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Liedtexte
Was will der Künstler damit sagen?

Songtexte können in ihrer Aussagekraft genauso kniffelig wie Gedichte sein. Der lebendigste Ort, um Lyrics zu interpretieren, ist im Netz: auf genius.com. Als die Seite 2009 gestartet wurde, richtete sie sich vor allem an Hip-Hop-Fans. Mittlerweile ist das Angebot größer und nicht nur Fans interpretieren, sondern Musiker erläutern ihre eigenen Songzeilen.

Von Christoph Reimann | 27.06.2015
    Eine Frau siniert über eine noch nicht geklärte Frage
    Auf Genius.com könnte die Frau eine Antwort auf den Gehalt von Liedtexten finden (imago/Indiapicture)
    "If I draw you upside down, I can let go
Leaves my mind at ease, gives me something to focus on
Could I be alone?
Could I be alone?"
    Wenn ich einen Kopfstand mache und ein Bild von dir male, kann ich ... loslassen? Das gibt mir etwas, worauf ich mich ... konzentrieren kann? Was genau will uns Ed Droste, der Sänger von Grizzly Bear, mit diesen Songzeilen nur sagen?
    Genius-Annotation: Es geht um den Ratschlag eines Arztes. Er hat gesagt: Wenn du dich auf den Kopf stellst und dabei Bilder malst, wird dich das so weit ablenken, dass du deinen Tinnitus vergisst. Also habe ich das gemacht. Aber es hat mich total verrückt gemacht, weil es überhaupt nicht funktioniert hat. Nach einem Monat habe ich aufgehört. Immerhin habe ich ein paar interessante Zeichnungen aus dieser Zeit.
    Wikipedia für Songtexte
    Lesen kann man Eds Anmerkungen zu dem Song "Speak In Rounds" auf der Website Genius, einer Art Wikipedia für Songtexte. Fans rätseln dort, was Künstler uns mit ihren Liedtexten eigentlich sagen wollen. Dass auch verstärkt Musiker selbst mitmachen, ist relativ neu. Sasha Frere-Jones, einer der wichtigsten Popkritiker in den USA, bestätigt mir, dass es sich um die echten Künstler handelt, die bei Genius ihre Songs erklären. Jahrelang hat Frere-Jones beim New Yorker gearbeitet, bis er Anfang des Jahres bei Genius angefangen. Aus seinem alten Job bringt er die Kontakte mit, um neue Musiker für das Projekt zu gewinnen – seine Hauptaufgabe in dem Startup.
    Frere-Jones: Ich führe viele Interviews. Daraus entstehen dann die Erklärungen auf der Seite. Jeder Künstler hat eine ganz eigene Art, über seine Musik zu sprechen. Manche erzählen, was sie mit ihren Texten gemeint haben, andere, wie die Aufnahmen abgelaufen sind und dann gibt es die, die einfach irgendetwas Lustiges erzählen. Es ist wirklich faszinierend, wie die Leute über ihre Arbeiten sprechen.
    Zu den Spaßvögeln gehört zum Beispiel Sia, die einige Zeilen von ihrem Hit "Chandelier" mit nur einem einzigen Wort kommentiert hat: ausradieren!
    "1 2 3, 1 2 3, drink 1 2 3, 1 2 3, drink 1 2 3, 1 2 3, drink, Throw 'em back till I lose count"
    Frere-Jones: Sia äußert sich sehr herablassend über ihre eigenen Texte, aber sie ist dabei sehr lustig. Ich denke, was sie damit sagen will, ist: Schaut her, ich bin eine professionelle Songwriterin, und in diesem Song geht es vor allem um die tolle Melodie und den Gesang.
    Genius hat im Monat mehr als 30 Millionen Besucher. Schon allein deshalb lohnt es sich für die Musiker, bei dem Projekt mitzumachen. Viele von ihnen finden über Sasha Frere-Jones ihren Weg zu Genius. Andere, vor allem unbekanntere, kommen von allein. Die Betreiber der Website jedenfalls versprechen sich von den großen Stars einen Image-Gewinn. Die meisten Musik-Erklärungen kommen aber immer noch von Musikfans aus der ganzen Welt und nicht von den Künstlern. Ihre Interpretationen sind mindestens genauso wichtig wie die von Sia, Grizzly Bear und Co. Immerhin leben gute Popsongs ja davon, dass sie ganz unterschiedlich interpretiert werden können. Oft sind sie wirklich interessant, zum Beispiel, wenn ein Song jahrzehntelang falsch verstanden wird. Zu Bob Marleys Überhit heißt es:
    Genius-Annotation: Die Zeile wird oft missverstanden, im Sinne von: keine Frau – kein Kummer. Tatsächlich sagt Bob darin einer Frau, dass sie nicht weinen soll. So wie in: Nein, Frau, weine nicht.
    Ranking soll Qualität sichern
    Nicht immer sind die Erläuterungen so aussagekräftig. Ein Ranking-System soll die besseren Kommentare von den weniger hilfreichen abheben. Trotzdem: Ob die Anmerkungen richtig sind, ist nicht immer einfach zu überprüfen.
    Frere-Jones: Zugegeben, das ist kompliziert. Wir haben zwar Redakteure, die die schlechten Anmerkungen aussortieren. Aber wenn man einen schlechten Eintrag gelöscht hat, ist schon gleich der nächste da. Gerade im Rap mit seinen vielen Referenzen muss man sehr vorsichtig sein. Wenn einer behauptet, dass Drake in einem seiner Songs über seine Ex-Freundin singt, dann kann es sich dabei auch einfach um ein Gerücht handeln. Daran wollen wir uns nicht beteiligen. Aber s gibt Millionen von Songs, und wir werden nie komplett frei von Fehlern sein. Alles, was wir tun können, ist daran arbeiten, dass es immer weniger werden.
    Genius zeigt, wie viel Informationen in Songtexten stecken können, wie wichtig sie den Hörern sind, und dass es Spaß macht, sie gemeinsam zu entschlüsseln. Die Ambitionen der Macher von Genius sind aber größer. Schon jetzt können nicht nur Songtexte mit Zusatzinformationen versehen werden, sondern auch Sportereignisse, Nachrichtenmeldungen oder Gesetzestexte. Die Vision: In Zukunft soll jeder überall alles kommentieren können, direkt und unmittelbar, mit der Technik von von Genius.com.