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Lisas Atem

Talm war gerade ein paar Monate mit Lisa zusammen, als sie in mit ihrer Mutter und dem Stiefvater in die Bretagne reiste. Dort sie hatte einen Tag allein verbringen wollen, hatte den Campingplatz verlassen und war nie mehr zurückgekehrt. Sie war gerade siebzehn geworden.

Simone Hamm | 27.05.2002
    Talm hat diesen Verlust nicht verwunden. Wo immer er geht und steht, glaubt er Lisas Gegenwart zu spüren, ihren Atem. "Lisas Atem" so heißt der neue Roman von Karel G. van Loon.

    Er beginnt sieben Jahre nach der folgenreichen Frankreichfahrt. Talm besucht Lisas Mutter, die nichts gewusst ha": von seiner Existenz. Sie ist eine verhärmte Frau, die noch immer keine Erklärung für Lisas Verschwinden hat. Talm weiß inzwischen mehr, doch er entscheidet sich, Lisas Mutter nicht damit zu belasten.

    Karel van Loon erzählt in vielen, kurzen Rückblenden, springt hin und her durch die Zeiten. Vor den Augen des Lesers setzt sich ein Mosaik zusammen. Lisas Mutter, die ganz jung die Tochter bekommen hat, ständig betrogen von ihrem ersten Mann. Lisas Stiefvater, ein Professor für Anglistik, der sich im Bordell die ganz jungen Mädchen kommen lässt und der nach einer hässlichen Affäre die Universität verlassen muss. Auch er verschwindet.

    Talm betrauert Iisa sieben lange Jahre lang, Jahre, in denen er sich klarmachen muss, dass er eigentlich sehr wenig von Lisa gewusst hat. Vor allem hat er ihren Hilferuf nicht gehört, hat nicht verstanden, warum sie nach seinen vorsichtigen Berührungen geweint hat, wollte nicht hören, was sie über ihren Stiefvater sagte. Deshalb macht er sich Vorwürfe. Kühl und bedächtig macht er sich daran, den Stiefvater zu finden, der Lisa Leid angetan hat.

    Karel van der Loon zeigt Lisa aus der Sicht der Mutter, des Stiefvaters, einer alten Dame. Vor allem aber aus Talms Blickwinkel.

    Die ständigen Perspektiv - und Zeitenwechsel in "Lisas Atem" erhöhen die Spannung ungemein. Länger als zwei bis fünf Seiten lang bleibt Karel van der Loon nicht bei einer Person, nicht in einer Zeit. Das gibt seinem Roman eine große Dynamik. Da nur wenige Personen die Haupthandlung vorantreiben, sind diese Zeitsprünge auch nicht verwirrend.

    Ihren Höhepunkt erreicht diese Technik, als Talm sich zwei lange Gespräche erinnert: die er jeweils einzeln mit Lisa und ihrem Stiefvater, den er finden wird, geführt hat. Karel G. van Loon hat diese Gespräche so montiert, als hätten die beiden miteinander gesprochen.

    Zwei Geschichten. Ein Mann. Ein Mädchen. Derselbe Sessel. Dasselbe Boot. Anderes Wasser. Ein anderer Himmel. Eine Lücke von sieben Jahren. - Der Mann saqt: "Ich könnte bei einem nackten Knöchel anrangen. Oder bei einem Glas, das an die Lippen gesetzt wird. Ich könnte bei Ihrer Mutter anfangen. " - Das Mädchen sagt: "Wie und wann es an fanden hat? Ich weiß es nicht... Bin Ich schuldig? Natürlich bin Ich schuldig-. Natürlich nicht. Ich weiß es nicht." - Der Mann: Ich könnte mit den mildernden Umständen beginnen. Mit einer schwierigen Jugend. Mit Verboten und Frustrationen. Ich könnte auch damit enden. Oder sie ganz weglassen. Das wäre natürlich besser, mutiger.

    Karel van Loon hat mit "Lisas Atem" einen Roman über die Schuld geschrieben. Wie ein roter Faden durchziehen Diskussionen über vergangene Schuld das ganze Buch. Kann man weiterleben mit dem Gefühl, schuldig geworden zu sein? Wieweit geht die Verantwortung eines Liebenden? Kann man sich von seiner eigenen Schuld befreien, indem man einen anderen für dessen ungleich größere Schuld bestraft? Wie weit wird jemand dadurch schuldig, dass er einfach wegschaut, weghört? Als Talm im Fernsehen einen Dokumentarfilm über Odachlose sieht, steht sein Entschluss fest. Denn er hat Lisas Stiefvater gesehen, den Mann, den sie ihm einmal von Ferne gezeigt hat, den Penner, der Shakespeare zitiert und von den anderen Obdachlosen respektvoll Sir Sebastian genannt wird. Er begibt sich in seine Nähe, spielt den Obdachlosen.

    Der Jüngere Mann, der Talm genannt wird, Ist ein Neuling-. Die beiden umkreisen einander schon seit Tagen, wie Vögel bei der Balz. Mal taucht der eine unter, mal flieht der andere, mal ziehen sie zusammen los, mal gehen sie wieder auseinander. Sie fragen nicht nach den Motiven des anderen. Das gefällt Ihnen beiden.

    Doch Sebastian weiß längst, wer der junge Mann ist, der sich ihm zu nähern sucht. Er erinnert sich, dass einmal ein Talm für seine Stieftochter angerufen hat. Talm ist ein seltener, auffälliger Name, einer, den man nicht so leicht aus seinem Gedächtnis streicht. Sebastian bewegt sich nicht, als Talm ihn endlich zur Rede stellt.