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"Liquidation" am Schauspiel Frankfurt
Ein Spiel auf Leben und Tod

Von Cornelie Ueding | 15.11.2014
    Ein Schriftsteller erzählt die Geschichte eines Lektors, der die Geschichte eines Schriftstellers und eines verschollenen Manuskripts erzählt. Das klingt nach intertextuellem Spiel - und ist doch alles andere. Denn es geht um ein Spiel auf Leben und Tod.
    Budapest 1999: Jahre nach der Wende und dem Mauerfall. Verlagslektor Keserü brütet über dem Nachlass seines Freundes, des Schriftstellers Bé, der vor der plötzlich hereinbrechenden Freiheit kapitulierte und Selbstmord beging. Doch rasch mutiert das Geschäft des Sichtens seiner hinterlassenen Texte zu einer rabiaten Spurensuche nach dem vermutlich letzten Roman Bé's, der unter grotesken Umständen in Auschwitz zur Welt kam.
    Ohne dass Keserü es bemerkt, befindet er sich selbst bereits mitten in dem Roman, dessen Vernichtung das Thema des letzten Theaterstücks von Bé ist, eben jener Komödie mit dem Titel "Liquidation" - die er gerade liest. Nach längerer vergeblicher Suche glaubt Keserü, bei Judith, der früheren Frau Bés fündig zu werden - und erfährt letztlich die ganze Geschichte - jedenfalls eine mögliche Geschichte: Judith hat den Roman gelesen und verbrannt. Ein geglückter Ausbruchsversuch? Ein symbolischer Akt der Befreiung von den generationsübergreifenden Spätfolgen der Todesenergien von Auschwitz? Oder im Gegenteil ein Zurückkehren in den Sog von Auschwitz?
    Doch Vorsicht: alles - vielleicht "nur" Literatur. Judith und Sara, Adam und, ja, auch Keserü selbst sind letztlich allesamt nur Theaterfiguren. Längst ist die unsichtbare Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit gefallen und alle Theaterfiguren sind auch "wirkliche" Figuren.
    Kertész Text, die Vorlage für dieses theatralische Unterfangen, spielt mit den Grenzen zwischen Albtraum und Wirklichkeit auf todtraurige und ätzende, perfide und zugleich Todesschrei-komische Art - und er tut es sehr virtuos. Ein Stück Literatur über die Macht der Literatur als Wirklichkeit auffangendes und vielleicht auch bewältigendes Medium.
    Ein Schleppen von Dialogversuch zu Dialogversuch
    Wenn man den Mut hat, dieses fiktive Stück auf die Bühne zu bringen, müsste man es auch in diese zerrissene, schrille, ja dissonante und zugleich leichte, spielerische Emotionalität übersetzen. Doch Stephanie Mohr lässt die drei Bühnen-Figuren: Lektor, Frau, Schriftsteller, in einem wüsten Möbeldurcheinander nur irgendwie herumgeistern. Soweit weitere Figuren ins Spiel kommen, werden sie zitiert, sind also auch von der literarischen Vorgeschichte belastet. Alle existieren im Kontext der Auschwitz-Erfahrungen, umgeben von den Resten und Versatzstücken ihres Lebens. Stühle, Tische, Betten stehen wild durcheinander, kleben auch an den Wänden, hängen von der Decke herab, unbenutzbare Relikte normaler Alltäglichkeit. Untauglich für eigene, selbst improvisierte Lebensentwürfe, gepeinigt vom Hass gegen den eigenen Überlebenswillen schleichen, liegen und winden sich die Figuren zeitlupenhaft wie lebende Tote. Tote auf Abruf, die sich tieftraurig auch durch die Kulissen auch ihrer Wörter winden.
    Sie schleppen sich bleischwer von Dialogversuch zu Dialogversuch, und wenn ein Fünkchen Witz aufflackert, wird es umgehend erstickt. Die weibliche Protagonistin ist zu hundert Jahren Einsamkeit in einer Badewanne voller Manuskripte verurteilt. In rhythmischen Abständen gleitet sie daraus empor und muss wieder versinken, Rollenwechseln und neuen Verpuppungen in Gestalt von elegant gemeisterten Kostümwechseln entgegendämmern. Es wird der Vielschichtigkeit von Ketész Text-Schichtungen eben gerade nicht gerecht, wenn man jedes Wort, jede Geste mit Bedeutsamkeit und bleiernen Kunstpausen beschwert. Will man Auschwitz näherkommen und die Spätfolgen des Prinzips Auschwitz in seiner ganzen Perfidie spürbar machen, darf man es nicht umschleichen. Man muss es - und dazu ist die Bühne da - emotional erfahrbar, wenigstens für Momente mit dem Körper und allen Sinnen begreifbar machen. Da genügt es nicht, kurz mal wütend am Sessel zu rütteln, todessüchtig Manuskript-Blätter in die Luft zu werfen und beschwörende Gesten der Verzweiflung vorzuführen. "finita la commedia" lacht Keserü bei Kertész am Ende sarkastisch auf, während die Schrift in den Flammen noch einmal aufglüht - genau dieser Widerspruch wäre zu zeigen gewesen.