Donnerstag, 18. April 2024

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Linguistik
Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät

Steven Pinker ist Bestsellerautor, und so darf man von seinem nach sieben Jahre auf deutsch übersetzen Buch "Der Stoff, aus dem das Denken ist" einiges erwarten. Der Klappentext verspricht unter anderem "Esprit und Sprachgefühl". Nur kann das Buch dieses Versprechen nicht halten.

Rezension: Dagmar Röhrlich | 16.03.2014
    Das Buch beginnt mit der Erinnerung an den 11. September 2001. An den Moment, als sich um 8.46 Uhr ein entführtes Linienflugzeug in den Nordturm des World Trade Centers bohrte. Daran, dass sich der Altraum wiederholt, ein paar Minuten später, um 9.03 Uhr. Dann steigt der Autor in eine dreieinhalb Milliarden Dollar schwere semantische Frage ein: Handelte es sich dabei um ein Ereignis oder um zwei Ereignisse? Je nachdem, ob die Absicht der Terroristen zählt oder die Ausführung der Anschläge, wären 3,5 oder sieben Milliarden Dollar Schadenersatz fällig gewesen (das Urteil war übrigens salomonisch, und es gab 5 Milliarden für den Wiederaufbau der Türme).
    Dieser Rechtsstreit ist für Steven Pinker ein Beispiel für die herausragende Eigenschaft des menschlichen Geistes, "eine Situation auf ganz unterschiedliche und miteinander unvereinbare Weisen zu betrachten". Dabei zergliedern wir den Fluss der Ereignisse in kleine Häppchen, die wir sortieren, als wären es Bücher im Regal - und zwar nach den Kriterien, die uns gerade wichtig erscheinen: Mal legen wir Wert auf das Ereignis, mal betonen wir die Ursache, mal die Veränderung oder die Absicht…
    Wie konnten sich die modernen Sprachen entwickeln?
    Und so spürt Steven Pinker in "Der Stoff, aus dem das Denken ist" der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nach und der Frage, wie sich aus dem steinzeitlichen Grund-Design die modernen Sprachen entwickelten, die selbst abstrakteste Wissensinhalte zu vermitteln vermögen. Der Psycholinguist Steven Pinker geht davon aus, dass die Wahrnehmung in der Realität wurzelt, aber durch unser Bewusstsein umgeformt wird. Deshalb könnten wir ein- und dasselbe Ding aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Hinter dieser mentalen Fähigkeit stecke die konzeptuellen Semantik: die "Sprache des Denkens", erklärt er: "Sie unterscheidet sich von der Sprache als solcher, denn sonst könnten wir nicht über die Bedeutung der Worte diskutieren".
    Die konzeptionelle Semantik stelle die Beziehungen zwischen Wörtern, Gedanken und Realität her. Sie bestimme, wie Menschen mit Sprache Ideen kommunizierten oder Beziehungen zu anderen aufbauten. An ihr liege es, wenn wir manche Wörter als emotionsbeladen empfänden, als tabu oder gar sündhaft. Durch die konzeptionelle Semantik verrate die Sprache viel über die menschliche Natur, das menschliche Bewusstsein, erklärt Steven Pinker.
    Um die Muster und Mechanismen hinter der Sprache zu erkennen, spannt der Autor den Bogen vom kindlichen Spracherwerb über Metaphern und Euphemismen bis hin zum Fluchen. Aber zunächst schubst er den Leser in den Kaninchenbau der Verben - und Steven Pinker liebt Verben obsessiv ("Ein Kollege hat mal bemerkt: Sie sind wirklich deine kleinen Freunde, stimmt’s?"). Es folgen viele Seiten lange Ausführungen. Warum ist es sowohl korrekt zu sagen "Jakob sprühte Wasser auf die Rosen", als auch "Jakob besprühte die Rosen mit Wasser". Richtig ist auch "Tex nagelte Poster an das Schwarze Brett" - doch warum ist "Tex benagelte das Schwarze Brett mit Postern" falsch? Auf der Suche nach der Antwort muss der Leser tief hinab in den Kaninchenbau. Am Ende dieser und ähnlicher Ausführungen lautet die Erkenntnis, dass Verben zeigen, wie wir zwischen physikalischen Prozessen unterscheiden, während Nuancen bei den Substantiven belegen, wie sich unterschiedliche Auslegungen in unseren Wahrnehmungen widerspiegeln. Und mit Metaphern strukturieren wir selbst unsere komplexesten Ideen: Atome vergleichen wir mit dem Sonnensystem, Gene mit einem Code.
    Anhänger des Linguisten Noam Chomsky
