Freitag, 29. März 2024

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Lili Boulanger

Heute einige Novitäten in Sachen Chor. Und zwar aus dem Repertoire klassischer Moderne, von drei zu ihrer Zeit mutigen Grenzgängern und Erneuerern: Anton Webern, Hanns Eisler und Lili Boulanger. * Musikbeispiel: Lili Boulanger - aus: Psaume 24 Wer schwört nicht falsch, wer ist reinen Herzens, wessen Hand ist ohne Schuld? Als Lili Boulanger 1916 in Paris den "Psalm 24" vertont, scheint die Frage nicht leicht beantwortbar. Die junge, schon schwerkranke Frau erwartet den Tod und in Mitteleuropa tobt ein Krieg bislang unbekannter Dimension. Der himmlische "Roi du gloire", auf den der biblische Text abzielt, und den die Komponistin in Klänge einfaßt, kommt deshalb nicht in gewöhnlicher Pracht. Vierschrötiges Blech, fahle Pauken und die düstere Orgel markieren vielmehr Dissonanz - die Stimmen erhöhen das Tempo, das Loblied klingt nach Rebellion und noch der finale Jubel ist auffällig nahe am Schrei. Die aufstörend-spröde Komposition erschüttert das Bild der 'femme fragile' und setzt jenes Maß außer Kraft, das Lili Boulanger auf die Tradition der Romantik Saint-Saëns und Fauré's zurechtstutzen will. Das Werk selbst rückt das Wunderkind der Pariser Musik vielmehr in Richtung Moderne - deutlich mehr, als Konfession, musikalische Schule und familiärer Mythos erlauben. Der Anspruch einer eigenen musikalischen Sprache jedoch hat Lili Boulanger ( 1893 - 1918 ) bis zuletzt motiviert. Das modale e-moll muß in dieser Sprache enthalten gewesen sein, die gedrängte Chromatik, der schmerzvolle Gestus an sich. Nicht alle der fünf Werke Lili Boulanger's, die der City of Birmingham Symphony Chorus und das BBC Philharmonic Orchestra unter Yan Pascal Tortelier für Chandos Records aufgenommen haben, sind so radikal. "D'un matin de printemps" beispielsweise, eines der zwei Instrumentalstücke der Platte, ist eher impressionistisch gestimmt; die Kantate "Faust et Hélène" gar, mit der Lili Boulanger als erste Frau den begehrten Prix de Rome des "Conservatoire" für sich gewinnt, ist an Wagners musikalischem Drama geschult. Das knapp 30minütige, szenisch gedachte Werk ist hier erstmals für CD eingespielt und offeriert musikdramatisch ein nicht eben geringes Geschick. Lynne Dawson (Sopran), Bonaventura Bottone (Tenor) und Jason Howard (Baß) vermitteln interpretatorisch theatralische Vitalität. * Musikbeispiel: Lili Boulanger - aus: "Faust & Hélène" Unerledigte Geschichte versus Gottesfluch ... Goethes berühmter Helena-Akt aus "Faust II" als gespenstisches Opern-Rendevouz ... Soweit ein Ausschnitt aus Lili Boulangers Kantate "Faust et Hélène". Ersteingespielt mit dem BBC Philharmonic Orchestra unter Yan Pascal Tortelier beim englischen Label Chandos Records.

Frank Kämpfer | 09.07.2000