Dienstag, 19. März 2024

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Listen in der Literatur
"Minimalisierungen eröffnen ungeheuren Raum"

Listen haben in der Literatur - aber auch generell in der Menschheitsgeschichte - eine lange Tradition. Worin der Reiz der Liste für Poeten und Literaten liegt und wie listenartige Gedichte Menschen in Trance versetzen können, erklärt der Literaturjournalist Joachim Büthe im DLF.

Joachim Büthe im Gespräch mit Jan Drees | 23.08.2016
    Jan Drees: Herr Büthe, Sie beschäftigen sich schon seit Längerem mit Listen in der Literatur. Wie kam es dazu?
    Joachim Büthe: Der Ausgang, da gab es eigentlich mehrere. Das eine war das Buch, das jetzt gerade in zweiter Auflage wieder erschienen ist von Ann Cotten: "Nach der Welt. Die Listen der konkreten Poesie und ihre Folgen". Es ist eben so, die Liste ist eine ganz einfache Form, und gerade darin lag für die konkreten Poeten immer ein Reiz, weil sie ihre Mittel sehr reduziert haben, und da bot sich die Liste geradezu an.
    Drees: Aber die Liste in der konkreten Poesie war nicht das erste literarische Aufkommen oder überhaupt das erste Aufkommen von Listen. Listen sind uralt, Listen haben menschheitsgeschichtlich auch eine sehr besondere Bedeutung.
    Büthe: Ja, die ersten schriftlichen Äußerungen der Menschheit sind eigentlich Listen, meistens Inventarlisten. Dann geht es weiter in der Bibel zum Beispiel, wo die ganzen genealogischen Listen drin vorkommen. Auch in der Ilias gibt es das, wo dann die Waffen aufgezählt werden und so weiter. Also das hat eine ganz lange Tradition, und das geht dann weiter. Man findet das bei Borges, man findet das bei Danilo Kiš und eben verstärkt bei den konkreten Poeten. Ann Cotten hat bei Ernst Jandl zum Beispiel 250 listenartige Gedichte gezählt.
    "Das Verhältnis von Ordnung und Unordnung zum Tanzen bringen"
    Drees: Und zwar bis hin zu einer allerkürzesten Liste, "Heu, See". Wäre sie eine Einkaufsliste, wäre sie auf der einen Seite nicht zu erfüllen, auf der anderen Seite aber sehr schnell abzuarbeiten.
    Büthe: Ja, wobei man muss dazu sagen, es gehört noch ein drittes Wort dazu, nämlich die Überschrift, und die lautet "Naturgedicht". Das ist also das Reduzierteste, was man sich als Naturgedicht vorstellen kann. Und wie das bei Minimalisierungen immer ist, eröffnet es einen ungeheuren Raum. Man sieht eigentlich sämtliches Gras und Heu, was einem jemals über den Weg gelaufen ist, und sämtliche Seeufer, die man kennt.
    Drees: Es ist also so etwas wie die sprachliche Version des Schwarzen Quadrats von Malewitsch.
    Büthe: So ungefähr, ja.
    Drees: Die Liste, sagt Ilma Rakusa, ist die Synthese von Ordnung und Unordnung. Wie meint sie das?
    Büthe: Ja, die Liste schafft ja eine Ordnung. Gleichzeitig gibt sie aber Raum für hemmungslose Subjektivität. Man kann ja in die Liste reinschreiben, was man will. Und dadurch gibt es dann diese Synthese von Ordnung und Unordnung. Und Ann Cotten sagt, beides ist eigentlich langweilig. Die Ordnung ist langweilig, und die Unordnung ist auch langweilig. Und in der Liste kann man dieses Verhältnis von Ordnung und Unordnung zum Tanzen bringen. Das ist zum Beispiel das, was Jandl macht, wo dann die Abweichung von der Liste gleichzeitig die Pointe ist.
    Im Sog von Inger Christensen
    Drees: Eine Sonderform des listenartigen Gedichts ist die Litanei. Laut Ilma Rakusa, die darin Raoul Schrott folgt, ist sie sogar die älteste Gedichtform überhaupt.
    Büthe: Ja, da gibt es eben so Litaneien von sumerischen Priesterinnen, die Eigenschaften des Gottes aufzählen, und immer: "Das ist dein Name", das kommt immer dann zum Schluss. Bis in die letzte Zeile, wo sie dann sagt, ich singe über dich, und das ist auch dein Name. Und die Litanei hat natürlich einen gewissen Sog. Fast könnte man sagen, sie hat die Absicht, einen ein bisschen in Trance oder in einen trance-ähnlichen Zustand zu bringen, wobei eben die Wiederholung da auch ein ganz entscheidender Faktor ist.
    Drees: Es gibt viele Formen von Listen, die von verschiedenen Autoren aufgegriffen werden. Welche Beispiele haben Sie denn ganz besonders beeindruckt?
    Büthe: Beeindruckend ist sicherlich Inger Christensen mit dem "alfabet", das ja so was wie eine Inventur der Welt macht, wo dann plötzlich das Brom neben dem Brummbären steht. Es ist aufgebaut nach dem Fibonacci-Prinzip, das heißt, das Gedicht fächert sich eigentlich auf, die Zeilen werden immer länger, und bei N im Alphabet hört es bei ihr auch auf, weil es dann nicht mehr weitergeht, das sprengt einfach dann die Form. Und was das Beeindruckende bei ihr ist auch, es gibt dann Passagen, wo zum Beispiel der Vokal i vorherrschend ist. Und wer das Glück gehabt hat, sie mal lesen zu sehen - da entsteht ein Sog, da muss man kein Wort Dänisch verstehen. Da steht diese alte Frau auf, die aussieht wie eine dänische Bäuerin, geht nach vorn und legt los, und ich habe noch keinen erlebt, der sich diesem Sog hat entziehen können.
    Andere Länder, andere Listen
    Drees: Es gibt verschiedene Nationalliteraturen. Man kann über das Konzept der Nationalliteratur und die Notwendigkeit von Nationalliteraturen in unserer heutigen Zeit zwar trefflich streiten, gleichzeitig kann man doch vermuten, dass es auch unterschiedliche Listen für unterschiedliche Länder gibt, dass unterschiedlich sortiert wird in den verschiedenen Ländern. Gibt es dafür Beispiele in der Literatur?
    Büthe: Ja, es gibt natürlich eine ganz andere Tradition der Liste zum Beispiel in China, wo Gebrauchsanweisungen für Kalligrafie oder für das Zitherspiel in Form von Listen tradiert sind. Wobei diese Listen gar nicht diesem Prinzip folgen, dass bei uns - also zuerst A, dann B, dann C, dann D, oder wenn, dann… Sondern sie eröffnen einen Weg, mit dem man zum Beispiel das Zitherspiel erlernen kann. Dieser Weg ist aber nicht festgelegt, beziehungsweise die Liste wird auch nicht hinterfragt. Die wird einfach so angenommen, und es gibt dann in diesen Listen zwar auch Zeichnungen von Fingerbewegungen, aber auch fast gedichtartige Passagen, wo dann gesagt wird, stellen Sie sich diese oder jene Landschaft vor oder die Bewegung eines Tieres oder den Flug eines Vogels. Und daraus muss dann derjenige, der Proband sozusagen selbsttätig seinen Zugang zum Zitherspiel finden. Das ist auch so, in der alten chinesischen Musik gibt es keine Notation, sondern was da notiert wird, sind die Bewegungen und die Strategien.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.