Armut in der französischen Literatur

Scheiternde Versuche des Aufstiegs

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Eine historische Zeichnung eines Krankenhauses für bedürftige Menschen, 59 rue de Tocqueville. Paris, 1882.
Eine historische Zeichnung eines Krankenhauses für bedürftige Menschen in Paris, 1882. Das Prekariat ist der Dauerthema in der aktuellen französischen Literatur. © imago / Leemage
Von Dirk Fuhrig · 02.04.2020
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Aus Frankreich kommen derzeit immer wieder Romane, die die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich thematisieren. Dieser "Miserabilismus" hat in Frankreich Tradition. Was erzählen die modernen Autoren und Autorinnen?
Über Armut zu schreiben hat in Frankreich eine große literarische Tradition, etwa wenn man an Victor Hugo mit "Die Elenden" denkt oder an Émile Zola ("Germinal" über einen Bergarbeiterstreik etwa). In Frankreich sprechen manche sogar vom Genre des "Miserabilismus", also eine Art Lust am Elend.
Im vergangenen Jahrzehnt werden zunehmend soziale Probleme thematisiert, auch das Stadt-Land-Gefälle, Entfremdung zwischen Politik und Teilen der Gesellschaft. In jüngster Zeit haben die Streiks und der Aufstand der Gelbwesten ein wachsendes Bewusstsein für die Gegensätze zwischen den Gesellschaftsschichten geschaffen.

Prekariat in der öffentlichen Wahrnehmung

Auch jetzt in der Coronakrise gibt es Spannungen, thematisiert in den Zeitungen, zwischen denjenigen, die in ihre Ferienhäuser geflüchtet sind und dort vergleichsweise angenehm den Hausarrest überstehen, und den Menschen, die in engen Wohnungen in Paris oder einer Banlieue eigeschlossen sind.
Das Thema Prekariat drückt sich sehr stark in Romanen aus, die in der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Man kann eine Linie von Autoren wie Édouard Louis über Leïla Slimani bis Nicolas Mathieu ("Wie später ihre Kinder") ziehen bis hin zu "Fehlstart" von Marion Messina.

Gefangen im Teufelskreis

In den Büchern geht es oft um die vergeblichen Versuche, aus dem sozialen Abseits aufzusteigen. Bei Nicolas Mathieu spielt das Verhaftetsein in der Region, in der Kleinstadt eine Rolle. Auch die mangelnde Energie, aus dem Vorgegebenen auszubrechen. Es ist ein Teufelskreis aus Antriebslosigkeit, mangelnder Unterstützung und fehlenden Möglichkeiten.
In "Fehlstart" von Marion Messina versucht die Protagonistin den Aufstieg, aber sie hat kein Durchhaltevermögen, weil es ihr nicht in die Wiege gelegt wurde. Sie schämt sich auch ihrer Herkunft, es fehlt ihr der richtige Auftritt, das Selbstbewusstsein.

Gerade bei diesen beiden Büchern sind die Schuldzuschreibungen nicht so eindeutig. Zwar wird das verkrustete Gesellschaftssystem denunziert und die Selbstverständlichkeit des Bürgertums, das sich um Bildungschancen keine Sorgen machen muss. Aber gleichzeitig gibt es auch eine gewisse Lethargie bei den Protagonisten: Aurélie in "Fehlstart" hat einen begehrten Studienplatz in Jura bekommen, sie langweilt sich aber und bricht ab – auch weil die Eltern gleichgültig sind und sagen: Das hätte ohnehin nicht für dich gepasst.

Sozialrevolutionär aus dem 15. Jahrhundert

Viele Autoren schreiben aus "Opfer-Sicht". Es sind Anti-Helden, die scheitern, traurige Helden. Bei Leïla Slimani in "Weine nicht" ist es die Hausangestellte, für deren prekäre Lage die bürgerliche Familie überhaupt kein Interesse zeigt. Im "Haus der Frauen" von Laetitia Colombani geht es um die Leiterin der französischen Heilsarmee Blanche Peyron, die in den 20er-Jahren ein erstes Schutzhaus für obdachlose Frauen einrichtete, mitten in Paris.
Éric Vuillard schlägt in "Der Krieg der Armen" den ganz großen Bogen: Er blickt zurück in die Geschichte, zu Thomas Müntzer, dem Sozialrevolutionär aus dem 15. Jahrhundert, zeitweise Weggefährte von Martin Luther. Ein Wohltäter, der sich um Arme und Obdachlose kümmerte – und ein gescheiterter Held der sozialen Gerechtigkeit. Der Roman ist ein gewohnt "schnittiges" Porträt einer historischen Gestalt; verkürzt, aber sehr prägnant.

Kapitalismuskritik und Revolutionsromantik

Édouard Louis erzählt in seinem ersten Buch "Das Ende von Eddy" aus der persönlichen Perspektive eine jungen Homosexuellen, der von den verbohrten Bewohnern seines Dorfes und innerhalb seiner Familie gedemütigt wird. In "Wer hat meinen Vater umgebracht" wird das umgedreht; nun gibt er die Schuld an fremdenfeindlichen und homophoben Ansichten dem Staat, der die Leute in ihrer unverschuldeten Dumpfheit und nichts tut, um sie aus ihrer prekären Lage zu befreien.
In Frankreich trauen sich die Autoren viel. Kapitalismus- oder Globalisierungskritik sind weiter verbreitet als in Deutschland. Man kann im französischen Literaturbetrieb auch eine gewisse "Revolutionsromantik" wahrnehmen – auch wenn sich die Gesellschaft als unfähig erweist, soziale Reformen mitzutragen.

Laetitia Colombani: "Das Haus der Frauen"
S. Fischer, Frankfurt 2020
256 Seiten, 20 Euro

Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex"
Kiepenheuer & Witsch
drei Bände, jeweils 22 Euro

Édouard Louis: "Das Ende von Eddy"
S. Fischer, Frankfurt 2016
208 Seiten, 11 Euro

Édouard Louis: "Wer hat meinen Vater umgebracht"
S. Fischer, Frankfurt 2019
80 Seiten, 16 Euro

Nicolas Mathieu: "Wie später ihre Kinder"
Hanser Berlin 2019
448 Seiten, 24 Euro

Marion Messina: "Fehlstart"
Hanser, München 2020
168 Seiten, 18 Euro

Éric Vuillard: "Der Krieg der Armen"
Matthes & Seitz, Berlin 2020
64 Seiten, 16 Euro

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