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Liebevoll und gnadenlos

"Der Wapshot-Skandal” erschien 1964 in den Vereinigten Staaten. Sein Autor John Cheever ist hierzulande zu Unrecht nur Wenigen ein Begriff. Dabei gilt der 1982 verstorbene Autor als prägende Gestalt in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Wapshot-Werke als präzises Abbild dessen, was wir Leben nennen.

Von Sacha Verna | 01.04.2008
    Die Figuren in John Cheevers Romanen kommen und gehen. Manche von ihnen hinterlassen Spuren, andere kaum, doch so lange sie da sind, haben sie jedes Recht, da zu sein. Dr. Lemuel Cameron zum Beispiel, Leiter des geheimen Raketenstützpunkts Talifer irgendwo im geheimen amerikanischen Niemandsland. Er ist ein Konvertit, der an die Unantastbarkeit der natürlichen Ordnung glaubt, aber als Wissenschaftler an der Erzeugung von Tapferkeit mittels Veränderung der DNA herum experimentiert. Er hat eine Geliebte in Rom, ein Kruzifix an der Wand und schwankt zwischen Anfällen von Größenwahn und Selbstkasteiung.

    Weshalb widmet John Cheever ausgerechnet ihm Seite um Seite in seinem Roman "Der Wapshot-Skandal”, obgleich weder die Tatsache, dass Dr. Cameron auf der Piazza del Popolo in einen Platzregen gerät, noch jene, dass er in Washington in Ungnade fällt, weil er im Fall eines Atomkriegs für die Selbstzerstörung des Planeten plädiert, obwohl also solche und andere Details über Mr. Cameron für den Plot von "Der Wapshot-Skandal” nicht im mindesten maßgebend sind?

    Nun, zum einen gibt es in diesem Roman keinen eigentlichen Plot, für den irgend etwas wirklich maßgebend sein könnte. Und zum anderen: Ist es nicht wunderbar, mit Dr. Lemuel Cameron ein weiteres eigenartiges Exemplar der species humana kennen gelernt zu haben?

    "Der Wapshot-Skandal” erschien 1964 in den Vereinigten Staaten, sieben Jahre nachdem John Cheever für den Roman "Die Geschichte der Wapshots” mit dem National Book Award ausgezeichnet worden war. Cheever ist hierzulande zu Unrecht nur wenigen ein Begriff. Dabei gilt der 1982 verstorbene Autor als durchaus prägende Gestalt in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Seinen Namen als "Tschechov der Vorstädte” hat sich Cheever vor allem mit seinen Kurzgeschichten gemacht. Doch ist es zu begrüßen, dass der Dumont Verlag John Cheever dem deutschsprachigen Publikum jetzt als Schöpfer der Wapshots vorstellt.

    Man sagt, Cheever habe zwanzig Jahre lang an "Die Geschichte der Wapshots” gearbeitet. Tatsächlich las sich dieser im vergangenen Jahr auf deutsch herausgekommene Roman, als sei darin die Zeit stehen geblieben. Das fiktive Städtchen St. Botolphs an der Ostküste Neu Englands, in dem die Familiengeschichte spielt, ist ein Ort, in dem nur gelegentlich Züge halten und die Mütter ihre Kinder mit Glöckchen zum Abendessen herein rufen. Leander Wapshot ist Kapitän eines Vergnügungsdampfers, seine Frau Sarah Vorsteherin des Frauenvereins, und ihre beiden Söhne Moses und Coverly sind noch jung genug, um mit Daddy fischen zu gehen.

    In "Der Wapshot-Skandal” ist von der älteren Generation nur noch Tante Honora übrig. Die Handlung ist locker um Moses und Coverly drapiert, die St. Botolphs verlassen und Familien gegründet haben. Worin genau der "Skandal” besteht, wird nie ganz deutlich. Vielleicht darin, dass Tante Honora nach Europa flieht, um einer Anklage wegen Steuerhinterziehung zu entgehen? Sie hat sich in ihrem langen Leben ja nicht geweigert, Steuern zu bezahlen. Sie fand bloß, sie sei zu alt, um damit noch anzufangen. Ist skandalös, dass Moses' Frau mit einem Laufburschen durchbrennt, und Moses selber sich vor Schuldnern in einem Bordell verkriecht? Oder soll man sich darüber empören, dass Coverly seine Stelle auf Dr. Lemuel Camerons Raketenstützpunkt verliert und man von ihm Abschied nimmt, als er in St. Botolphs zu Ehren Tante Honoras und vermutlich zu Ehren der Wapshots überhaupt ein Weihnachtsessen für die Insassen einer Blindenanstalt ausrichtet? Wer weiß.

    Was man am Schluss weiß, ist Folgendes: John Cheever schildert all diese Menschen so liebevoll und gnadenlos, dass es fast weht tut. Wie hilflos diese auch durchs Dasein hampeln, so eindrücklich ist ihr beharrliches da Bleiben. Das Panorama, das Cheever entwirft, wirkt zunächst wie eine Landschaft voller Gartenzwerge. Grotesk und putzig zugleich, und ein bisschen unheimlich, zumal die Idylle natürlich trügt. Bei näherem Hinsehen jedoch erweisen sich die Wapshot-Werke und das Werkeln der Wapshots als präzises Abbild dessen, was wir Leben nennen. Nichts ist wichtig, alles ist wichtig. Figuren kommen und gehen.