    Wie auch immer: Dem Autor zufolge liegen allen Sprachen ähnliche logisch-grammatikalische Prinzipien zugrunde, so etwas wie "universale Fingerabdrücke" des menschlichen Geistes. Er ist ein Anhänger des Linguisten Noam Chomsky. Pinker schreibt: "Um den Code der Sprache zu knacken, müssen die kindlichen Gehirne folglich darauf geeicht sein, aus den Äußerungen in ihrer Umgebung nur die passenden Arten von Generalisierungen herauszufiltern. Sie dürfen sich nicht vom Klang der Sätze ablenken lassen, sondern in die grammatische Struktur vordringen, die sich hinter den Wörtern und ihrer Anordnung verbirgt. Diese Argumentation hat den Linguisten Noam Chomsky zu der Behauptung veranlasst, dass der kindliche Spracherwerb der Schlüssel zum Verständnis von Sprache sei und dass Kinder mit einer angeborenen Universalgrammatik ausgestattet sein müssen – einem Set von Strukturplänen für den Mechanismus der Grammatik, dem alle menschlichen Sprachen gehorchen." Und diese Idee sollte weniger kontrovers sein, als sie klinge, steht da: ein in Klammern beigefügter Halbsatz, scheinbar belanglos. Ein Halbsatz, der bei einem Leser, der nicht Psycholinguistik und Sprachforschung studiert hat, die Alarmsirenen aufheulen lässt: Dieser Autor argumentiert also aus der Defensive. Kann es sein, dass diese Meinung umstritten sein.
    Angeborene Universalgrammatik
    Steven Pinker geht davon aus, dass bestimmte Begabungen und Fähigkeiten angeboren sind. Im konkreten Fall soll es eine genetisch verankerte, psychische Sprachbegabung geben, eine vorprogrammierte Sprachkenntnis, weshalb bereits Kleinkinder ihre Muttersprache perfekt beherrschten. Allerdings kommen andere Forscher zu dem Ergebnis, dass beim Spracherwerb die Lernzeit keineswegs drei, vier oder fünf Jahre beträgt, sondern eher zehn bis zwölf Jahre. Pinker-Kritiker Philip Lieberman - Emeritus von der Brown-University in Rhode Island -, gibt nach der Lektüre unter anderem zu Bedenken: "Pinker missachtet ein biologisches Faktum, dass gegen eine angeborene Sprachkenntnis spricht: die phänotypische Variation. Wenn Pinkers vorprogrammierte, grundlegende Konzepte wirklich existierten, würde manchen Menschen das eine oder andere Konzept aufgrund dieser phänotypischen Variation fehlen. Es gäbe Menschen, die ganze Wortgruppen weder erlernen könnten, noch mit ihnen denken oder nach ihnen handeln. Ein Kind, dem das Gen für die Kodierung des Konzepts "Verwandtschaft" fehlt, könnte niemals Wörter wie Familie, Mutter, Cousine et cetera verstehen. Menschen besitzen sicherlich alle genetischen Voraussetzungen, Sprache zu erwerben, aber keine angeborene Sprachkenntnis."
    Nicht stringent genug auf einen roten Faden hin geschrieben
    Und nun zum Stil. Steven Pinkers Buch, das 2007 im englischen Original und nun vom Fischer Verlag in deutscher Übersetzung herausgegeben worden ist , fängt interessant an und enthält auch einige nette Anekdoten. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Großen und Ganzen wohl das Gegenteil einer mitreißenden Lektüre ist. Das liegt einmal daran, dass Pinker nicht stringent genug auf einen roten Faden hin geschrieben hat. Des weiteren hat der Autor eine Vorliebe für langwierige Umwege, und er hält nicht viel von Zugeständnissen an die Verständlichkeit. Ein Beispiel? "Im prototypischen sprachlich unzweideutigen Bild von Ursache und Wirkung wirkt eine Person bewusst auf eine Entität ein und verursacht unmittelbar eine beabsichtigte Positions- oder Zustandsveränderung." Das lässt sich einfacher ausdrücken.
    Und so macht "Der Stoff aus dem das Denken ist" den Eindruck eines Buches, dessen Autor die kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt erschweren möchte. Die Zielgruppe dieses Buches ist wohl am ehesten der Fachmann. Ein großes Lob geht an dieser Stelle jedoch an die Übersetzerin Martina Wiese: Dieses Buch aus dem Englischen ins Deutsche zu übertragen, war sehr schwierig, und es ist ihr hervorragend gelungen. Selbst wenn Beispiele aufgrund der Unterschiede zwischen der englischen und der deutschen Sprache nicht aufgehen, erläutert sie geduldig, welche Idee dahinter steckt. Eine sehr gute Leistung.
    Steven Pinker: Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache über unsere Natur verrät
    Übersetzung: Martina Wiese
    ISBN: 978-3-10-061605-0
    S. Fischer Verlag, 608 Seiten, 24,99 Euro