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Linguistische Feldforschung
Trommeln statt WhatsApp im Amazonasdschungel

In fremden Sprachen wird manches anders gemacht: Etwa wenn Trommeln zur Kommunikation genutzt werden. Dass das Volk der Bora oft ganze Sätze trommelt, liegt daran, dass die Hütten weit verstreut im Dschungel stehen. Die Trommeln reichen dabei bis zu 20 Kilometer weit.

Von Andreas Beckmann | 13.09.2018
    Eine Gruppe von Bora-Indianern steht auf einem sandigen Platz. Die Männer haben lange Holzstäbe in der Hand, während die Frauen und Kinder ihnen zuschauen.
    Bora-Indianer in Kapitari im Amazonasgebiet in Peru (imago / Chris Cheadle)
    Trommelgeräusche. Haben Sie verstanden, was Sie da gerade gehört haben? Das war ein vollständiger Satz und der bedeutete auf Deutsch in etwa: "Ich habe das Wetttrinken gestern Abend gewonnen." Man sollte da jetzt nicht an ein Saufgelage denken, denn der Satz stammt von einem Menschen aus dem Volk der Bora. Die leben im Norden Perus und Süden Kolumbiens und Alkohol ist ihrer Lebensweise fremd. Denselben Satz, den der Bora-Mann gerade getrommelt hat, kann er übrigens auch in gesprochener Sprache sagen.
    Bora-Sprache. Der Grund, warum die Bora ihre Sätze oft trommeln, liegt darin, dass ihre Hütten weit verstreut im Dschungel stehen. Wenn man dann viele Leute erreichen will, braucht man da eine große Reichweite, erzählt der Berliner Sprachforscher Frank Seifart. "Diese Trommeln, die Manguaré genannt werden, können unter günstigen Bedingungen bis zu 20 Kilometer weit gehört werden. Das ist ungefähr das Hundertfache der normal gesprochenen Sprache."
    Trommeln ist Männersache
    Die gesprochene Sprache in Trommelsprache zu übersetzen, ist eine große Kulturleistung der Bora. Und es war schwieriger, als sie sich das zunächst vorgestellt hatten. Jeweils ein Trommelschlag steht für eine Silbe. Aber dann wird man schnell missverstanden, weil die Hörer vom Tempo überfordert sind. Um das zu vermeiden, haben sich die Bora ein paar Tricks ausgedacht.
    Frank Seifart: "Einer ist, dass man kurze Wörter länger macht, und damit mehr Trommelschläge denen entsprechen und die dadurch eindeutiger werden. Zum Beispiel wenn dieses Aguti-Nagetier benannt wird in einer Trommel-Nachricht, dann wäre das im gesprochenen Bora einfach: (spricht Bora). Der Name dieses Tiers, ziemlich kurz, wären nur drei Trommelschläge. Im getrommelten sage ich dann dazu (spricht wieder Bora, Lang-Version des Namens). Also viel länger, viel mehr Trommelschläge."
    Während mittels der Trommelschläge Wörter geformt werden, sorgt der Rhythmus, und dabei vor allem die genau gesetzten Pausen, für Struktur und Grammatik. Und wenn man eine Botschaft an eine spezielle Person übermitteln will, muss man sie adressieren, also deren Namen voranstellen. Wie gut das funktioniert, hat Frank Seifart festgestellt, als er einmal mit einem Bora-Mann im Urwald unterwegs war. Plötzlich fiel ihm ein, dass er seine Schuhe draußen vor der Hütte von dessen Schwester stehen lassen hatte, bei der er ein Zimmer gemietet hatte.
    "Es fing an zu regnen. Ich habe Manuel Mibeco gebeten, seiner Schwester Bescheid zu sagen, sie solle bitte die Turnschuhe reinholen. Er hat folgendes getan: (fängt an zu trommeln, darüber Seifart:) Das kennen Sie, Name, Nachname. ... Jetzt die Struktur, ... die Turnschuhe (Trommeln immer noch weiter)"
    Frauen können es auch
    Die Schuhe sind übrigens trocken geblieben. Die Trommelsprache, hat Frank Seifart beobachtet, ist bei den Bora weitgehend Männersache. Das heißt aber nicht, dass Frauen sie nicht beherrschten und auch nicht, dass sie ihnen verboten wäre. Sie wenden sie aber nur bei großen Feierlichkeiten an, nicht im Alltag. Da sind sie für die Nah-Kommunikation zuständig. Sie bringen zum Beispiel den Kindern die gesprochene Sprache bei. Das scheint auf den ersten Blick überall auf der Welt gleich abzulaufen. Tut es aber gar nicht, sagt die Kölner Linguistin Henrike Frye. "Es gibt so unglaublich große Variationen in den Sprachen, dass es auch im Spracherwerb Variationen geben muss. Und wir wissen fast nichts darüber."
