräsident Adnan Menderes mein Onkel sei, und als ich darauf nicht die erhoffte Bewunderung erntete, sondern nur Gelächter und spöttische Fragen, fühlte ich mich schwer gekränkt. Ich war nämlich tatsächlich davon überzeugt, dass der Ministerpräsident mein Onkel sei.

    Allerdings hatte sich dieser Glaube nur in einem Hinterstübchen meines Verstandes eingenistet. Auf die falsche Fährte gebracht hatten mich mehrere Indizien: die Vornamen meines Onkels (Özhan) und des Ministerpräsidenten (Adnan) stimmten in den letzten beiden Buchstaben überein, der Ministerpräsident war nach Amerika gereist, wo mein Onkel schon lange lebte, ich sah tagtäglich Fotos von beiden (die einen in der Zeitung, die anderen im Salon meiner Großmutter), und auf einigen dieser Fotos sahen sie sich tatsächlich recht ähnlich. Mir wurde später zwar bewußt, dass bei mir allerlei Überzeugungen, Glaubenssätze, ästhetische Urteile und Vorurteile auf genau diese seltsame Weise zustande kommen, doch hat mich das keineswegs daran gehindert, auch weiterhin so zu verfahren. So wie es Amerikaner gibt, die bei der Türkei (Turkey) spontan an Truthähne (ebenfalls turkey) denken, glaube ich, dass zwei Menschen, die ähnlich heißen, sich auch in der Persönlichkeit gleichen; dass ferner ein türkisches oder ausländisches Wort, das ich nicht kenne, etwas Ähnliches bedeutet wie irgend ein Wort, das ihm lautlich ähnelt; dass eine Frau mit Grübchen veranlagt sein wird wie eine andere Frau mit Grübchen, die ich schon kenne; dass alle Dicken sich gleichen; dass zwischen allen Armen ein mir unbekannter Zusammenhang besteht und dass Brezilya (Brasilien) etwas mit bezelye (Erbse) zu tun hat (prangt etwa auf der brasilianischen Flagge nicht eine riesige Erbse?). Schlimmer noch, ich halte die Übereinstimmungen zwischen dem Ministerpräsidenten und meinem Onkel für immer und ewig gültig, und wenn ich in meiner Kindheit einen entfernten Verwandten einmal in einem Restaurant Spinat mit Ei habe essen sehen (schön war damals, dass man auf der Straße und in Läden ständig Verwandten und Bekannten begegnete), dann wähne ich den Guten auch heute noch, also fünfzig Jahre später, in demselben Lokal (das es längst nicht mehr gibt), und zwar noch immer vor Spinat und Ei."

    Mit feinstem Instrumentarium zerlegt der Erzähler Pamuk in seinem beeindruckenden Buch das klebrige und mythenreiche Gespinst, zu dem wir gewöhnlich Sippe, Clan oder Großfamilie sagen - und das geprägt ist von Missverständnissen, Projektionen, Konkurrenz, Zuneigung und dessen getreuem Gegenteil, Neid und Missgunst. Der Vater nimmt seine drohende Abschaffung durch die Moderne vorweg, in dem er sich eine Geliebte hält, die seine familiäre Anwesenheit auf ein Minimum beschränkt, und es ansonsten vermeidet, gegenüber seinen Kindern väterliche Strenge walten zu lassen. Er legt selbst bei dummen Jungenstreichen kaum je die Stirn in Falten, wie Pamuk berichtet. Dafür dominieren Mutter und Großmutter das Terrain, aber auch diese beiden auf seltsame Weise, nämlich so, als seien sie auf dem Weg vom Osmanischen Reich in eine säkulare und positivistische Zukunft auf halber Strecke stecken geblieben, das heißt irgendwie formelhaft und hohl. Ein Wunder, das unter solch ungünstigen Bedingungen Orhan überhaupt heranwachsen, ja sogar gedeihen kann. Vielleicht verhält es sich mit der Sippe und dem Nachwuchs wie mit der beeindruckenden Farbigkeit eines Mistkäfers auf dem Mist.

    Besonders aufschlussreich werden Pamuks Beobachtungen, wenn er das selbstauferlegte Diktat der Sippe unter die Lupe nimmt, das da heißt: Europäisch werden! Europäisch werden hieß für die Pamuks wie vermutlich für viele in der Türkei, die gut betucht sind: sich mit nüchternem Mobiliar einrichten, klassische Musik hören und sich ausgestellt aufklärerisch oder besser: positivistisch gebärden.

    Wenn der kleine Orhan Religiosität bei den Dienstmädchen und Köchen seiner Sippe bemerkt, schließt er mit der beinharten mathematischen Logik, die seiner Familie eigen ist, dass Gott etwas für Arme und Zukurzgekommene sein muss. Er hält ihn für einen Nothelfer der Mühseligen und Beladenen und jener Bettler, die unentwegt seinen Namen auf der Straße herunterrasseln. Dass sein Land noch mit ein- bis eineinhalb Beinen in vormodernen Zeiten steckt, erkennt er an dem weitverbreiteten Verhalten der Erwachsenen, die zwar bekunden, an nichts zu glauben, sich aber insgeheim sagen: Man weiß ja nie.

    "Dass ich mein Bild von dem weißgewandeten, ehrwürdigen Gott nicht weiterentwickelt und in meiner Beziehung zu ihm nicht über ein mit Vorsicht gepaartes Desinteresse hinauskam, lag sicherlich auch daran, dass niemand zu Hause mir in dieser Hinsicht irgendeine Unterweisung gab. Wahrscheinlich wußten sie mir schlicht nichts beizubringen, denn von den Familienmitgliedern sah ich nie jemanden beten oder fasten. Es lebten alle dahin wie französische Bourgeois, die sich von der Religion zwar weitgehend gelöst haben, aber vor einer endgültigen Abrechnung damit dennoch zurückschrecken.

    Diese Glaubenslosigkeit, die zynisch und prinzipienlos anmuten mag, wurde im Grunde durch den ganz gegensätzlichen Glauben an die moderne, westlich geprägte Republik nach dem Vorbild Atatürks ergänzt, so dass aus unserer seelischen Trägheit heraus bisweilen ein "idealistischer" Funke aufleuchtete. Es war aber in unserer Familie auch damit nicht sonderlich weit her, und da nichts Tiefgehendes die Religion vollwertig ersetzte, glich bei uns die seelische Landschaft eher einem tristen farnüberwucherten Grundstück, auf dem nur noch Gerümpel lagert, seitdem man die alte Villa darauf erbarmungslos abgerissen hat."

    "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt" ist Liebeserklärung und Selbstporträt in einem. Trotz der geistigen Obdachlosigkeit, die in Pamuks Familie ebenso herrschte wie in dem zwischen abgestorbener Tradition und noch nicht lebensfähiger Aufklärung eingezwängten Istanbul, sind die Beobachtungen des Schriftstellers voller Wärme, Zuneigung und Humor. Hier schreibt keiner überheblich über solche, die einst überheblich gewesen sind. Hier schriebt einer, der über sich wie über seine Familie schmunzeln kann ohne dabei die Achtung zu verlieren. Nur diese Haltung, so wissen wir, verdient das Adjektiv zivilisiert.

    Was dem diesjährigen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk mit seinem Buch gelungen ist: die so genannte Objektivität wissenschaftlicher Darstellungen als Vorurteil von Historikern oder Soziologen zu entlarven. "Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt" weiß zu erzählen, wie die moderne Türkei in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erfunden worden ist.