    Wie Kinder sprechen lernen, ist nur in wenigen Weltsprachen einigermaßen gründlich erforscht: Englisch, Chinesisch, Arabisch, Spanisch. Henrike Frye will herausfinden, wie der Spracherwerb bei den Qaqet in Papua-Neuguinea vor sich geht. Sie hat deshalb eine Frau gebeten, dieselbe Geschichte einmal ihrem Ehemann und einmal ihrem zweijährigen Sohn zu erzählen. "Da sieht man schon extreme Unterschiede. Der Ehemann bekommt das einfach in relativ hohem Tempo erzählt. So und so, das ist passiert."
    Frauenstimme (in Qaqet-Sprache). Henrike Frye: "Während bei so einem kleinen Kind, um das erst mal überhaupt dazu zu bringen, zuzuhören: Hey, hör zu! Hey, guck doch mal her! Hey, ich wollte dir was erzählen."
    Kinder lernen von Kindern
    Diese Erkenntnisse haben Henrike Frye allerdings gar nicht so viel weiter gebracht, wie sie zunächst meinte. Denn sie hat festgestellt, dass bei den Qaqet die Mütter für den Spracherwerb der Kinder weniger wichtig sind als gedacht. "Die Erwachsenen reden gar nicht unbedingt mit den Kindern. Das passiert viel mehr über die Geschwister und dadurch lernen die natürlich auch andere Sachen."
    Weil Qaqet-Jungen und -Mädchen nach dem Grundschulalter getrennt erzogen werden, darf man annehmen, dass sie jeweils eine geschlechtsspezifische Variante ihrer Sprache erlernen. Wie groß die Unterschiede zwischen Männern und Frauen dann sind, kann Henrike Frye aber kaum beurteilen.
    "Dadurch, dass ich jetzt insgesamt ein Jahr da war in den letzten dreieinhalb Jahren, verstehe ich relativ viel von der Sprache. Mit Kindern kann ich mich ganz gut unterhalten, für Marktgespräche reicht es auch, aber wenn Erwachsene unter sich rum reden, bin ich verloren."
    Trotzdem kommt Henrike Frye mit ihrer Arbeit gut voran, weil die Qaqet in Papua-Neuguinea sich freuen, dass ihre Sprache von einer deutschen Forscherin analysiert wird.
    Die Neugier der anderen
    "Die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, die interessieren sich sehr dafür. Die fragen auch immer nach, was da bei ihnen anders ist. Generell ist es immer eine Frage, inwiefern Linguistik-Ergebnisse den Sprachgemeinschaften vor Ort etwas nützen, um Materialien zur Verfügung zu stellen, die den Menschen wirklich etwas nützen, zum Beispiel Kinderbücher mit Qaqet-Sprache drin, was auch als Schulmaterial verwendet werden kann. Was man auch machen kann, Filme, Videos, Hörspiele."
    Linguisten müssen dankbar sein für diese Weltoffenheit vermeintlicher Hinterwäldler. Denn alle Theorien, die die Wissenschaft bisher zum Spracherwerb von Kindern entwickelt hat, beruhen, etwas überspitzt gesagt, auf der Nabelschau akademischer Eliten.
    "Es gibt Unmengen von Linguisten, die gerade auch ihre eigenen Kinder untersucht haben. Da haben wir dann ein soziologisches Problem: Kinder von Linguisten lernen natürlich noch mal ganz anders die Sprache als Kinder von Leuten, die in einem ganz anderen Milieu aufwachsen. Sozialisation ist ein ganz, ganz wichtiger Faktor bei der Geschichte."
    Intellektuelle neigen dazu, ihr Sprachverhalten für das elaborierteste der Geschichte zu halten und deshalb als Maßstab für alle Menschen zu betrachten. Tatsächlich kommuniziert aber fast niemand auf der Welt so wie sie. Die Beschäftigung mit den sogenannten kleinen Sprachen zeigt stattdessen, welch enorme Vielfalt an verbalen und anderen akustischen Ausdrucksformen existiert. Diese Vielfalt zu erforschen, beginnen Linguisten gerade erst. Sie müssen sich beeilen, denn niemand kann abschätzen, wie lange es so viele kleine Sprachen noch gibt.